Der lange Weg zur Gleichstellung
Seit 1971 sind Schweizerinnen stimm- und wahlberechtigt. Brigitte Durrer, Barbara Weinmann und Sarah Lengyel, drei Frauen aus drei Generationen, diskutieren über alte Denkmuster, positive Veränderungen und ihre Rolle in der Gesellschaft.
Text: Usch Vollenwyder; Fotos: Pia Neuenschwander
1848: Die Schweizer Kantone schliessen sich zum Bundesstaat zusammen. Die neue Verfassung garantiert dem Schweizervolk das allgemeine Stimm- und Wahlrecht. Artikel 4 betont die Gleichheit der Bürger: «Alle Schweizer sind vor dem Gesetz gleich. Es gibt in der Schweiz keine Untertanenverhältnisse, keine Vorrechte des Orts, der Geburt, der Familien oder Personen.» Im neu erbauten Bundeshaus regiert für die nächsten 120 Jahre ein einig Volk von Männern.
1971: Über 65 Prozent der Männer stimmen an der Urne fürs Frauenstimmrecht. Damit führt die Schweiz als eines der letzten Länder weltweit – nach den Cook-Inseln im Pazifik 1893, Deutschland 1950, Eritrea 1955 oder Iran 1963 – das allgemeine Stimm- und Wahlrecht für Frauen ein. Zehn Nationalrätinnen und die Genfer Ständerätin Lise Girardin werden ins Bundesparlament gewählt. Noch zwanzig Jahre dauert es, bis nach einem Bundesgerichtsentscheid auch der Kanton Appenzell Innerrhoden seinen Frauen das Stimm- und Wahlrecht gewähren muss.
Die Zeitlupe lädt drei Frauen aus drei Generationen zu einem Gespräch über «50 Jahre Frauenstimm- und -wahlrecht» ein. Sie treffen sich im Landgasthof Alpenblick im Weiler Ferenberg oberhalb von Bern. Der Blick fällt hinunter auf die Bundeshauptstadt, wo seit fünf Jahrzehnten Frauen die politischen Geschicke des Landes mitlenken. Im Säli serviert die Wirtin Zwetschgenkuchen und bringt dazu einen Kaffee. Brigitte Durrer (73), Barbara Weinmann (52) und Sarah Lengyel (24) kennen sich nicht, doch die Zeichnungslehrerin und Erwachsenenbildnerin, die Lehrerin und Mutter zweier Teenager sowie die Soziologiestudentin verstehen sich sofort. Sie sind sich einig: Es hat sich viel getan in den letzten fünfzig Jahren!
Brigitte Durrer: Heutige Frauen haben grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten wie Männer. Das finde ich grossartig.
Barbara Weinmann: Männer, die nach Feierabend auf dem Sofa sitzen und die Füsse auf dem Tisch ausstrecken, sind eine aussterbende Gattung. Männer kochen, helfen im Haushalt und beschäftigen sich mit den Kindern. Sie bringen nicht mehr einfach nur das Geld nach Hause.
Sarah Lengyel: Ich finde es positiv, dass Frauen- und Männeranliegen nach wie vor diskutiert werden – auch wenn sich die Themen verändert haben. So bleibt man gezwungen, gewisse Denkmuster immer wieder zu hinterfragen.
Brigitte: Ich erinnere mich an einen Kurs, den ich als Erwachsenenbildnerin in einer Firma gab – der Arbeitgeberin meines damaligen Mannes. Ich wurde nett und freundlich vorgestellt, aber nicht primär als Brigitte Durrer, sondern als Frau von Herrn Durrer. Eigentlich unglaublich.
Sarah: Führungsfunktionen, Chefposten oder auch die Professorenstellen an meiner Uni sind vorwiegend von Männern besetzt. Von klein auf bekommt man dieses Bild mit. Das prägt. Wer sich nicht mit seiner eigenen Rolle auseinandersetzt, gewöhnt sich daran. Ein Beispiel ist die Sprache: Wird nur die männliche Form benutzt, sind viele der Meinung, die Frauen seien auch angesprochen. Wird hingegen die weibliche Form verwendet, sind nur die Frauen gemeint. Das ist doch unlogisch!
Brigitte: Sich der eigenen Rolle bewusst werden – das dünkt mich ein wichtiges Stichwort. Als ich damals als «Frau von Herrn Durrer» vorge- stellt wurde, konnte ich noch nicht für mich einstehen. Das musste ich erst lernen.
Barbara: Heute ist der Gedanke an weniger traditionelle Partnerschafts- und Familienmodelle nicht mehr fremd, aber im Alltag fällt die Umsetzung schwer. Ein Beispiel: Eine meiner Freundinnen hat wegen ihres Kindes einen anspruchsvollen Verwaltungsposten aufgegeben, obwohl sie gerne arbeiten und auch mehr verdienen würde als ihr Mann.
