Covermotiv: Gemälde von Elizabeth Lennie © Elizabeth Lennie

Wir holen alles nach, Kapitel 2 Von Martina Borger

Verdammte Scheisse! Und wieder auf den letzten Drücker!« Sina schleudert das Handy von der Küchentür aus auf den Tisch, es schlittert gefährlich auf die Kante zu. Torsten fängt es im letzten Moment auf und schiebt es aus der Gefahrenzone.

«Was genau hat er gesagt?» Er schaut nicht von dem Poststapel auf, den er sortiert, Werbung, Werbung, Rechnung.
«Dass er momentan auf gar keinen Fall aus der Firma wegkann! Weil er ja so wichtig-wichtig ist! Dieses Arschloch! Ich könnte ihn echt … Ach, was reg ich mich auf. Ich hätte es wissen müssen.»

Sina lässt sich auf den Stuhl Torsten gegenüber fallen, am liebsten würde sie mit einer einzigen Bewegung alles vom Tisch fegen, was da liegt und steht, das Handy, die zwei Gläser Wasser, den Teller mit Butterbrezen, die sie vorhin noch beim Bäcker geholt hat, statt Abendessen, mittags haben sie am Flughafen auf Lanzarote noch Paella gegessen. Zwei Wochen Ferien, und kaum sind sie eine Stunde zu Hause, ist ihre ganze Erholung beim Teufel.

«Hättest du wahrscheinlich. Ist ja nicht das erste Mal.» Torsten kennt Sinas Ex David zwar noch nicht persönlich, hat aber in den elf Monaten, in denen sie zusammen sind, diese Situation bereits dreimal miterlebt, Weihnachten, Ostern und jetzt. David vereinbart mit Sina die Ferienaufteilung für Elvis und sagt in letzter Minute ab. An blöde Zufälle kann sie inzwischen nicht mehr glauben. So bitter es ist, David hat kein grosses Interesse an seinem Sohn.

Sina steht auf und geht zur Waschmaschine, vor der die gesamte Urlaubswäsche auf einem Haufen liegt. Sie kniet sich hin und sortiert alles auseinander, Weiss, Bunt, Schwarz.

«Und was mach ich jetzt? Ich kann mir nicht einfach so noch zwei Wochen Urlaub nehmen. Wenn ich am Montag nicht in der Agentur antanze, rastet H. C. aus.»
«Ich könnte ihn übernehmen. Müsste ich die Reise absagen, hol ich dann halt irgendwann nach.« Torsten hat geplant, am Sonntag nach Dresden zu fahren, er will dort seine Eltern besuchen, ausserdem hat er zwei Vorstellungstermine vereinbart.
«Kommt gar nicht in Frage.» Er soll diese Reise unbedingt machen, auch wenn sie insgeheim hofft, dass aus einem Job dort nichts wird. Eine Fernbeziehung ist das Letzte, was sie sich wünscht.
Torsten steht auf und wirft die Werbung in den Korb mit Papiermüll. «Kann er nicht noch mal in dieses Camp, wo er Ostern schon war? Mit seinem Freund Lukas?»
«Da hab ich im Mai schon mal vorsichtshalber angefragt, da waren die schon längst voll.»
«Und irgendeine andere Ferienbetreuung? Da muss es doch was geben.»
«Von jetzt auf hier, für zwei Wochen?»
Torsten geht zur Tür. «Ich geh mal meine Mails checken. Wir überlegen nachher noch mal zusammen, okay? In Ruhe.»

Sina stopft die erste Ladung Buntes in die Maschine, die Wäsche riecht nach Schweiss und Sand und Sonnenöl. Wenn sie die Augen schliesst, sieht sie den Strand vor sich und hört das Rauschen des Meeres, die Rufe des Eisverkäufers, Elvis’ Lachen, wenn eine grosse Welle auf ihn zurollt.

«Weisst du, was mich am meisten nervt? Dass ich Elvis wieder die Hiobsbotschaft überbringen darf! Er wird total enttäuscht sein.»
«Mach’s morgen», sagt Torsten im Hinausgehen.
«Verdirb ihm nicht den Abend.»
«Ich verderb ihm gar nichts!»

Aber Torsten ist schon im Flur verschwunden. Bevor die Tür zufällt, hört sie noch martialische Musik und gebrüllte Dialoge aus dem Wohnzimmer, Elvis darf noch eine Stunde fernsehen, ehe er ins Bett muss.

