Der Freier der Köchin Louis-Philippe I., König der Franzosen
Aus dem Buchband «Blaues Blut. Royale Geschichten aus der Schweiz» von Michael van Orsouw. Erschienen im Verlag Hier und Jetzt.
Vorwort von Beat Gugger und Bruno Meier
Es gibt die lustigen Beinamen von Monarchen wie «Karl der Kahle», «Heinrich der Zänker» oder «Friedrich der Gebissene». Dann gibt es aber auch Spitznamen, die einer Ehrung gleichkommen. Beispiele hierfür sind «Wilhelm der Eroberer», «Karl der Kühne» oder der «Bürgerkönig».
Betrachtet man die wenig gloriose Realität genauer, so muss es sich dabei um Schönfärberei handeln: «Wilhelm der Eroberer» regierte England gerade mal elf Jahre; «Karl der Kühne» war vielleicht kühn, doch verlor er sein Burgunderreich. Und der Mann mit dem Beinamen «Bürgerkönig»? Von ihm handelt diese Geschichte. Im Jahr 1830 bestieg er nach der Julirevolution Frankreichs Thron – sich «Bürgerkönig» zu nennen, war volksnah und sehr schlau.
Ebenso geschickt verhielt er sich Jahrzehnte zuvor in der Schweiz. Doch dazu müssen wir etwas ausholen.
Herzog Louis-Philippe von Orléans geht noch einen grossen Schritt weiter als Kaiser Joseph II. Denn der junge Franzose ist nicht nur den Ideen der Aufklärung zugetan wie der deutsch-römische Kaiser, er sympathisiert 1789 sogar mit der Französischen Revolution, trotz seiner adeligen Herkunft. Nun gut, er ist damals im jugendlichen Alter von 16 Jahren und politisch dermassen leidenschaftlich, dass er sich sogar den Beinamen «Egalité» gibt – übrigens wie sein Vater. Von da an geht es im karrieristischen Sauseschritt weiter: Mit 17 Jahren wird der junge Schwärmer Mitglied des Jakobinerklubs und tritt der Revolutionsarmee bei.
Schon 1792 – im Alter von 19 Jahren – ist Herzog Louis-Philippe bereits Offizier im Rang des Generalleutnants. In dieser Funktion erlebt er in kurzer Folge Hochs und Tiefs. Zuerst kämpft er unter General Charles-François Dumouriez und siegt in der Schlacht bei Jemappes gegen die Österreicher. Wenige Monate später ist er bei der katastrophalen Niederlage der Franzosen in der Schlacht bei Neerwinden mit dabei.
Flucht in die Schweiz
Dann spitzen sich die politischen Ereignisse zu. Louis-Philippe gerät mitten in die nachrevolutionären Wirren Frankreichs. Er beteiligt sich als Verschwörer an einem Putsch gegen den angeblichen Hochverräter General Dumouriez. Aber der Umsturzversuch misslingt, Louis-Philippe steht plötzlich auf der Seite der Verlierer. Der ambitionierte junge Mann muss so schnell als möglich fliehen, denn die neuen Machthaber kennen kein Pardon und setzen die Guillotine massenhaft gegen politische Gegner ein. Sie verhaften seinen Vater, seine Mutter und seine beiden Brüder.
Louis-Philippe wählt angesichts dieser Umstände die Schweiz als Fluchtziel. Inkognito reist er via Baden-Württemberg ein. Damit beginnt die Schweizer Reise des adeligen Herzogs von Orl¢ans, die hier besonders interessiert. Am 26. April 1793 kommt der junge Herzog in Schaffhausen an. Dort trifft er seine Schwester Adélaide von Orléans (1777–1847) und deren Erzieherin Gräfin Stéphanie-Félicité de Genlis (1746–1830); ein kleiner Teil der versprengten Familie findet so wieder zusammen. «Unbeschreiblich war meine Freude, mich in einem neutralen Lande zu befinden», schreibt die Gräfin.
