Scheidung im Jahr 1874
Elisabeth Rey Oehen war eine der ersten katholischen Frauen der Schweiz, die sich zivilrechtlich scheiden liess. Ihr Ururenkel Stephan Rey hat die Umstände recherchiert – und seiner Vorfahrin ein Buch gewidmet.
Interview: Claudia Senn
Stephan Rey, wie sind Sie der aussergewöhnlichen Geschichte Ihrer Ururgrossmutter auf die Spur gekommen?
Vor 25 Jahren zeichnete ein Ahnenforscher einen Stammbaum unserer Familie, der bis ins 16. Jahrhundert zurückreichte. Es war ein riesiges Dokument mit unzähligen Namen darauf. Ich stiess auf meine Ururgrossmutter, Elisabeth Helene Rey Oehen, geboren am 13. Januar 1818, Todeszeitpunkt unbekannt. Neben ihrem Namen und demjenigen ihres Ehemannes Johann Leonz Rey fand ich den Vermerk: gerichtlich geschieden. Das hat mich gleich elektrisiert!
Warum?
Weil eine Scheidung vor knapp 150 Jahren noch alles andere als gewöhnlich war. Erst recht im erzkatholischen Freiamt. Ich bin dort aufgewachsen. Ich habe selbst erlebt, welche Macht die Kirche noch in den 1970er-Jahren über die Menschen hatte. Das Frauenstimmrecht kam erst hundert Jahre nach Elisabeth Reys Scheidung. Zu ihren Lebzeiten konnten Männer ihre Frauen noch schlagen und misshandeln, ohne gerichtlich belangt zu werden. Trotzdem schaffte sie es offenbar, ihrer unglücklichen Ehe zu entfliehen – im Jahr 1874, nur fünf Wochen, nachdem die neue Bundesverfassung der Schweiz die Scheidung auch für Katholiken erlaubt hatte. Wahrscheinlich war sie sogar eine der allerersten, die von diesem Recht Gebrauch machte. Dazu wollte ich unbedingt mehr wissen.
Wie sind Sie auf Ihrer Spurensuche vorgegangen?
Ich besorgte mir die Gerichtsunterlagen im Staatsarchiv des Kantons Aargau und recherchierte auch in anderen Archiven. So erfuhr ich, dass es tatsächlich Elisabeth war, die die Scheidung eingereicht hatte und nicht etwa ihr Ehemann. Vor Gericht erzählte sie von regelmässigen Misshandlungen. Eines Nachts habe ihr Ehemann sie aus dem Bett geprügelt, sodass sie schreiend auf die Strasse gerannt sei. Auch die Kinder aus der ersten Ehe ihres Mannes hätten Elisabeth massiv geschlagen und gequält, etwa ihr «Essen verunstaltet». Vielleicht haben sie ihr Würmer oder Hühnerkot in den Teller gemischt. Der Jüngste bezeichnete die Schläge vor Gericht als harmloses «Gauklerspiel».
Was sagte der Ehemann zu Elisabeths Vorwürfen?
Es stand Aussage gegen Aussage. Er behauptete, sie habe herumgelungert, ihre Pflichten vernachlässigt und sei ein «Allerleutschwiib», eine Herumtreiberin. Offenbar hat er sogar ein Zeitungsinserat geschaltet, um sie zu verunglimpfen. Das war damals gang und gäbe: dass man andere Menschen in den Medien an den Pranger stellte oder Gerüchte über sie streute. Doch letztlich führte es dazu, dass ihr das Gericht eher glaubte als ihm. Am Ende musste der Ehemann auch noch die Prozesskosten zahlen.
Konnten Sie die alten Dokumente überhaupt lesen?
Nein, sie waren in deutscher Kurrentschrift verfasst. Eine Historikerin musste sie mir erst übersetzen. Die Archivare haben mir viele wertvolle Tipps für die Recherche gegeben. So erfuhr ich, dass Elisabeth Rey Unterstützer hatte, ohne deren Support ihr vor Gericht wohl kein Erfolg beschieden gewesen wäre: etwa ihr Anwalt Fidel Villiger aus dem reformierten Lenzburg, dessen Frau Gertrud die Gründerin und erste Präsidentin des Schweizerischen gemeinnützigen Frauenbundes war – also eine der ersten Feministinnen des Landes. Wie ihr Mann war auch sie selbst aus der katholischen Kirche ausgetreten. Gertrud Villigers Vater war der Stände- und Regierungsrat August Keller, der sich für die Gleichberechtigung der Juden einsetzte. Es waren profilierte Kritiker der katholischen Kirche, die Elisabeth zur Seite standen. Leider habe ich nicht herausgefunden, wie sie zu diesen elitären Kreisen Zugang fand.
Können Sie noch etwas mehr über die Zeiten sagen, in denen Ihre Ururgrossmutter lebte?
Es gab noch keinen Strom und statt Strassen bloss Wege. Das erste Telefon wurde erst 1889 in einem St. Moritzer Nobelhotel installiert. Es waren die Zeiten des Sonderbundkrieges, eines Bürgerkriegs zwischen den konservativen katholischen und den liberaleren reformierten Kantonen. Armut war in der Bevölkerung weit verbreitet. Viele starben früh an Infektionen, gegen die es noch kaum wirksame Medikamente gab. Bereits erfunden war jedoch die Pockenimpfung. Interessant fand ich, dass die Menschen auf dem Land damals mit ähnlich irrationalen Ängsten auf die Impfung reagierten wie später bei Corona. Manche befürchteten sogar, sie könnten sich in Kühe verwandeln, weil für den Impfstoff Kuhpocken-Viren verwendet wurden.
Welche Teile Ihres Buches beruhen auf Tatsachen, und was haben Sie dazuerfunden?
Die historischen Eckdaten stimmen alle. Auch die Dokumente, die die Scheidung betreffen, konnte ich einsehen. Doch die persönlichen Details des dreijährigen Rosenkriegs zwischen Elisabeth und ihrem Mann Johann habe ich natürlich erfunden. Es gibt ja keine Zeitzeugen mehr, die mir erzählen könnten, wie es wirklich war.
Sind Sie stolz auf Ihre pionierhafte Ururgrossmutter?
Auf jeden Fall. Sie war eine starke Frau, die den Mut hatte, einen ungewöhnlichen Weg zu gehen. Bis es Nachahmerinnen gab, sollte es aber noch eine ganze Weile dauern. Elisabeth war ihrer Zeit weit voraus.
Was ist nach der Scheidung aus ihr geworden?
Das wüsste ich nur zu gerne, doch leider ist es nicht dokumentiert. Nicht einmal ihr Todesdatum konnte ich herausfinden, anders als dasjenige ihres Ex-Mannes, der schon kurze Zeit nach der Scheidung starb. Einzig, dass Elisabeth zu ihrer Schwester zog, ist bekannt. Ich hoffe, ihr waren noch viele gute Jahre vergönnt.
Stephan Rey: Die Geschichte der Elisabeth Rey Oehen – Eine katholische Scheidung 1874. Verlag Bookmundo Direct 2022. 184 Seiten. Preis bei Ex Libris: ca. 22.30 Franken.