Wie soll sie ihrem Sohn am besten beibringen, dass sich die Urlaubspläne schon wieder zerschlagen haben? Elvis hängt an seinem Vater, so unzuverlässig der auch ist. Erst neulich hat sie ein Gespräch zwischen ihm und seinem besten Freund belauscht, Elvis hat Lukas vorgeschwärmt, wie toll sein Vater ist, wie erfolgreich, wie reich, was für ein teures Auto er fährt. Man hätte glauben können, er rede von einem Rockstar und nicht von einem kleinen Rechtsanwalt, der in der Düsseldorfer Kanzlei überhaupt nur arbeitet, weil er der Sohn vom Chef ist. Woanders wäre der doch längst hochkant rausgeflogen, so viel Mist, wie er schon gebaut hat, dieser Versager, dieser aufgeblasene Wichtigtuer, dieser Blender.

Sina schliesst die Tür der Maschine und schaltet sie ein. Sie fühlt sich plötzlich todmüde, dabei ist es noch nicht mal neun, und sie hat auf Lanzarote viel und gut geschlafen. Wann hört dieser Stress jemals auf, diese verzweifelte Suche nach Unterbringungsmöglichkeiten für ihr Kind? Wenn sie allein an die Aupairs denkt. Diese Brasilianerin, die Elvis ganze Nachmittage vor dem Fernseher geparkt hat, um ihre Verehrer in der Küche zu bewirten, Sina hat sie eines Nachmittags dabei ertappt. Sie durfte ja noch froh sein, dass sie die beiden nicht beim Vögeln erwischt hat, vielleicht auch noch in ihrem eigenen Bett.

Oder die heimwehgeplagte Ungarin, die gefühlte zehnmal am Tag Rotz und Wasser heulte und so streng nach Schweiss roch, immerhin aber mit Elvis liebevoll umging, bis sie es nach drei Monaten nicht mehr aushielt und von ihren Eltern abgeholt wurde. Danach die Tagesmutter, eine übergewichtige Berlinerin, die über Elvis sagte, er heule zu viel, er sei doch ein Junge. Er weinte tatsächlich jedes Mal herzzerreissend, wenn Sina ihn morgens hinbrachte, sie konnte es keine zwei Monate ertragen.

Danach nahm sie sich sechs Wochen Urlaub, um für Elvis da zu sein, der selig war, der dicken Berlinerin entkommen zu sein. Sie haben damals ganze Tage vertrödelt, in Parks, auf Spielplätzen, bei Spaziergängen durchs Viertel. Damals wurde das neue Quartier am Olympiapark errichtet, für Elvis war es das Schönste, am Rand der Baustelle zu stehen und den Arbeiten zuzusehen, den Baggern, den Kränen, den Mischmaschinen. Am Anfang war sie ungeduldig, sie fand es langweilig, aber Elvis hing so fasziniert am Zaun, dass sie ihm zuliebe ausharrte.

Neulich hat sie ihn gefragt, ob er sich an die Baustelle erinnert, seine Augen leuchteten sofort auf. Am meisten hatten sich ihm die riesigen Stahlträger eingeprägt, die, vom Kran hochgehoben, minutenlang gefährlich schwankend über der Baugrube pendelten, ehe sie langsam und vorsichtig zu Boden gelassen wurden.

Sie hatte damals überlegt, eine längere Auszeit zu nehmen, notfalls den Job sogar zu kündigen, aber David hatte sich gerade mit der eigenen Kanzlei selbständig gemacht, die Klienten liessen auf sich warten, sie brauchten ihr Gehalt. Sie brachte Elvis dann in einer privaten Krabbelgruppe unter, die bis siebzehn Uhr geöffnet hatte. Ein Jahr später kam er in den Kindergarten, auch wieder ein privater wegen der langen Öffnungszeiten, sie kam selten vor vier aus dem Büro. Und dass David Elvis abholte, war ja unter seiner Würde. Was er so natürlich nicht sagte, er verwies immer auf die Arbeit,

«Selbständig zu arbeiten heisst, selbst und ständig, Existenzgründung ist nun mal kein Nine-to-five- Job, Sina», blabla. Immerhin hatte er genug Freizeit, Nicole zu vögeln. Ein Jahr später lebten sie schon in Scheidung. Am Anfang zahlte David keinen Unterhalt, weil er Insolvenz angemeldet hatte, also kam eine erneute Auszeit nicht mehr in Frage.