Das prominente Trio ist in der Schweiz zwar ausser Lebensgefahr, aber es bleibt auf der Flucht. Louis-Philippe, seine Schwester Adélaide und Erzieherin de Genlis reisen am 6. Mai weiter nach Zürich. Sie wohnen im Gasthaus Zum Schwert, an einer der besten Adressen im damaligen Zürich (heute Weinplatz 10).
Gut zu wissen
- Wer: Louis-Philippe I., König von Frankreich. Geboren als Duc von Orléans.
- Wann: Geboren am 6. Oktober 1773 in Paris, gestorben am 26. August 1850 in Esher, im «Claremont House» von Queen Victoria in Grossbritannien.
- Was: Er war von 1830 bis 1848 «König der Franzosen» und nicht mehr «König von Frankreich» wie seine Vorgänger.
- Wie: Weil er sich bürgernah gab, nannte man ihn «Bürgerkönig». Er baute die Eisenbahnen, förderte die Wirtschaft, sodass seine Regentschaft als «Ära des «Enrichessez-vous» («Bereichert Euch») ironisiert wurde.
- Bezug zur Schweiz: In den Wirren nach der Französischen Revolution floh Louis- Philippe 1793 in die Schweiz. Nach Aufenthalten in Schaffhausen und Zürich lebte er rund zwei Jahre unter falschen Namen in Zug, Bremgarten, Reichenau und wieder in Bremgarten.
Zu dieser Zeit tummeln sich viele Franzosen in der Stadt, die nach der Revolution wie unser Herzog von Orléans ausser Landes fliehen mussten. Solche französischen Emigranten erkennen die damals prominenten Louis-Philippe und Adélaide von Orléans auf der Strasse. Einer streckt absichtlich seinen spitzigen Sporn in Richtung Herzogin und zerreisst damit einen Teil ihres Gazerocks. Zu Tode erschrocken, weil bei einem nächsten Mal nicht nur das Kleid kaputtgehen könnte, planen Louis-Philippe, Adélaide und die Gräfin sofort ihre Abreise. Sie fühlen sich in Zürich inmitten der vielen Landsleute nicht mehr sicher.
Der nächste Ort ihrer Flucht ist das Städtchen Zug, in dem sie am 14. Mai ankommen. Sie beziehen dort – in den Worten von Gräfin de Genlis – «ein kleines, einsam stehendes Haus am Seeufer, unweit der Stadt». Das ist etwas ungenau: Sie meint das herrschaftliche Haus Tschuopis am Abhang des Zugerbergs, ein paar hundert Meter vom Seeufer entfernt, doch immerhin mit Seeblick (später Blumenhof, heute Zugerbergstrasse 28b). Louis-Philippe, Adélaide und die Gräfin verbringen ihre Tage im erfreulich ruhigen Zuger Exil mit Spazieren und Kirchgängen, sie sprechen manchmal mit Bauern, denen sie gelegentlich ein Trinkgeld zustecken. Die Zugerinnen und Zuger nehmen die neuen Bewohner zwar wahr, halten die französischen Flüchtlinge jedoch irrtümlicherweise für eine Familie aus Irland.
Den adeligen Franzosen soll es recht sein, sie werden in Ruhe gelassen und bleiben unter sich. Nur der tatendurstige Louis-Philippe lässt es sich nicht nehmen, immer mal wieder im Hotel Ochsen am Kolinplatz zu dinieren oder sich dort abends einen «Schoppen» zu genehmigen. Doch auch in Zug verkehren andere Exilfranzosen. So dauert es nicht lange, bis Herzog Louis-Philippe erneut von einem Landsmann erkannt wird. Sogleich erfährt tout Zug, welch prominenter Besuch sich im Städtchen versteckt hält. Sogar deutsche Zeitungen erfahren davon und schreiben darüber.
