© Bernard van Dierendonck

«Ich weiss nicht, was ohne Musik mit mir geschehen wäre»

Nach über zehn Jahren Pause präsentiert Andreas Vollenweider nicht nur ein neues Album. Er hat auch einen Roman geschrieben. Im Interview spricht er über die heilende Wirkung von Musik, sein Verhältnis zur Schule und warum Authentizität für ihn das Wichtigste ist. 

Interview: Marc Bodmer, Fotos: Bernard van Dierendonck

Andreas Vollenweider, in den letzten zehn Jahren herrschte Funkstille. Was ist geschehen?
Ich wollte Themen vertiefen, die mich seit Langem beschäftigt hatten, und arbeitete schon seit geraumer Zeit an einem Buch darüber. Wenn ich einfach mit Konzerten und Alben weitergemacht hätte, wäre daraus wohl nie etwas geworden. Das Jubiläumskonzert «30 Years Andreas Vollenweider & Friends» am Montreux Jazz Festival 2011 schien mir ein guter Moment für eine Zäsur zu sein.

Sie haben 15 Jahre am Buch gearbeitet.
Eigentlich reicht diese Arbeit in meine Kindheit zurück. Ich habe mein Leben lang geschrieben, eine Art erweitertes Tagebuch. Die schriftliche Form erlaubte es mir, meine Gedanken zu ordnen.

Der Protagonist Ihres Buches «Im Spiegel der Venus»* ist ein Cellist, der die Schule hasst und lieber Zeit bei seiner geheimnisvollen Nachbarin zubringt, die ihn in die Welt der Imagination einführt. Gibt es da autobiografische Züge?
Natürlich hat das auch etwas meiner Geschichte zu tun, auch ich habe die Zeit bei einer solchen Nachbarin der Schule vorgezogen.

Das heisst?
Am Morgen gab ich mit geschultertem Thek vor, in die Schule zu gehen, stattdessen schlich ich die Treppe hoch und verbrachte den Tag bei meiner Mentorin. Bei ihr konnte ich malen und über spannende Dinge sprechen. Sie schaltete meinen Intellekt und meine Vorstellungskraft an.

Fehlte dies zu Hause?
Nein, gar nicht! Meine Mutter förderte auf wundervolle Weise meine kindliche Fantasie. Dafür bin ich ihr sehr dankbar, denn die Welt der Nachbarin war für ein Kind sehr anspruchsvoll und philosophisch komplex. So hatte ich das Beste aus beiden Welten.

Ist der Romanheld Armando Ihr Alter Ego?
Nein, so kann man das nicht sagen, aber es gibt Parallelen. So haben auch meine Lehrer über mich gesagt, ich hätte zu viel Fantasie. Ich fragte mich dann: Geht das überhaupt? Ich hatte einfach eine unglaublich anregende Kindheit, daneben war die Schule sterbenslangweilig. Es gab unendlich viele Bücher im Haus, die jede Frage beantworteten, die ich damals haben konnte, ausser …

Ausser?
Ausser der entscheidenden Frage: Warum ist es, wie es ist? Wo ist der Anfang vom Anfang des Anfangs? Wie ist die Anatomie der Wirklichkeit zu verstehen? Das sind ja ziemlich fiese Fragen. 

Haben Sie eine Antwort gefunden?
Keine Philosophie, keine Religion, keine Naturwissenschaft vermochte mir nur den Ansatz einer Antwort zu geben.

Sie haben sich intensiv mit diesen unterschiedlichen Quellen auseinandergesetzt.
Ich habe immer zuerst versucht, durch gnadenloses Nachdenken eigene Antworten zu finden. Erst danach schaute ich, was andere darüber dachten. Dabei bin ich auf Philosophen wie Kant, Spinoza und andere gestossen. Ich versuchte dann, meine Sicht in diesem Zusammenhang zu verorten.

„Alles Wesentliche wurde durch die Musik für mich erfahrbar„

Da haben Sie keinen einfachen Weg gewählt.
Ich war immer eine Nervensäge und wollte schon in der Schulzeit alles selber machen. Das sehe ich nun in meinen Kindern wieder. Selbst mein Enkelkind will alles selber machen.

Kehren wir zurück zu Ihren Fragen. Welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen?
Dass alles im Geist beginnt. Alles muss zuerst eine geistige Vorlage entwickeln, als Idee bestehen, um dann Wirklichkeit werden zu können. Dahingehend ist die Sicht der Naturwissenschaften beschränkt, abgesehen von der Quantentheorie.

Wie meinen Sie das?
Die Realität der Wissenschaft beginnt dort, wo etwas greifbar ist. Aber das ist noch lange nicht der Anfang. Noch heute tappen wir bei den wirklich existenziellen Fragen im Dunkeln, meinen aber, alles zu wissen.

