Covermotiv: Gemälde von Elizabeth Lennie © Elizabeth Lennie

Wir holen alles nach, Kapitel 10 Von Martina Borger

Den ganzen Abend über spukt Sina das, was Ellen beim Abholen gefragt hat, im Kopf herum. Sie versucht es auszublenden, aber es drängt sich immer wieder in ihre Gedanken zurück.

«Wie war denn Elvis’ Wochenende?», hatte Ellen gefragt, während Elvis im Wohnzimmer war, um sich seine Schuhe anzuziehen. «Er hat mit Ihrem Partner gezeltet, oder?»
«Ja. Ich glaube, sie hatten viel Spass.»
«Passiert ist nichts? Ein kleiner Unfall oder so was?»
«Soviel ich weiß, nicht. Warum fragen Sie?»
«Mir ist nur aufgefallen, dass Elvis ein paar blaue Flecken hat. An mehreren Stellen.»
«Wirklich?»
«Kinder stossen sich ja schnell mal, das hat sicher nichts zu bedeuten.»

Ellen reichte Sina Elvis’ noch klammes T-Shirt, er hatte sich offenbar beim Essen eingesaut. «Gewaschen ist es, aber noch nicht ganz trocken.»
«Vielen Dank. Das hätten Sie aber nicht tun müssen.»
«Ich wollte sowieso gerade die Maschine anwerfen, also kein Problem.»

In diesem Moment war Elvis aus dem Wohnzimmer gekommen, in einem weiten schwarzen T-Shirt, das ihm fast bis zu den Knien reichte. Ellen hatte gelacht. «Du siehst ein bisschen aus wie ein Rapper», hatte sie gesagt. «Fehlt nur noch eine fette Halskette.»
Sina hatte gelächelt, obwohl sie fand, Elvis sah eher abgerissen aus, wie ein Strassenkind. «Du hast also was gegessen», sagte sie. «Dann geht’s dir ein bisschen besser?»

Elvis nickte, beugte sich zu dem Hund herunter, der ihm gefolgt war, und streichelte ihn. Sina fiel ein, dass sie wieder vergessen hatte, wegen eines Hundes für ihn zu recherchieren, einem auch für Allergiker geeigneten Tier.
«So ganz fit scheint er mir aber noch nicht zu sein», sagte Ellen. «Er hat noch etwas Bauchweh, glaube ich. Vielleicht messen Sie nachher mal Fieber?»
«Mach ich. Ich hoffe, er brütet nichts aus.» Sina fuhr Elvis durch die Haare, sie waren ein bisschen feucht, hoffentlich kein schlechtes Zeichen, dass er so schwitzte. Andererseits auch kein Wunder bei der Hitze. «Wir haben morgen eine Präsentation, bei der darf ich nicht fehlen.»
«Wenn er wirklich krank wird, kann ich ihn auch bei Ihnen betreuen.»
«Das würden Sie tun?»
«Natürlich. Ansonsten sehen wir uns morgen früh, okay, Elvis?»
Er richtete sich auf, nickte und reichte Ellen zum Abschied förmlich die Hand, das hatte er vorher nur auf Aufforderung gemacht. Und er blickte ihr sehr ernst und intensiv in die Augen.

Zu Hause hatte sie gleich Fieber gemessen. 36,8, ganz normal, sie war erleichtert. Von der Pasta, die Torsten gemacht hatte, wollte Elvis allerdings nichts. Torsten liess sich nicht davon abhalten, noch schnell beim Supermarkt Salzstangen und Cola für ihn zu holen, das Allheilmittel gegen Übelkeit.

Während er unterwegs war und Elvis auf dem Fussboden vor dem Fernseher hockte und durch die Fernsehprogramme zappte, rief Sina vom Schlafzimmer aus bei Katja an, unter dem Vorwand, sich noch mal für die Betreuung am Sonntag bedanken zu wollen, sie hatte das gefühlt schon fünfunddreissigmal gemacht. Betont munter erkundigte sie sich, wie der Tag denn so gelaufen war, hatten die Jungs sich gut vertragen, war Elvis pflegeleicht gewesen?