Sarah: Wenn ein Elternpaar die Kinder nicht fremdbetreuen will, reduziert automatisch die Frau ihr Arbeitspensum – das ist bis heute so. Dabei sollte sich doch der Mann angesprochen fühlen und ebenfalls Betreuungsarbeit übernehmen. Doch diese Option wird vielfach von Beginn weg ausgeschlossen. Und wenn der Vater schliesslich einen Papi-Tag einschaltet, wird er dafür bewundert. Auch an mir selber fällt mir auf, dass ich auf einen Vater mit einem Baby anders reagiere als auf eine Mutter mit Kind.
Barbara: Es wird immer noch als besondere Leistung betrachtet, wenn der Mann regelmässig zu Haushalt und Kindererziehung beiträgt. Als meine Kinder acht und zehn Jahre alt waren, begann ich mit einer Zusatzausbildung. Und hörte wieder auf, als ich realisierte, wie viel Zeit mir dadurch auf Kosten der Kinder verloren ging. Ich kenne nicht viele Väter, die ebenso gehandelt hätten.
«Dass mein Mann sein Pensum reduziert hätte, war für uns beide kein Thema und wäre völlig unüblich gewesen»
Brigitte Durrer
Brigitte: Vielleicht hat das doch mehr mit biologischen Tatsachen zu tun, als wir meinen. Wir tragen ein Kind neun Monate aus und bringen es zur Welt, wahrscheinlich entsteht dadurch eine andere Bindung. Vor der Geburt unseres Sohnes kündigte ich ganz selbstverständlich meinen Job an der Schule. Später hatte ich das grosse Glück, dass meine kinderlosen Nachbarn unseren Sohn mit Freude hüteten und ich während der Aus- bildung zur Erwachsenenbildnerin und auch danach unterwegs sein konnte. Dass mein Mann sein Pensum reduziert hätte, war für uns beide kein Thema und wäre völlig unüblich gewesen.
1981: Die Gleichstellung von Mann und Frau wird in der Bundesverfassung verankert. Doch erst das neue Eherecht sieben Jahre später entthront den Mann als Oberhaupt der Familie und setzt der Institution Ehe als
Hort der Ungleichstellung ein Ende. Gestrichen werden die Vorschriften, wonach der Mann die eheliche Wohnung bestimmt und «für den Unterhalt von Weib und Kind in gebührender Weise zu sorgen hat». Weg ist der Satz «Sie führt den Haushalt». Die Frau kann nun auch ohne Bewilligung des Ehemannes berufstätig sein. Das neue Eherecht setzt auf gleichberechtigte Partnerschaft sowie die gemeinsame Verantwortung für die Kinder und den Familienunterhalt.
Barbara: Mein Vater war ein offener Mann, er kochte zuweilen und hütete auch uns Kinder. Trotzdem war es für ihn undenkbar, dass seine Frau arbeiten würde. Heute habe ich kaum noch eine Freundin oder Bekannte, die nicht wenigstens Teilzeit ausserhalb ihrer vier Wände arbeitet.
Brigitte: Ich musste kämpfen, dass ich die Kunstgewerbeschule besuchen durfte – das war damals noch längst nicht selbstverständlich! Meine Mutter wäre gerne Musikerin geworden, doch in den damaligen bürgerlichen Strukturen war das schlicht undenkbar! Eine Cousine meiner Mutter, eine blitzgescheite Frau, wollte Ärztin werden. Unmöglich! Sie durfte in der Praxis ihres Vaters helfen. An der Beerdigung meiner Mutter sagte sie zu mir: «Wir waren Kinder einer Gesellschaft, die es nicht zugelassen hat, dass man sich aus ihrem Rahmen hinausmanövrierte.»
Sarah: Für mich ist das ganz und gar unvorstellbar. Ich habe nie erlebt oder von meinen Eltern gehört, dass ich als Mädchen etwas nicht machen könne oder dürfe. Ich fühle mich in der Gestaltung meines Lebens frei und unabhängig.
Barbara: Emanzipation bedeutet für mich, dass man in einer Partnerschaft aushandelt, wer was macht. Beide sollen das tun können, was ihnen lieber ist und was sie besser können. Ich frage mich aber schon, warum ich eher den Staubsauger in die Hand nehme und mein Mann immer die Winterpneus montiert. Sind wir Frauen so veranlagt? Gebe ich eine bestimmte Haltung unbewusst weiter? Ich versuche, Sohn und Tochter gleiche Aufgaben zu geben. Trotzdem behauptet mein fünfzehnjähriger Sohn, er habe erst einmal in seinem Leben den Badezimmerboden geputzt, während seine um zwei Jahre jüngere Schwester das schon öfter gemacht hat. In der Schule besuchen mit seltenen Ausnahmen Mädchen den Handarbeits- und Knaben den Werkunterricht – obwohl sie frei wählen könnten. Das kann doch nicht nur am Interesse liegen, da muss mehr dahinterstecken!