Die Zuger Regierung fühlt sich angesichts des adeligen Besuchs unwohl, fürchtet sie doch gewalttätige Übergriffe. Der Zuger Ammann und ehemalige Söldner Franz Joseph Andermatt (1739–1795) ersucht Herzog Louis-Philippe, Herzogin Adélaide und die Gräfin de Genlis, sich doch bitte einen anderen Aufenthaltsort zu suchen. Die Franzosen nehmen die wohl allzu förmlich vorgetragene Bitte nicht sehr ernst und lassen sich immerhin 14 Tage Zeit, um dem Ansinnen nachzukommen.
Ein feiger Anschlag
Vor der Abreise aus Zug häufen sich die Probleme. Das Geld reicht nicht, um die aufgelaufenen Rechnungen zu bezahlen. Die Erzieherin Stéphanie-Félicité de Genlis muss aushelfen und ihr Erspartes einschiessen. Sie ist zwar eine Gräfin, doch sie ist verarmt und seit der französischen Revolution ohne Einkünfte. Nachdem diese Hürde genommen ist, wird es richtig bedrohlich: Am 26. Juni, abends um 22.15 Uhr, kommt ein faustgrosser Stein durch die Fensterscheibe des Haus Tschuopis geflogen! Er trifft zum Glück nur den Hut von Herzogin Adélaide. Kurz darauf werden nochmals mehrere Steine geworfen, einer mit einer solchen Wucht, dass er sogar eine Ofenplatte zerschmettert – Adélaide von Orléans hatte das Zimmer zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen und sich in Sicherheit gebracht.
Damit nicht genug: Am nächsten Morgen entdeckt man, dass zwei Pferdegeschirre, die Louis-Philippe gehören, in kleine Stücke zerschnitten wurden, «eine wahrhaft grässliche Bosheit», kommentiert die Gräfin. Sind es Streiche von Zuger Lausbuben? Die Hinterlist, die Grösse und Zahl der Steine deuten eher auf verfeindete Franzosen hin, die ihren Revolutionskampf hier in der Schweiz im Kleinen fortsetzen.
Wie auch immer: So kann es nicht weitergehen! Ein wohlgesinnter Franzose berichtet von General Anne-Pierre de Montesquiou-Fézensac (1739–1798), der ebenfalls in die Emigration fliehen musste und nun im nahen Bremgarten im heutigen Kanton Aargau lebe. Dieser ehemalige General erkennt die Not von Louis- Philippe und seinen Begleiterinnen. Er überlegt und bietet konkrete Lösungen an: Dem Prinzen gewährt er in seiner Wohnung an der Antonigasse 14 in Bremgarten Unterschlupf; Adélaide und die Gräfin kommen im Bremgartner Klarissenkloster unter. Die französischen Adeligen hoffen, nun in Sicherheit zu sein.
Doch auch im beschaulichen Städtchen Bremgarten an der Reuss wiederholt sich die Geschichte von Zürich und Zug: Herzog Louis-Philippe wird erkannt und ist sich in der Folge seines Lebens nicht mehr sicher. Deshalb erteilt der General dem Herzog den Rat, nach Reichenau im Bündnerland zu fliehen und sich dort zu verstecken. Der General erinnert sich an den Bündner Aloys Jost, der unter ihm in der republikanischen Armee diente und nun die Internatsschule im Schloss Reichenau leitet. Er wird für den fliehenden Herzog zur Anlaufstelle.
«Der König ist tot; lang lebe der König.»
Redewendung
Herzog Louis-Philippe, damals noch keine zwanzig Jahre alt, kann sich das Schloss Reichenau als Exilort vorstellen. Vorerst reist er Anfang Oktober von Bremgarten nach Luzern. Die Reise führt ihn weiter durchs Urnerland bis auf den Gotthardpass, dort sucht er ein Nachtlager. Die Wirtin will ihn eigentlich gar nicht beherbergen, weil französische Kriegsflüchtlinge damals aufgrund ihres Gewaltpotenzials in der Schweiz unbeliebt sind. Der Herzog muss eindringlich bitten, damit er endlich ein Strohlager in einer Scheune zugewiesen bekommt. Ermattet vom langen Marsch schläft Louis-Philippe tief. Doch am Morgen, als er die Augen aufschlägt, schaut er in den Lauf einer Flinte!
