«Die Hüttenkultur prägt Norwegen»
Die St. Gallerin Ursula Aasebø lebt seit 50 Jahren in Oslo. Die 77-Jährige erzählt, was den norwegischen Lebensstil ausmacht, und weshalb sie die Winter noch immer nicht mag.
Aufgezeichnet von Fabian Rottmeier
«Der Norden war Neuland für mich, damals, im Jahr 1970. Ich war 26 Jahre alt, abenteuerlustig und voller Tatendrang. Ich wäre überall hingereist. Die Konsequenzen des Wegzugs sind mir erst später klar geworden. Bereut habe ich es nie. Mein norwegischer Mann hatte sich nach Beendigung seines Studiums an der Hochschule St. Gallen eine Rückkehr in seine Heimat gewünscht – aus beruflichen Gründen. Sven und ich waren seit vier Jahren verheiratet und hatten bereits einen kleinen Sohn. Ein zweiter kam in Oslo zur Welt. Mein eigener Geburtstag fällt übrigens ausgerechnet auf den norwegischen Nationalfeiertag am 17. Mai.
«Norwegen bot mir die Chance, mich zu emanzipieren»
In Norwegen hatte ich gute Möglichkeiten, mich weiterzuentwickeln. In den Siebzigern war Norwegen ein Land, das Frauen die Chance bot, sich zu emanzipieren. Es war der Schweiz in Bereichen wie Kinderbetreuung und Teilzeitarbeit schon damals ein wenig voraus. Beides war akzeptiert und verbreitet. Ich hatte Freundinnen, die wieder zu arbeiten begannen, als ihre Kinder neun Monate alt waren. Das hätte ich mir als junge Mutter nicht vorstellen können.
In der Schweiz war ich als Sekretärin tätig gewesen, in Norwegen dann als Personalassistentin und später als Personalchefin. In meinen letzten acht Berufsjahren assistierte ich dem Schweizer Botschafter. Dort konnte ich sowohl meine schweizerische als auch meine norwegische Seite ausleben.
Die «Hytte» in der Natur, die viele Norweger besitzen und über alles lieben, nimmt eine besonders wichtige Rolle ein.
Norweger und Schweizer sind sich sehr ähnlich. Dieser Eindruck hat sich meiner Meinung nach mit dem Wohlstand, den sich Norwegen in den vergangenen Jahrzehnten erarbeiten konnte, noch verstärkt. Zu Beginn kam mir das Land noch ein wenig ärmer vor. Dies hat sich jedoch immer mehr angeglichen. Vielleicht sind Norweger ein wenig leichtfüssiger und lebensfreudiger unterwegs als Schweizer. In den Ferien geben sie das Geld gerne grosszügig aus. Ich lese auch Schweizer Zeitungen. Die Probleme, die dort aufgegriffen werden, sind dieselben wie hier. Die Liebe zur Natur ist in beiden Ländern sehr ausgeprägt.
Die «Hytte» in der Natur, die viele Norweger besitzen und über alles lieben, nimmt eine besonders wichtige Rolle ein. Die Hüttenkultur und der Langlaufsport machen den norwegischen Lebensstils aus. Die besondere Bedeutung der Hütten zeigte sich kürzlich, als es wegen des Coronavirus verboten war, diese über Ostern zu besuchen. Ostern ohne Hütte ist für Norwegerinnen und Norweger kaum vorstellbar. Viele hatten für den Entscheid der Behörden wenig Verständnis. Trotzdem haben sich die meisten daran gehalten.
Ursula Aasebøs Ferientipp
«Anstatt wie viele die zweifelsohne sehr schönen Lofoten zu bereisen, empfehle ich den Landesteil Sørlandet, also Südnorwegen. Wunderschöne Schären und malerische Orte prägen die Küstenlandschaft zwischen Arendal, Kristiansand und Stavanger [im Bild zu sehen, Anm. d. Red.].»
Mehr Infos zu Sørlandet: https://www.visitnorway.de/reiseziele/region-suden/
Mit dem skandinavischen Winter komme ich immer noch nicht ganz zurecht. Ich bin jemand, der sich gerne bewegt. Hier ist es im Winter fast immer dunkel, und die Fusswege sind eisig und gefährlich. Der Klimawandel sorgt vor allem Ende Winter dafür, dass der tagsüber geschmolzene Schnee zu Matsch und abends zu Eis wird. Nicht zuletzt deshalb habe ich mit Langlauf aufgehört, obwohl wir am Stadtrand unmittelbar an einer Loipe wohnen. Die kalten Winter mit Pulverschnee sind auch hier rar geworden. Diese Zeitspanne beschränkt sich meist auf zwei oder drei Wochen im Jahr. Normalerweise verbringen wir einen Grossteil der Wintermonate in unserem Häuschen in Spanien. Das war nun wegen der Corona-Pandemie nicht möglich. Es lebt sich dort etwas unbeschwerter und leichter und wir spielen viel Pétanque oder Golf.
Das Schwierigste am Auswandern ist, Eltern und Geschwister in seiner Heimat nur selten zu sehen. Damit muss man sich immer wieder versöhnen. Es ist ein Prozess, den man nicht verdrängen, sondern dem man positiv begegnen soll und mit dem man leben muss. Aber leicht ist es nicht. Ich lernte, besser damit klarzukommen, auch, weil ich hier meine eigene Familie habe – mittlerweile bin ich siebenfache Grossmutter. Als meine Eltern jedoch älter wurden und meine Mutter an Demenz erkrankte, plagte mich oft ein schlechtes Gewissen.
Ich bin schon seit rund 40 Jahren Mitglied im «Sveitserklubben», dem Osloer Schweizerklub (hier gehts zur Website). Der Vorstand ist mittlerweile geprägt von vielen Jungen, die das Ruder übernommen haben. Als Beisitzerin kann ich einen anderen Blickwinkel einbringen. Wir feiern den 1. August zusammen oder ein Herbstfest mit Fondue, an dem etwa 60 bis 80 Leute teilnehmen. Es gibt auch einen Stammtisch und seit 20 Jahren ein Chörli, das jedoch inzwischen altersbedingt nur noch aus Frauen besteht.»
Zeitlupe-Serie: Auslandschweizerinnen und -schweizer
Mehr als 10 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer leben im Ausland. Die Zeitlupe gibt ihnen in einer Artikel-Serie ein Gesicht. Lesen Sie hier weitere interessante Portraits.
- Haben Sie auch eine Weile im Ausland gelebt oder weilen Sie immer noch dort? Dann erzählen Sie uns im Kommentarfeld doch davon. Wir würden uns freuen.