© Lena Giovanazzi

«Ich sass im Eisfach der Unempfindlichkeit»

Die deutsche Autorin Gabriele von Arnim wuchs in einer unterkühlten, gefühlskargen Familie auf. Wie befreite sie sich aus ihrer emotionalen Starre? Indem sie sich «vom Leben durchrütteln» liess und die Herausforderung annahm, ihren schwer kranken Mann zu pflegen.

Interview: Claudia Senn; Fotos: Lena Giovanazzi

Solch ein Buch hatte man bisher noch nicht gelesen: In «Das Leben ist ein vorübergehender Zustand» beschrieb Gabriele von Arnim vor zwei Jahren ebenso zärtlich wie schonungslos, wie sie ihren von zwei Schlaganfällen gezeichneten Mann zehn Jahre lang pflegte, obwohl sie ihn eigentlich hatte verlassen wollen. In diesen Tagen erscheint nun das Nachfolgewerk «Trost der Schönheit». Darin beschäftigt sich die Autorin mit der Kälte und Gefühlsarmut ihrer Erziehung, die ihr lange Zeit den Weg versperrte, Freude an der Schönheit in all ihren Ausprägungen zu empfinden.

Dem Schweizer Publikum ist Gabriele von Arnim von ihren TV-Auftritten im «Literaturclub» bekannt. Die heute 77-Jährige ist eine prominente Journalistin, Moderatorin und Schriftstellerin, die für viele Zeitungen, Radio- und Fernsehsender gearbeitet hat. Sie meldet sich per Zoom aus ihrer Berliner Dachwohnung. Im Hintergrund ist ein Sammelsurium schöner Dinge und Dingelchen zu sehen. «Dabei habe ich mir doch verboten, auf Flohmärkte zu gehen. Ich tue es aber trotzdem.» Von Arnim spricht in druckreifen Sätzen mit punktgenauer Präzision. Manchmal scheint die Strenge durch, mit der sie aufgewachsen ist. Ihre Antworten sind so entwaffnend ehrlich, dass man sich traut, alles zu fragen, auch die persönlichsten Dinge.

Gabriele von Arnim, wenige Stunden nachdem Sie Ihrem Mann eröffnet hatten, Sie wollten nicht mehr mit ihm leben, erlitt er einen Schlaganfall, später einen zweiten. Fühlten Sie sich für diese Katastrophe in irgendeiner Form mitschuldig? 
Natürlich fragte ich mich, ob das Gespräch dazu beigetragen hatte, den Schlaganfall auszulösen. Interessanterweise empfand ich aber keine Schuldgefühle. Das lag wohl daran, dass ich fand, mich zu Recht von ihm trennen zu wollen. Es war schon eine ganze Weile schwer mit ihm.

Je näher er dem Tod rückte, desto enger fühlten Sie sich wieder mit ihm verbunden. Warum?
Wir hatten damals schon über 20 Jahre zusammengelebt und waren einander unendlich vertraut. Wenn ein Mensch in Todesgefahr schwebt, kommen die alten Gefühle wieder hoch. Ich dachte, die Schlaganfälle könnten eine Art Warnung gewesen sein. Ich dachte, vielleicht haben wir ja noch eine Chance. Vielleicht können wir jetzt wieder gesund werden, nicht nur er nach seinem Schlaganfall, sondern auch wir beide in unserer Ehe.

Ihr Mann war ein prominenter Fernsehjournalist, der moderierte, debattierte, kommentierte. Sie hatten sich einst in seine sprachliche Eloquenz verliebt.
Ich hatte mich vor allem in seine Stimme verliebt. Er hatte eine so herrliche, sonore Stimme mit einem erotischen Timbre! Was er sagte, gefiel mir auch, weil er ein kluger, schneller, witziger Typ war. Jetzt kriegte er nur noch ein Krächzen heraus. Zwar hatte er noch immer zu allem eine dezidierte Meinung, aber er konnte sie kaum artikulieren. Das war die Tragödie seines Lebens.