Wenn Sie zurückblicken: Wer war Ihr wichtigster Lehrer?
Die Musik! Alles Wesentliche wurde durch die Musik für mich erfahrbar, nicht als Theorie, sondern wirklich und wahr. Speziell die Harfe hat eine Brücke zwischen meinen Gedanken, meinen Gefühlen und meinem Körper geschlagen. Das spüre ich auch ganz deutlich, wenn ich für Menschen spiele. Das ist es im Grunde, was mich zur Musik gebracht hat.

Also nicht für Sie selber, sondern für andere.
Mich hat immer die Wirkung interessiert. Töne, Harmonien, Rhythmik – alles ist schön und gut. Aber das, was mit einem geschieht, wenn man die Musik hört, darum geht es mir.

Und wie zeigt sich diese Wirkung?
Die Wirkung ist so vielschichtig, wie es die Menschen sind. Aber Musik kann ganz tief berühren und durch Resonanzen Dinge auslösen, die sich rational nicht erklären lassen. Für mich selbst habe ich schliesslich doch eine Erklärung gefunden.

Und die wäre?
Jede Existenz, sei es ein Apfel, ein Wassertropfen oder ein Mensch, hat einen Urplan, der sie als grundsätzlich perfekt vorsieht. Auf dem Weg der Manifestation können dann aber Störfelder hinzukommen.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Der Same eines Baumes enthält das Prinzip seiner höchstmöglichen Perfektion. Er beginnt gemäss seinem Urplan zu wachsen. Wenn der Baum nun aber krumm wächst, so ist dies nicht, weil der Urplan dies so vorgesehen hat, sondern es sind diese äusseren Einflüsse, wie zu viel Wind, zu wenig Wind, zu viel Wasser, zu wenig Wasser, andere Bäume, die Schatten machen … Der Urplan selbst bleibt unberührt.

Interviewbild: Andreas Vollenweider
© Bernard van Dierendonck

Welche Rolle spielt hier die Musik?
Musik kann tief in uns eindringen und eine harmonisierende Resonanz auslösen, eine Erinnerung an unseren eigenen Urplan. Es muss Musik sein, die ein Glücksgefühl in uns auslöst, was natürlich sehr persönlich ist. Genau das macht die Musik von Armando, dem Protagonisten meines Romans. Sie reaktiviert den Urplan seiner Hörerinnen und Hörer. Und das kann sogar bewirken, dass einige von ihnen wieder gesund werden können, so wie es in ihrem Urplan vorgesehen ist. Hier zeichne ich natürlich ganz bewusst ein grosses Bild.

Gibt es noch weitere Qualitäten, die Musik auszeichnen?
Musik ist reiner Ausdruck des Jetzt. Ein gespielter Ton ist nicht mehr hörbar. Ein Ton, der noch nicht gespielt wurde, ist noch nicht hörbar. Musik, die jetzt gespielt wird, zieht uns deshalb ganz ins Jetzt. Und das Jetzt ist unsere einzige verbindliche Wirklichkeit. Vergangenheit ist Erinnerung. Zukunft ist Projektion. Auch unsere tiefen Gefühle finden im Herzen des Jetzt statt, da wo Musik durch Resonanzen den Urplan wieder zum Schwingen bringen kann. Hier wird Musik zur Medizin. Darin liegt ihre wirkliche Kraft.

Musik hat Sie Ihr Leben lang begleitet. Ihr Vater war Organist. Hat er Sie in die Welt der Musik eingeführt?
Mein Vater hatte eine besondere Beziehung zur Musik. Sie war seine einzige verbindliche Welt. Wenn man mit ihm in Kontakt treten wollte, so war dies nur über Musik oder Humor möglich. Natürlich habe ich mir oft gewünscht, dass er sich auch für meine kindliche Welt interessiert hätte, für meine Seifenkiste oder mit mir eine Velotour gemacht hätte – alles Dinge, die ich später mit meinen Kindern unternommen habe. 

Das klingt etwas traurig.
Ja, das habe ich damals schon vermisst, aber ich bin ihm gleichzeitig auch unendlich dankbar dafür, dass er mich durch seine Leidenschaft in die fantastische Welt der Musik gelockt hat. Das geschah bereits, als ich ein kleines Kind war. Wir haben oft stundenlang zusammen improvisiert, er auf dem Klavier, ich auf der Flöte.

Der Geschichtenerzähler

Schon in frühster Kindheit begann Andreas Vollenweider, geboren am 4. Oktober 1953 in Zürich, Musik zu machen. Sie war eine Überlebensstrategie für ihn, um dem tristen Schulalltag zu entfliehen. Der Multiinstrumentalist fand Mitte der 1970er-Jahre sein Instrument – die Harfe. Er wirkte in diversen Formationen wie «Poesie & Musik» mit. CD Cover Quiet PlacesDer internationale Durchbruch gelang ihm zusammen mit «Andreas Vollenweider & Friends» zu Beginn der 80er-Jahre. Er war der erste Schweizer Musiker, der einen Grammy-Award erhielt. Im Laufe seiner Karriere spielte er u.a. mit Luciano Pavarotti, Bobby McFerrin, Carly Simon und Zucchero. Kürzlich hat er seinen ersten Roman «Im Spiegel der Venus» sowie ein neues Album «Quiet Places» veröffentlicht. Andreas Vollenweider ist verheiratet mit Beata, gemeinsam haben sie drei Kinder und zwei Enkelkinder. Sie leben in Zürich.