Sarah: Das glaube ich auch. Selbst bei Gleichaltrigen sehe ich häufig, dass Frauen deutlich mehr Hausarbeit übernehmen als Männer. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie sich bewusst dafür entschieden haben. Da müssen tief versteckt immer noch Strukturen vorherrschen, in die Frauen bis heute einfach hineinrutschen. Dem muss man sich meiner Meinung nach entgegenstellen, sonst geht es immer so weiter. In einer Partnerschaft gilt es, sich immer wieder zu hinterfragen: Haben wir diese Aufgabenteilung, weil wir sie so besprochen haben? Oder hat es sich einfach so ergeben?
Bei fremden Komplimenten schweigt man manchmal lieber, weil man nicht in ein Streitgespräch verwickelt werden möchte.»
Sarah Lengyel
Brigitte: Das bedingt aber, dass Frauen ihre Anliegen ausdrücken, für ihre Interessen einstehen und überhaupt Position beziehen können! Meine Generation musste das zuerst lernen. Frauen hatten nichts zu sagen, wenn sie sich nicht ganz sicher waren. Ich musste lernen, hinzustehen und mich zu profilieren. Das war ein langer und schwieriger Prozess.
Sarah: Ich kenne niemanden, der mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht einverstanden ist. Und doch hapert es bei Kleinigkeiten. Fällt ein sexistischer Witz, wäge ich oft ab, ob ich etwas sagen soll oder nicht. Es ist anstrengend, etwas sagen zu müssen und die Spielverderberin zu sein. Bei fremden Komplimenten schweigt man manchmal lieber, weil man nicht in ein Streitgespräch verwickelt werden möchte. Grenzüberschreitende Sprüche höre ich von Männern und sehr selten von einer Frau. Wenn ich am Abend in den Ausgang gehe, achte ich darauf, dass mein Kleid nicht zu auffällig ist. Dabei sollte doch nicht ich mir Gedanken darüber machen, sondern die Männer müssten ihr Verhalten reflektieren.
Brigitte: Ich denke schon, dass Frauen immer noch zu oft als Sexualobjekt betrachtet und entsprechend angegangen werden. Diesem Frauenbild begegnet man jeden Tag in der Werbung. Man spielt mit ihrem Äusseren, mit ihrem Sexappeal.
Sarah: Gerade in Bezug auf Sexualität gibt es nach wie vor Ungleichheiten, auch wenn vielleicht auf einer subtileren Ebene. Aber es ist doch immer noch okay, wenn die Frau nicht zum Höhepunkt kommt, beim Mann hingegen ist das selbstverständlich. Oder bei der Verhütung: Frauen greifen mit Hilfe von Hormonen in ihren Zyklus ein, während Verhütungsmittel für Männer ein erst spärlich erforschtes Gebiet sind.
Brigitte: Fallen sexistische Sprüche oder wird eine Frau angemacht, setzen sich auch sensibilisierte, aufgeklärte Männer oft nicht für die Betroffenen ein. Das ist doch eine fragwürdige Haltung.
1996: Das Gleichstellungsgesetz tritt in Kraft. Es verbietet jegliche diskriminierende Handlung, darunter auch «jedes belästigende Verhalten sexueller Natur oder ein anderes Verhalten aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit, das die Würde von Männern und Frauen am Arbeitsplatz beeinträchtigt». Frauen und Männer haben das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit sowie auf gleiche Anstellungs- und Beförderungschancen.
Brigitte: Auf beruflicher Ebene habe ich keine Benachteiligungen erlebt. Ich hatte zudem einen Mann, der überhaupt kein Patriarch war und sich familiär sehr engagierte. Finanziell spannten wir zusammen und berieten auch gemeinsam die Investitionen. Eine grosse Benachteiligung erlebte ich in der katholischen Kirche, in der ich während Jahrzehnten erwachsenenbildnerisch tätig war und mich auch für die Sache der Frau einsetzte – mit vielen kirchlich engagierten Männern zusammen! Die Strukturen dieser Institution und oft der Geist dahinter sind jedoch dermassen verhärtet, dass sich kaum etwas bewegen lässt. Mittlerweile habe ich aufgegeben, obwohl sich vor Ort sehr vieles positiv verändert hat.