Alles okay, so Katja, sie hatten erst mit den beiden einen Spaziergang gemacht, dann zu Mittag gegessen, danach hatten Lukas und Elvis in Lukas’ Zimmer gespielt, zwei andere Jungs in ihrem Alter aus der Nachbarschaft waren auch noch dazugekommen. Offenbar hatten sie zu viert viel Spass gehabt, sie hatte immer wieder lautes Gelächter aus dem Raum gehört. Blieb also nur der Samstag.

Sie war ins Wohnzimmer gegangen, wo Torsten inzwischen zusammen mit Elvis eine Komödie auf Netflix guckte, Elvis knabberte seine Salzstangen. Nach dem Film schickte sie ihn ins Bett.
Sie folgte ihm ein paar Minuten später in sein Zimmer. Sie hatte gehofft, den Moment zu erwischen, in dem er das T-Shirt aus- und sein Pyjama-Oberteil anziehen würde, aber als sie reinkam, hatte er schon im Bett gelegen. Er fummelte mit seinen In-Ear-Kopfhörern herum, er wollte ein Hörspiel auf seinem Handy hören, das sie ihm gekauft hatte, angeblich der neueste Hit bei Kindern. Sie hatte sich auf den Bettrand gesetzt.

«Tut dein Bauch noch weh?»
«Nur ein bisschen.»
«Und wie geht’s dir sonst?»
«Gut.»
Sie hatte einen Moment zugesehen, wie er den Knoten im Kabel entwirrte.
«Ich hab auch manchmal Bauchweh», sagte sie dann.
«Ich weiss. Alle vier Wochen.»
«Das auch. Aber mir wird öfter schlecht, wenn ich vor etwas Angst habe. Früher in der Schule zum Beispiel, vor Klassenarbeiten. Oder wenn ich was kaputtgemacht hatte und ich mich nicht getraut hab, es meinen Eltern zu sagen.»
Er entknotete weiter.
«Kennst du das auch?»
«Wir haben keine Klassenarbeit», sagte er. «Es sind doch noch Ferien. Und ich hab nichts kaputtgemacht.»
«Das hab ich auch nicht gesagt. Aber vielleicht gibt es irgendwas anderes? Was dich bedrückt?»
Keine Antwort, ein vages Achselzucken.
«Dass ich so wenig Zeit hab vielleicht? Und dass du unter der Woche zu Ellen musst?»
«Ich geh gern zu ihr.»
«Da bin ich froh. Dann … ist also alles okay?»

Er nickte. Sie wartete noch einen Moment, dann beugte sie sich vor, umarmte ihn, küsste ihn auf die Wange. «Ich hab dich sehr lieb, das weisst du doch, oder? Und ich will, dass es dir gutgeht. Ich würde alles dafür tun.»
µIch hab dich auch lieb», sagte er.

Jetzt sitzt sie im Bett, den Laptop auf den Knien, sie will sich die Präsentation noch mal ansehen für morgen, auch wenn sie im Prinzip nur Protokoll führt über Kritik und Wünsche des Kunden. H. C. erwartet trotzdem, dass sie auf dem Laufenden ist. Torsten, schon in T-Shirt und Schlafshorts, steht vor dem geöffneten Schrank und sucht sich seine Sachen für morgen raus, er macht das immer so, seine Mutter hat ihm das beigebracht. Er hängt den grauen Anzug an die Schranktür, nimmt eine rot-grüngestreifte Krawatte.

«Ist das hellblaue Hemd noch in der Wäsche?»
«Ich glaube. Hättest du es gebraucht?»
«Kein Problem. Ich nehm ein weisses.» Auch das hängt er an die Schranktür.
«Du, sag mal», sie versucht so beiläufig wie möglich zu klingen, als sei sie in Gedanken eigentlich woanders. «Auf deinem Ausflug mit Elvis, ist da eigentlich irgendwas passiert?»
«Was soll passiert sein?»
«Irgendwas Ungewöhnliches, keine Ahnung.»