Welche Instrumente spielten Sie?
Alles, was im Haus war, vor allem aber Klavier, Blasinstrumente und Gitarre. Wenn ich aus der mir zutiefst verhassten Schule kam, habe ich meinen Thek in die Ecke geworfen und mich ans Klavier gesetzt. Im stundenlangen freien Spiel baute ich so meine eigene Welt wieder auf. Das war eine Überlebensstrategie. Ich weiss nicht, was mit mir ohne Musik geschehen wäre.

Aber Musikunterricht hatten Sie nie.
Nein, ich bin ein absoluter Autodidakt.

Sie spielen auch Harfe auf eine eigene Weise.
Es ist eine Mischung aus Klavier und Gitarre. Mit der linken Hand spiele ich wie auf einem Piano, mit der rechten wie auf einer Gitarre.

Aber nicht nur Ihre Spieltechnik ist eigen.
So wie Harfen klingen und gespielt werden – das wäre nichts für mich. Auch rhythmisch wäre es für mich zu begrenzt. Ich habe meine Harfe so umgebaut, dass ich auch in einem Pop-Rock-Jazz-Setting spielen konnte. Daraus entstand auch die Musik.

Mit ihr haben Sie etwas wirklich Eigenes geschaffen und haben weltweit Konzerte gespielt. Wo sind Ihre Fans zu Hause?
Wir haben während des Lockdowns Mini-Konzerte auf unserer Website veranstaltet. Dadurch haben wir wieder einmal gemerkt, wo sie alle sind: überall. Aber fast zwei Drittel sind noch immer in den USA. Der Rest verteilt sich tatsächlich rund um die Welt.

Welche Erfahrungen haben Sie mit diesen Mini-Konzerten gemacht?
Ich habe die virtuelle Situation völlig unterschätzt. Sie ist nicht direkt, nicht berührbar, aber sie ist eine zusätzliche Möglichkeit zu wirklichen Konzerten. Ich fühle mich beim Spielen stark mit den Hörerinnen und Hörern verbunden. Ich lese ihre Gedanken, die sie in den Chat schreiben. Es sind schöne Momente, wenn sie über ihre Gefühle, Erinnerungen und ihre Ängste in dieser seltsamen Zeit schreiben. So etwas Persönliches erlebt man in einem Konzert nicht. 

Alles, was wir tun, muss Ausdruck von Liebe in ihrem weitesten und tiefsten Sinn sein.

Mit diesem Austausch geht auch eine Verantwortung Hand in Hand. Wie gehen Sie damit um, dass Abertausende Ihnen zuhören?
Für mich muss alles auf einer Grundhaltung aufbauen. So wie ich meine Kinder angeleitet habe, wie ich meine Beziehung und meine Freundschaften pflege – alles muss zusammenpassen, muss getragen werden von dieser Grundhaltung. Sie baut sich über ein ganzes Leben auf. Meine Mutter nannte dies «den Weg der Liebe».

Was bedeutet das für Ihren Alltag?
Alles, was ich tue, wie ich mit Menschen umgehe oder was ich sage, muss von dieser Haltung getragen sein. Sie bildet sich aus Bewusstsein, und auch Bewusstsein entsteht, wie die Musik, im Jetzt. Durch Bewusstsein wird unsere Haltung tiefer. Sie wird zu dir und du zu ihr. 

Das ist Authentizität.
Genau. Authentizität ist für mich die absolute Priorität. Doch damit tun wir uns schwer. Ich bin ein Menschen-Fan. Ich finde unser Potenzial grossartig. Aber was wir damit machen, ist oft niederschmetternd. Dabei ist es doch eigentlich einfach. Alles, was wir tun, muss Ausdruck von Liebe in ihrem weitesten und tiefsten Sinn sein. Jede Entscheidung, ja selbst die profansten Handlungen des Alltags, ohne Ausnahme.

Ist das nicht anstrengend?
Am Anfang vielleicht schon. Man muss es üben, wie alles, was relevant ist. Sie ist nicht einfach da, man muss hineinwachsen, sich diese Haltung zu eigen machen. Aber daraus wächst auch eine unbeschreiblich grosse Freude.

So wie ein Instrument gut zu spielen?
Meine Harfe ist nicht nur schön zu spielen und klingt nicht nur toll. Sie ist auch eine Erweiterung von mir, körperlich wie auch von meinem ganzen Wesen. Seit ich das erkannt habe, bin ich wirklich angekommen bei diesem Instrument. ❋

*«Im Spiegel der Venus», Roman, 2020, Zürich, Midas Verlag

Hier können Sie noch mehr über die Musik von Andreas Vollenweider und sein neues Album «Quiet Places» erfahren.

Beitrag vom 17.11.2020