Barbara: Als Lehrerin bin ich in einem typischen Frauenberuf tätig und habe ebenfalls nie berufliche Nachteile erfahren. Als unser erstes Kind auf die Welt kam, wollte ich ganz zu Hause bleiben. Ich war mir sehr bewusst, dass ich damit ein traditionelles Frauenbild lebte. Mein Mann hätte sich auch ein anderes Familienmodell vorstellen können. Ich wurde selbstgewählt Hausfrau. Trotzdem hatte ich zu Beginn Mühe mit dieser Rolle: Jahrelang hatte ich grossartig erzählt, es komme doch nicht darauf an, von welcher Seite das Geld in die Familie einfliesse. Plötzlich sollte ich vom Geld meines Mannes für ihn ein Geburtstagsgeschenk kaufen … Ich konnte mich kaum überwinden.
«Welches Negativbild trage ich immer noch in mir? Ich hatte ein schlechtes Gewissen meinem eigenen Frauenbild gegenüber.»
Barbara Weinmann
Sarah: Das hat natürlich damit zu tun, dass Hausarbeit nach wie vor weder bezahlt noch wertgeschätzt wird. Zwar ist dein Mann froh, dass du den Haushalt machst. Aber eine Arbeit auswärts hat doch einen höheren Stellenwert als diejenige einer Hausfrau und Mutter.
Barbara: Das weiss ich selber alles auch. Trotzdem war dieses Gefühl da. Es zeigt, dass es noch viel mehr Zeit braucht, bis die rechtlichen Grundlagen in der Realität wirksam werden. Das Schlimmste war, dass ich mich fragen musste: Was habe ich denn selber für ein Bild von einer Hausfrau? Welches Negativbild trage ich immer noch in mir? Ich hatte ein schlechtes Gewissen meinem eigenen Frauenbild gegenüber.
Brigitte: Vielleicht braucht es einfach noch viel mehr Zeit und Geduld, bis alte Denkmuster und unbewusste Vorstellungen überwunden sind und Frauen und Männer in unserer Gesellschaft einen partnerschaftlichen und respektvollen Umgang miteinander gefunden haben.
2013: Mit dem neuen Namensrecht behalten Mann und Frau ihren Namen und ihr Bürgerrecht auch nach der Heirat bei. Sie können jedoch einen ihrer Ledignamen als gemeinsamen Familiennamen festlegen. Behalten die Ehepartner ihren jeweiligen Namen, bestimmen sie, welchen ihrer Ledignamen ihre Kinder tragen sollen. Doppelnamen fallen weg. Damit wird die Gleichstellung auch in Bezug auf das Namensrecht verwirklicht – nachdem während Jahrhunderten die Frau gleichzeitig mit dem Einzug in die Ehe ihren Namen abgelegt hatte.
Barbara: Ich habe meinen Namen behalten, und wir haben ihn zu unserem Familiennamen bestimmt. Zum einen habe ich vierzig Jahre lang so geheissen, zum anderen hiess bereits eine Schwägerin Barbara – ich wäre in der Familie meines Mannes die zweite mit dem gleichen Vor- und Nachnamen geworden. Für meinen Mann war das überhaupt kein Problem, meine Schwiegereltern jedoch mussten dafür sehr viel Verständnis aufbringen! Das zeigt, dass neue Formen für einen selber ganz selbstverständlich werden, aber dem Umfeld noch grosse Probleme bereiten können.
Brigitte: 1971 bekamen wir das Frauenstimm- und -wahlrecht, und erst 1996 trat das Gleichstellungsgesetz in Kraft. Dazwischen liegt ein Vierteljahrhundert! Seither ist noch einmal so viel Zeit vergangen, und wir sind immer noch nicht am Ziel. Der Weg zu einem ebenbürtigen Zusammenleben ist lang und steinig – aber es geht vorwärts.
Der Nachmittag ist schnell vergangen. Draussen ist es kühl geworden. Beim Parkplatz verabschieden sich die trotz der Jahrzehnte Altersunterschied gleich gesinnten Frauen: Sarah Lengyel kehrt in die Stadt in ihre Frauen-Wohngemeinschaft zurück, Barbara Weinmann fährt heim zu ihrer Familie aufs Land, Brigitte Durrer geht zurück ins Haus zu ihrem Partner, der auf ihre Unterstützung angewiesen ist. Sie haben intensiv diskutiert, nach Antworten gesucht und herzlich gelacht – und viel Frauensolidarität verspürt. ❋
Der steinige Weg zur Gleichberechtigung
2021 wird das Frauenstimm- und -wahlrecht in der Schweiz 50 Jahre alt. In diversen Publikationen, Spielen und Ausstellungen wird nachgezeichnet, welche gesellschaftlichen Hürden überwunden werden mussten, bis es soweit war. Im Netz findet man überdies alle Aktivitäten, die zum Jubiläum geplant sind.
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