Weil er sie jetzt ansieht, schaut sie auf den Bildschirm. «Wenn ich mit ihm was unternehme, bricht immer das Chaos aus. Ich verliere den Autoschlüssel, Elvis wird von einer Wespe gestochen, oder er fällt hin und tut sich weh.»
Torsten kommt zum Bett, setzt sich, stellt den Wecker, sechs Uhr wie immer, damit er vor dem Büro noch joggen kann. «Hat er diesmal nicht. Keine einzige Katastrophe. Es war total harmonisch.» Sie kann das Mundwasser riechen, mit dem er vor dem Schlafengehen immer ausgiebig gurgelt.
«Und was habt ihr so gemacht?»
«Hab ich dir doch schon erzählt.»
«Ich bin eben neugierig. Immerhin war es das erste Mal, dass ihr so lange allein miteinander wart. Und über Nacht.»

Torsten zieht seine Uhr aus und legt sie auf den Nachttisch, dann schlüpft er unter die Decke. Sie haben nur eine, dafür sehr grosse.
«Erst das Zelt aufgebaut. Danach sind wir in der Isar geschwommen, die ist an der Stelle ganz flach. Wir sind einmal quer durch und wieder zurück.»
«Und dann?»
«Wozu willst du das denn alles wissen?» Bildet sie es sich ein, oder ist er einen Hauch nervös?
«Einfach so.»
«Danach haben wir Feuer gemacht und die Würstchen gegrillt. Dann ein paar Runden Mau- Mau gespielt. So um zehn waren wir schon in den Schlafsäcken.» Er klopft ausgiebig sein Kissen zu- recht»
«Und Elvis hat überhaupt kein Theater gemacht?»
«Er ist doch keine drei mehr, Sina. Er war munter und fröhlich, nicht besonders redselig, aber das ist er ja nie, zumindest nicht bei mir. Ich bin sicher, es hat ihm Spass gemacht. Ich hab mir auf jeden Fall vorgenommen, dass wir so was öfter mal machen.»
«Männerunternehmungen, meinst du?»
«Genau. Ich will einfach, dass wir ein gutes Verhältnis zueinander haben.»
«Habt ihr doch.»
«Schon. Aber irgendwie noch nicht so richtig vertraut, verstehst du? So wie Vater und Sohn.»

Endlich legt er das Kopfkissen hin und seinen Kopf darauf. Sie klappt den Laptop zu, stellt ihn auf den Nachttisch.
«Liebling», sagt sie sanft. «Er hat einen Vater. Und ob es uns gefällt oder nicht, er hängt an ihm.»
«Aber er verbringt viel mehr Zeit mit mir als mit David. Er soll einfach wissen, dass ich ihn gernhabe. Dass er mir vertrauen kann. Sich auf mich verlassen. Ich möchte gern für ihn sorgen.» Wenn ich es schon für meine leiblichen Kinder nicht kann, dieser Satz schwingt unausgesprochen mit.
Sina legt sich hin, dreht sich zu ihm. In solchen Momenten rührt er sie so, dass sie weinen könnte.
«Das tust du doch schon», sagt sie. «Ich bin sicher, er spürt, wie sehr du ihn magst.» Sie rutscht näher zu ihm, schlingt ihre Arme um ihn, presst sich an seinen Körper, der sofort reagiert.
«Ich liebe dich so», flüstert sie. «Ich bin so froh, dass ich dich habe.»

Als sie gegen fünf Uhr morgens aufwacht, weil sie pinkeln muss, geht sie danach noch in Elvis’ Zimmer. Wieder setzt sie sich auf den Bettrand, betrachtet ihren schlafenden Sohn. Wie klein er noch ist. Bei den kinderärztlichen Untersuchungen sind sein Gewicht und seine Grösse immer im untersten Bereich. «Der kann nicht von mir sein, so mickrig wie er ist», hatte David mal im Scherz gesagt, bei einem Sommerfest im Kindergarten, vor den ganzen umsitzenden Müttern und Vätern. Sie hatte mitgelacht, aber es hatte sie verletzt. Als habe sie ein unvollkommenes Kind zur Welt gebracht. «Sei doch nicht immer so empfindlich», hatte David gesagt, als sie ihn zu Hause darauf ansprach, «verstehst du gar keinen Spass mehr?»

