Albert Mülli mit seinen Häftlingskleidern im Jahr 1995. © Beatrice Lang/ SonntagsZeitung/ Tamedia. Bild aus: Die Schweizer KZ-Häftlinge. 2019 © by NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel

Vergessene Opfer: Die Schweizer KZ-Häftlinge

Zum 75. Mal jährt sich 2020 die Befreiung der Konzentrationslager am Ende des Zweiten Weltkrieges. Unter den Millionen von Inhaftierten waren auch mehrere Hundert Schweizerinnen und Schweizer. Ein neues Buch erzählt ihre vergessene Geschichte.

Text: Annegret Honegger

17 Jahre alt war René Pilloud, als er am Morgen des 6. Februar 1944 im französischen Bellegarde mit vier Freunden ins Auto stieg, um zu den Meisterschaften im Geländelauf ins rund 75 Kilometer entfernte Bourg-en-Bresse zu fahren. René Pilloud, geboren in Fribourg und als Kind mit seinen Eltern nach Frankreich ausgewandert, war Werkzeugmacher-Lehrling und wie seine Kollegen Mitglied im lokalen Sportverein. Mit Politik habe er nichts am Hut, sagte er später aus. «Später» heisst am 26. November 1945, als er, auf 39 Kilo abgemagert, nach 15 Monaten im Konzentrationslager Mauthausen einem Beamten des Eidgenössischen Politischen Departements berichtete, was an jenem fatalen Tag passierte: Eine Gruppe deutscher Soldaten verhaftete die jungen Männer als angebliche Mitglieder der Résistance. Sie wurden verhört, gefoltert und schliesslich ins KZ deportiert.

Dieses und zahlreiche weitere Schicksale dokumentiert das kürzlich erschienene Buch «Die Schweizer KZ-Häftlinge». Der Untertitel «Vergessene Opfer des Dritten Reiches» macht deutlich, dass es um ein bislang kaum bekanntes Kapitel Schweizer Geschichte geht. Auch 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wissen die wenigsten, dass unter den Millionen, die in deutschen Konzentrationslagern gefangen gehalten und getötet wurden, auch Schweizer Frauen, Männer und Jugendliche waren. Bis heute fehlt in der Schweiz eine offizielle Erinnerungsstätte.

Erste Liste mit Schweizer KZ-Opfern

Die Autoren Balz Spörri, René Staubli und Benno Tuchschmid haben in mehrjähriger Forschungsarbeit erstmals eine Liste von Namen zusammengetragen und publiziert. 391 Menschen – 279 Männer und 112 Frauen – welche im KZ inhaftiert waren, verfügten bei ihrer Verhaftung oder vorher über die Schweizer Staatsbürgerschaft. Festgenommen wurden sie in Deutschland oder in den von Deutschland besetzten Gebieten – vor allem in Frankreich, wohin traditionell viele Schweizer auf der Suche nach Arbeit ausgewandert waren und wo auch viele Schweizer Juden lebten. Unter den Verhafteten waren ein Viertel Menschen jüdischen Glaubens. Den übrigen wurde regimefeindliches Verhalten, Beihilfe zur Flucht, Beziehungen zum Widerstand oder Spionage vorgeworfen. 201 Schweizer KZ-Häftlinge überlebten die Torturen nicht.

Eine zweite Liste umfasst jene 328 KZ-Opfer, die in der Schweiz geboren und teilweise aufgewachsen waren, die Schweizer Staatsbürgerschaft jedoch nie besassen. Beinahe die Hälfte waren Jüdinnen und Juden. 255 Menschen auf dieser Liste starben.

Zehn Porträts und Schicksale

Zehn Porträts, die auch aufgrund von Gesprächen mit Nachkommen entstanden, lassen ihre Geschichte wieder lebendig werden. Sie zeigen, dass Verhaftung und Deportation im Prinzip jeden und jede treffen konnten. Neben René Pilloud war da etwa Karl Fankhauser, der 1943 in der Nähe von Stuttgart verhaftet wurde, weil er Radio Beromünster hörte. Die junge Jüdin Marcelle Giudici-Foks verpasste die Ausreise im Schweizer Evakuationszug, weil sie hochschwanger war. Die Bauernfamilie Abegg unterstützte österreichische Partisanen. Der Tessiner Maler Gino Pezzani wurde an seinem Wohnort in Südfrankreich wegen Spionageverdachts von der Gestapo verhaftet. Der siebenfachen Mutter Anna Böhringer-Bürgi verweigerten die Schweizer Behörden die Wiedereinreise in die rettende Heimat wegen «liederlichen Lebenswandels». Der Zürcher Sozialdemokrat Albert Mülli schmuggelte kommunistische Flugblätter nach Wien. Und Emma Kübler-Schlotterer, Zeugin Jehovas aus Basel, hielt in Deutschland unerschütterlich an ihrem Glauben fest.

Lea Berr wurde von den Nationalsozialisten mit ihrem knapp zweijährigen Sohn Alain am 13. April 1944 aus Frankreich deportiert. Ermordet in Auschwitz
Lea Berr wurde von den Nationalsozialisten mit ihrem knapp zweijährigen Sohn Alain am 13. April 1944 aus Frankreich deportiert. Ermordet in Auschwitz. © findagrave.com. Bild aus: Die Schweizer KZ-Häftlinge. 2019 © by NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel

Hat die Schweiz damals versagt?

Neben individuellen Schicksalen umreissen die Autoren auch die historische Entwicklung der Konzentrationslager von Arbeits- und Umerziehungslagern zu eigentlichen Tötungsanstalten. Sie schildern die Verhaftungen und Deportationen von Schweizer Bürgerinnen und Bürgern ebenso wie die Reaktionen der Schweizer Behörden darauf.

Das Buch stellt wichtige Fragen, die uns bis heute beschäftigen. Über welchen Spielraum in den Verhandlungen um die Gefangenen verfügten die damaligen Akteure? Hätte ein mutigeres Vorgehen etwas gebracht – oder Vergeltungsmassnahmen provoziert bis hin zum befürchteten deutschen Angriff? Warum tat sich die Schweiz so schwer mit der Entschädigung der Betroffenen nach dem Krieg?

Einladung zur vertieften Aufarbeitung

Das Fazit der drei Autoren nach vierjähriger Recherche ist deutlich: «Die Schweiz hätte viel mehr für die KZ-Häftlinge tun können, als sie es effektiv tat. Doch sie unterliess es. Aus Angst, das NS-Regime zu verärgern. Und aus mangelndem Interesse an den Opfern.»

Die Autoren verstehen ihre Arbeit und die beiden Listen, welche die erste Aufstellung von Schweizer Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung darstellen, als Einladung zur weiteren Aufarbeitung dieses Themas und als Memorial. Als Erinnerung an jene Menschen, die im KZ einfach Nummern und im Schweizerischen Bundesarchiv bloss Entschädigungsfälle waren. Das Buch ist auch für Laien leicht verständlich geschrieben. Leicht verdaulich ist diese Lektüre allerdings nicht.

Balz Spörri, René Staubli, Benno Tuschschmid: «Die Schweizer KZ-Häftlinge. Vergessene Opfer des Dritten Reiches». Verlag NZZ Libro, Basel 2019, 320 Seiten, ca. CHF 48.–.

Beitrag vom 19.02.2020
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