Er war «ein gefällter Mann», schreiben Sie, «ein Bär ohne Wildnis». Tat es weh, ihn so zu sehen?
Er war ein vielfach zerstörter Mann. Das hat mich unendlich traurig gemacht. Er hat lange geglaubt, er könne eines Tages vielleicht doch wieder richtig sprechen und sogar in seinen Beruf zurückkehren. Daran war aber überhaupt nicht zu denken. Manchmal schlug meine Traurigkeit auch in Ungeduld und Aggression um, weil ich es selbst nicht mehr aushalten konnte. Das mochte ich nicht an mir, denn ich reagierte nicht so, wie er es gebraucht hätte.

Ihr Mann war kein einfacher Patient. Er konnte wüten und toben, weil ihn sein gelähmter Körper zur Verzweiflung trieb. Wie haben Sie das ausgehalten?
Nicht immer gut. Manchmal habe ich zurückgetobt. Manchmal habe ich versucht zu reden, zu trösten, Kraft zu geben. Das Schwierige ist, dass man gekränkt ist, obwohl man ja weiss, dass er nichts dafür kann. Wie soll er denn nicht wütend sein, wenn er in einem solchen Zustand leben muss? Manchmal musste ich einfach aus dem Zimmer gehen und mich wieder beruhigen. Man braucht in solchen Momenten unbedingt Freunde, denen man sagen kann, wie verzweifelt man ist.

© Lena Giovanazzi

Haben Sie jemals daran gedacht aufzugeben?
Manche Leute sagten zu mir: Komm, gib ihn in ein Heim, und dann besuchst du ihn jeden Tag. Ich sagte: Wenn ich ihn in ein Heim gebe, dann könnt ihr mich in die Klapsmühle stecken. Ich fand die Vorstellung einfach zu schrecklich. Kommt dazu, dass ich in einer sehr privilegierten Lage war, weil ich das Geld hatte, eine Privatpflegerin zu engagieren. Allerdings habe ich unterschätzt, wie sehr es an mir und meiner Kraft nagen würde, ihn zu Hause zu pflegen. Am Ende sagten meine Freunde: Wenn er nicht gegangen wäre, dann wärst du zusammengeklappt.

«Das Tolle ist, dass man das Lieben wieder lernen kann.»

Wie ist es Ihnen gelungen, den Mann, den Sie eigentlich verlassen wollten, wieder zu lieben?
Wenn Sie jemanden pflegen und das nicht liebevoll machen, dann ist das für ihn, aber auch für Sie selbst, eine noch grössere Zumutung. Wenn Sie ihn waschen, eincremen, windeln und gleichzeitig immer denken: Mensch, eigentlich will ich dich doch gar nicht mehr – das wäre schrecklich. Es ist wichtig, in einem solchen Moment wieder Zärtlichkeit zu entwickeln, für den Menschen und für den Körper, um den man sich kümmert. Es ist eine Zärtlichkeit ohne Begehren, eine Zärtlichkeit für ein krankes Wesen.

Hat das Ihr Mann ähnlich empfunden?
Ich glaube, ja. Früher war er ein Berserker, dem nichts wichtiger war als seine Unabhängigkeit. Nun war er auf einmal vollkommen abhängig von mir. Das hielt er nur aus, weil er mich liebte. Das Tolle ist, dass man das Lieben wieder lernen kann, gespeist aus dem alten Verbundenheitsgefühl.

Wie haben Sie dafür gesorgt, dass Sie nicht in die Rolle der Pflegerin abgerutscht sind?
Wir haben viel geredet, so gut es eben ging. Wir haben viel gelacht. Derselbe Mann, der morgens in seinem Rollstuhl sass und sagte, gib dir keine Mühe, sobald ich kann, bringe ich mich sowieso um, konnte sich nachmittags über irgendwas schlapp lachen. Das hat sehr geholfen, dieses Miteinander, der gegenseitige Respekt. Er hatte viele Charaktereigenschaften, die ich grossartig fand. Seine Intellektualität und seinen frechen Witz habe ich nach wie vor sehr bewundert.