Elvis schläft auf dem Bauch. Sie schiebt vorsichtig das Oberteil seines Schlafanzugs nach oben. Direkt über dem Steiss ist ein blauer Fleck, so gross wie von einer Faust. Er muss weh tun, wenn man ihn berührt. Auch an der linken Seite kann sie ein Mal erkennen, hat er auch vorne welche? Wie kann er sich an diesen Stellen so gestossen haben?

Sie zieht das Hemd wieder nach unten, steht auf. Der Vorhang ist nur halb geschlossen, sie tritt ans Fenster, zieht die Gardinen zu, damit Elvis nicht von der bald aufgehenden Sonne geweckt wird. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite sieht sie Ellen, die ihr Fahrrad samt Anhänger schiebt, ihr Hund trottet neben ihr her. Jetzt hält sie an, nimmt zwei Zeitungen von dem Stapel und geht zur Haustür von Nummer 8. Sie schliesst auf und verschwindet im Haus, der Hund setzt sich neben das Rad und wartet.

Sie ist froh, dass kommende Woche die Schule wieder anfängt und Elvis die Tage nicht mehr bei Ellen verbringt. Seit dem Gespräch heute spürt sie eine unterschwellige Antipathie gegen die Frau, auch wenn sie ihr dankbar ist für ihre Hilfe. Für die sie sie auf der anderen Seite ja gut bezahlt, beziehungsweise David. Wenn sie ehrlich ist, stört es sie, dass Elvis so gern bei Ellen ist, und das nicht nur wegen des Hundes. Ellen verbringt so viel mehr Zeit mit Elvis als sie selbst. Und ihre Gutmenschen-Attitüde färbt auf ihn ab, seit letzter Woche drängelt er, dass Sina einen Komposteimer anschafft, so einen, wie Ellen ihn hat. Dass sie beim Einkaufen Stofftaschen dabeihat, das Obst lose in den Korb legt anstatt in Plastiktüten. Dass sie Ökowaschmittel kauft. Dass sie weniger Fleisch essen sollten, dabei tun sie das längst.

Er hat sogar schon Torsten in die Zange genommen, wieso der mit dem Auto zur Arbeit fährt und nicht mit den Öffentlichen. Und Flugreisen sollten sie in Zukunft nur noch machen, wenn es gar nicht anders geht. Das Thema nervt sie inzwischen. Sie will nicht, dass ein anderer Mensch ihrem Sohn so nahekommt, ihn beeinflusst, mehr über ihn weiss als sie selbst. Dass er Ellen vielleicht etwas anvertraut, was er ihr nicht erzählt. Sie hätte die blauen Flecken bemerken müssen, nicht Ellen. Sie ist seine Mutter.

Was bisher geschah:

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Kapitel 9

Martina Borger

Wurde 1956 geboren und arbeitete als Journalistin, Dramaturgin und Filmkritikerin, bevor sie sich aufs Drehbuchschreiben verlegte. Sie hat bei mehreren Serien als Storylinerin und Chef-Autorin gearbeitet. Gemeinsam mit Maria Elisabeth Straub veröffentlichte sie 2001 ihren ersten Roman «Katzenzungen», dem «Kleine Schwester» (2002), «Im Gehege» (2004) und «Sommer mit Emma» (2009) folgten. Ohne Co-Autorin erschien 2007 ihr Roman «Lieber Luca». Martina Borger lebt in München.


Martina Borger, «Wir holen alles nach», Roman, Diogenes

Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2020 Diogenes Verlag AG, Zürich, www.diogenes.ch
120 / 20 / 44 / 1; ISBN 978 3 257 07130 6

Beitrag vom 09.09.2020