«Sina!»
Sie schreckt hoch, verliert um ein Haar die Balance und kann sich gerade noch an der Waschmaschine festhalten. Sie muss minutenlang in die Trommel gestarrt haben, in der sich Badehosen, T-Shirts und Strandtücher träge drehen.
«Stell dir vor, was passiert ist!»
Sie rappelt sich mühsam hoch, sie kommt sich vor wie eine alte Frau. «Was?»
«Der Typ von Reiling hat mich noch mal eingeladen.»
«Der, bei dem du am Tag vor unserem Abflug warst?»
«Genau. Ich soll morgen noch mal vorbeikommen, um drei.»
«Was kann der wollen?»
«Ein schlechtes Zeichen ist es jedenfalls nicht, wenn er mich noch mal sehen will. Vielleicht nehmen sie mich in die engere Wahl für den Job.»
«Hört sich vielversprechend an.»

Sie will ihm auf keinen Fall die Hoffnung nehmen. Wann ist es zum letzten Mal passiert, dass er ernsthaft für eine Stelle in Betracht gezogen wurde? Seit sie ihn kennt, jedenfalls nicht. Sie bringt Elvis ins Bett, der kaum noch die Augen offen halten kann, sie schenkt ihm ausnahmsweise das Zähneputzen.

«Es war ein schöner Urlaub, oder?», fragt sie, als sie ihn zudeckt.
«Hm.« Er schiebt die Decke, die sie über seine Schultern gezogen hat, wieder weg, es ist immer noch fast so heiss wie auf Lanzarote.
«Was hat dir am besten gefallen?»
«Der Strand», sagt er und schliesst schon die Augen. «Wie wir die Burg gebaut haben, Torsten und ich.»
«Ja, die war toll», sagt sie. «Ich ärger mich, dass ich sie nicht fotografiert habe.»
«Aber das Allerbeste», jetzt schlägt er die Augen wieder auf, «war Pedro.»

Pedro war ein räudiger Strandhund, offenbar herrenlos. Jeden Tag lief er am Wasser entlang, auf der Suche nach Leckerbissen, die ihm die Touristen zuwarfen. Elvis war verrückt nach ihm, von seinem Taschengeld hatte er im Supermarkt extra Wiener für ihn gekauft, aber Pedro hatte zwar gierig die Wurst aus Elvis’ Hand geschnappt, sich aber dann sofort wieder getrollt, nicht mal streicheln liess er sich.

«Hunde sind so toll», sagt Elvis. Den Blick, mit dem er sie jetzt ansieht, kennt sie schon lange. Jedes Mal tut es ihr weh, dass sie ihn enttäuschen muss.
«Ja, das sind sie. Aber du weisst, wir können keinen haben. Meine blöde Allergie.»
«Ich weiss. Sonst musst du immer husten und kannst nicht gut atmen.»
«Genau. Gute Nacht, mein Schatz.»

Sie beugt sich über ihn und küsst ihn, seine Wange ist ein bisschen klebrig und riecht nach Staub und dem Zitroneneis, das sie ihm vorhin beim Bäcker gekauft hat.

Im Wohnzimmer sitzt Torsten mit dem Laptop auf den Knien und studiert noch einmal die Website von Reiling, er bereitet sich auf jeden Vorstellungstermin akribisch vor. Sina setzt sich neben ihn und öffnet im Handy ihre Kontakte. Sie muss für die letzten beiden Ferienwochen eine Betreuung finden! Wie hiess noch mal diese Agentur, bei der sie eine Nanny für vier Tage der Osterferien engagiert hatte? Als David einen super wichtigen Prozess vorbereiten musste? Sie hatte ihm die Rechnung kommentarlos geschickt, und da sie nichts mehr von der Agentur gehört hat, hat er wohl auch gezahlt.