Ist die Freude an den kleinen Dingen ein Gegengift gegen die Zumutungen des Alltags?
Eindeutig, ja. In einer solchen Situation ist es wichtig, abends schön den Tisch zu decken und etwas Angenehmes zu kochen. Wegen seiner Schluckstörung konnte mein Mann nur Püriertes essen. Mit viel Fantasie und Farbensinn habe ich Randen in seinen Kartoffelstock gemischt oder Rucola in den Sellerie. Es gab auch immer einen schönen Blumenstrauss in der Wohnung.

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All die Jahre konnten Sie nicht aufhören, Angst um ihn zu haben. «Wenn du stirbst, bringe ich dich um», flüsterten Sie einmal an seinem Bett. Wovor genau hatten Sie Angst?
Es war nicht mal so sehr die Angst vor dem Tod. Es war die Angst vor der nächsten Lungenembolie, vor der nächsten Ratlosigkeit, vor dem nächsten Schmerz, vor dem nächsten Krankenhausaufenthalt, der nächsten Attacke. Ich konnte mich fast nie zurücklehnen und sagen: Jetzt ist alles okay. Ich musste immer wieder die richtigen Ärzte finden, war immer wieder beunruhigt, hatte immer wieder Angst, nicht das Richtige zu tun. Die Angst war berechtigt. Trotzdem denke ich, ein bisschen mehr Gelassenheit wäre schön gewesen, auch für ihn.

Später fanden Sie heraus, dass Ihre Angst auch von einem Kindheitstrauma herrührte. Was ist damals passiert?
Als 9-Jährige lag ich wegen eines Hüftleidens ungefähr anderthalb Jahre im Bett. Erst mit einem Streckverband, dann mit einem Gips. Später hat man mir Schienen gebaut, an denen ich das Laufen wieder lernen sollte. So lange allein in meinem Zimmer zu liegen, war furchtbar. Da ich aus einer gefühlskargen Familie komme, habe ich mich in einen emotionalen Panzerschrank gesteckt, um das aushalten zu können.

Sie nennen diesen Zustand «Eisfach der Unempfindlichkeit».
Auch als ich wieder laufen konnte, habe ich noch lange in diesem Eisfach gesessen. Wenn man sich als Kind nicht geborgen fühlt, hat man später viel zu tun, um da anzukommen, wo man eigentlich ankommen will: bei sich selbst.

«Ich habe gut funktioniert, aber ich war innerlich nie richtig dabei.»

Wie hat Sie die Kälte, die Sie in Ihrer Kindheit erlebten, als Erwachsene beeinflusst?
Ich habe zwar gut funktioniert, Abitur gemacht, studiert, promoviert, geheiratet und ein Kind bekommen. Aber ich war innerlich nie richtig dabei.

Konnten Sie sich aus dieser Starre wieder befreien?
Es war ein schwieriger Weg voller Geröll, und ich habe Jahrzehnte gebraucht, bis ich ihn endlich gegangen bin. Geholfen haben mir viele, viele Therapien – und das Leben selbst, alles, was mich emotional so richtig durcheinander- gewirbelt hat, zum Beispiel Liebeskummer. So traurig das im Moment war, bedeutete jede Gefühlsexplosion doch auch ein Stück Befreiung.

Viele Frauen Ihres Alters sind in strengen, harten, manchmal sogar freudlosen Verhältnissen aufgewachsen. Musse, Entspannung oder der kreative Ausdruck galten nicht als wichtig. Wie hat das Ihre Generation geprägt?
In Deutschland gab es nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus die Devise «bloss nichts fühlen», mit der auch ich gross geworden bin. Man hatte sich ja diesem Hitler-Rausch hingegeben, den der Schriftsteller Hans Sahl den «kollektiven Orgasmus der Deutschen» genannt hat. Weil die Menschen sich nach dem Krieg dafür schämten, wollten sie nun möglichst gar nichts mehr empfinden. Was für eine schreckliche Devise! Viele Frauen meiner Generation durften tatsächlich nichts fühlen. Wir durften nicht kreativ sein. Wir durften nicht zeigen, dass wir intelligent sind, denn das würde ja die armen Männer erschrecken. Wir sollten angepasst und geschmeidig sein und uns auf keinen Fall fragen, wer wir sein wollen in dieser Welt. Das hat es uns sehr schwer gemacht, unseren Platz zu finden.