Torsten hebt den Blick vom Bildschirm. «Was ist mit seinen Freunden? Ist von denen keiner im Lande? Vielleicht könnte er ja dahin, wenigstens ein paar Tage.»
«Lukas und seine Familie sind grade erst letzte Woche weg.» Andere Freunde von Elvis fallen ihr spontan nicht ein, im Hort gibt es offenbar einen Florian, den er nett findet, von dem redet er manchmal, aber er war noch nie zum Spielen eingeladen oder zum Geburtstag. Ist es normal, dass ein Achtjähriger kaum Freunde hat?
«Dann verschieb ich Dresden eben doch. Meine Eltern werden es schon verstehen. Und dass die zwei Vorstellungstermine was bringen, glaub ich sowieso nicht.»
«Probieren solltest du es trotzdem. Ich finde schon eine Lösung. Aber danke.»

Sie legt kurz ihre Hand auf seine, ehe sie weiter durch ihre Kontakte scrollt. Allein ihr Problem mit ihm teilen zu können hilft ihr schon ein bisschen, David hat ihr in solchen Situationen nicht mal richtig zugehört.
«Ich weiss gar nicht, wie andere Leute das machen», sagt er, «wer kann sich denn sieben Wochen lang Urlaub nehmen? Ohne Feriencamps oder die Hilfe von Freunden oder Grosseltern funktioniert das doch überhaupt nicht.»

Sie hebt den Blick vom Handy, sieht Torsten an. Ellen. Klar. Wieso hat sie an die noch nicht gedacht? Die ist ganz sicher da, sie fährt höchstens im Herbst mal ein paar Tage weg, hat sie gesagt, als Sina sie das letzte Mal getroffen hat. Und dass sie gerade während der Sommerferien die Stadt am liebsten mag, weil es dann so schön ruhig ist.

«Du bist genial.»
«Bin ich? Wieso das jetzt?»
Aber Sina hat schon den Kontakt aufgerufen und tippt auf die Nummer. «Drück mir die Daumen. Ich brauch jetzt dringend ein Erfolgserlebnis.»

Was bisher geschah:
Kapitel 1

Martina Borger

Wurde 1956 geboren und arbeitete als Journalistin, Dramaturgin und Filmkritikerin, bevor sie sich aufs Drehbuchschreiben verlegte. Sie hat bei mehreren Serien als Storylinerin und Chef-Autorin gearbeitet. Gemeinsam mit Maria Elisabeth Straub veröffentlichte sie 2001 ihren ersten Roman «Katzenzungen», dem «Kleine Schwester» (2002), «Im Gehege» (2004) und «Sommer mit Emma» (2009) folgten. Ohne Co-Autorin erschien 2007 ihr Roman «Lieber Luca». Martina Borger lebt in München.


Martina Borger, «Wir holen alles nach», Roman, Diogenes

Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2020 Diogenes Verlag AG, Zürich, www.diogenes.ch
120 / 20 / 44 / 1; ISBN 978 3 257 07130 6

Beitrag vom 23.07.2020
Das könnte sie auch interessieren

Fortsetzungsroman

62. Professor Burckhardt und die germanische Kultur

In «Staatsmann im Sturm» zeichnet Hanspeter Born ein anderes Bild des umstrittenen Bundespräsidenten Marcel Pilet-Golaz, der die Schweiz 1940 unbeschadet durch die stürmischen Monate des zweiten Weltkriegs steuerte. Kapitel 62: Professor Burckhardt und die germanische Kultur.

Fortsetzungsroman

61. Gestörte Ferien

In «Staatsmann im Sturm» zeichnet Hanspeter Born ein anderes Bild des umstrittenen Bundespräsidenten Marcel Pilet-Golaz, der die Schweiz 1940 unbeschadet durch die stürmischen Monate des zweiten Weltkriegs steuerte. Kapitel 61: Gestörte Ferien.

Fortsetzungsroman

60. Grimm

In «Staatsmann im Sturm» zeichnet Hanspeter Born ein anderes Bild des umstrittenen Bundespräsidenten Marcel Pilet-Golaz, der die Schweiz 1940 unbeschadet durch die stürmischen Monate des zweiten Weltkriegs steuerte. Kapitel 60: Grimm.

Fortsetzungsroman

59. Blaupause für die «neue» Schweiz

In «Staatsmann im Sturm» zeichnet Hanspeter Born ein anderes Bild des umstrittenen Bundespräsidenten Marcel Pilet-Golaz, der die Schweiz 1940 unbeschadet durch die stürmischen Monate des zweiten Weltkriegs steuerte. Kapitel 59: Blaupause für die «neue» Schweiz.