Gab es in Ihrer Familie körperliche Zärtlichkeit?
Absolut nicht, nein, es gab keine körperliche und auch keine emotionale Nähe. Das war damals in vielen Familien so. Ich fand es herrlich zu sehen, wie in der nächsten Generation die Eltern mit ihren Kindern kuschelten und die Geschwister sich umarmten.

Hätten Sie das alles begreifen und durchschauen können, ohne die immense Herausforderung der Krankheit Ihres Mannes?
Sie hat mir eindeutig dabei geholfen. Wenn Sie so aus Ihrem Leben hinauskatapultiert werden, dann wird einfach alles durcheinandergerüttelt. An jeder Ecke wird ein Pfeiler rausgerissen. Da muss man die Statik des eigenen Gemütsgefüges neu justieren. Das war sehr hilfreich für mich.

© Lena Giovanazzi

Als ihr Mann starb, blieben Sie «zerfleddert» zurück, so beschreiben Sie es in Ihrem Buch. Gab es neben der Trauer auch so etwas wie Erleichterung, weil die kräftezehrende Pflege ein Ende hatte?
Am Anfang überhaupt nicht. Ich musste ja erst einmal lernen zu leben, ohne gebraucht zu werden. Gebraucht zu werden ist auch eine Kraftquelle. Plötzlich war ich nur noch für mich selbst verantwortlich. Plötzlich war da keiner mehr, der sich freute, wenn ich kam. Das fühlte sich an wie ein riesiges Vakuum, in dem ich umhertaumelte und nicht wusste, wo oben und unten ist. Ich dachte: Wenn man 8 Stunden schläft, bleiben immer noch 16 Stunden, die man füllen muss. Was mache ich 16 Stunden ohne ihn? Anfangs konnte ich auch kaum die Wohnung verlassen. Eine Tür abzuschliessen, hinter der keiner mehr ist, fühlte sich schrecklich an.

Was hat Ihnen in dieser Zeit geholfen?
Die Arbeit. Und natürlich, wie immer, die Freunde. Es gab eine Freundin, die mich abends um sechs Uhr anrief und fragte: Hast du dich heute schon bewegt? Wenn ich Nein sagte, stand sie zehn Minuten später vor meiner Tür, und wir radelten gemeinsam durch den Tiergarten. Es sind diese praktischen, zugewandten Dinge, die man in der Trauer braucht.

Der Tod Ihres Mannes ist jetzt neun Jahre her. Haben Sie inzwischen in Ihr neues Leben hineingefunden?
Ja, schon seit einer ganzen Weile. Es ist ein erstaunliches Gefühl, wenn man merkt, dass die Kraft zurückkommt. Dass die Lust zurückkommt. Die Freude daran, wie die Vögel singen. Plötzlich hört man es wieder. Plötzlich schmeckt der Tee besonders gut. Oder man sieht den Mond wie eine Orange am Himmel hängen. Dann atmet man tief ein und denkt: Oh, ist das schön!

Was wäre Ihnen entgangen, wenn Sie Ihren Mann damals tatsächlich verlassen hätten?
Dieses Durchgerüttelt-zu-werden. Dieses Aufgeweckt-zu-werden für Gefühle. Diese Überforderung, die mich aufmerksamer werden liess für mich selbst und hoffentlich auch für andere. Die Möglichkeit, Schwäche nicht nur zu empfinden, sondern auch zuzugeben, Hilfe anzunehmen, vielleicht sogar darum zu bitten. Lauter Dinge, die ich nie gelernt hatte. So verbockt, wie ich war, musste ich innerlich bersten. Die extreme Bedrängnis, vor die mich die Krankheit meines Mannes stellte, hat mir dabei geholfen.


  • Gabriele von Arnim: «Das Leben ist ein vorübergehender Zustand», Rowohlt Verlag 2021, ca. CHF 34.–, und «Der Trost der Schönheit», Rowohlt Verlag 2023, ca. CHF 34.–
Beitrag vom 15.08.2023