Schon wieder ein feindlich gesinnter Exilfranzose? Nein, es ist nur der Sohn der Wirtin, der mit dem Gewehr herumfuchtelt. Seine misstrauische Mutter hat ihn in den Stall geschickt: Falls der Herr nachts aufstehe und sie bestehlen wolle, solle er ihn einfach erschiessen. Den französischen Revolutionskriegen entflohen, erlebt der Herzog in der angeblich sicheren Schweiz nun das!
Die Reiseroute führt Louis-Philippe weiter nach Chur. Am frühen Morgen des 24. Oktober 1793 trifft er zu Fuss im Dorf Reichenau ein. Dort, wo Vorder- und Hinterrhein zusammenfliessen, steht das Schloss Reichenau der Familie von Tscharner, das zu dieser Zeit eine Internatsschule beherbergt.
Internatsleiter Aloys Jost, der aufgrund seiner geleisteten Solddienste französisch spricht, nimmt den angekündigten Gast in Empfang. Louis-Philippe bekommt ein düsteres Zimmer im Seitenflügel zugewiesen. Darin befinden damalige Zeit gar nicht selbstverständlich – ein grosser Ofen. Auf dem Bett liegt die damals übliche Strohmatratze, mit der sich der edle Gast allerdings nie richtig anfreunden kann. Mit dem Internatsleiter verabredet Louis-Philippe, dass er als unauffälliger Lehrer aus Südfrankreich auftreten solle, am besten unter einem Fantasienamen. Seine wahre Identität kennen deshalb in der Folge nur der Internatsleiter Jost sowie zwei weitere Führungskräfte der Schule.
Ein sehr wählerischer Esser
Beim ersten Abendessen stellt Jost den angereisten Franzosen den 15 Schülern als «Monsieur Chabos» vor. Zu essen gibt es eine Suppe, gekochtes und gebratenes Fleisch sowie Sauerkraut. Letzteres hasst Louis-Philippe. Überhaupt ist der junge Franzose, der sich von seinem adeligen Elternhaus eigene Küche und zudienendes Personal gewohnt ist, heikel und kein einfacher Esser. Dörrfrüchte, in Butter gekocht, die zum Menüplan des Internats gehören, verabscheut er ebenso wie gebratene Teigwaren. Verwalter Jost ärgert sich über Louis’ gehobene Ansprüche und über seine Verwöhntheit, die, wie er moniert, nicht zu einem Offizier passe.
Doch auch bei den Kleidern drückt die adelige Herkunft des Gasts durch: Der junge Herzog trägt gerne feine Hemden und Halstücher, die er täglich wechselt. Seine Art zu leben unterscheidet sich von der aller anderen im Haus. Um dennoch nicht aufzufallen, lebt er sehr zurückgezogen und vertieft sich gerne und oft in seine Korrespondenz.
Bald steht die Prüfung seiner fachlichen Fähigkeiten als Pädagoge an: Doch das Deutsch des Franzosen erweist sich als mangelhaft. Deshalb wird ihm nur gerade ein einziger Schüler zugewiesen. Als Entgelt für Logis und Essen soll er täglich zwei Lektionen unterrichten, am Morgen Geometrie, am Nachmittag Arithmetik oder Geografie. Erst nach Ablauf von drei Monaten will man dann ein Honorar für seine Lehrtätigkeit festlegen, aber Herzog Louis-Philippe besteht darauf, für seine Unterkunft vierzig Sous pro Tag zu bezahlen.
Kaum hat sich «Monsieur Chabos» mehr oder weniger eingelebt, ereilen ihn zwei Hiobsbotschaften: Zuerst erfährt er, dass seine Mutter verhaftet und nach Madagaskar deportiert wurde. Das verheisst nichts Gutes! Bald darauf bekommt er eine noch traurigere Nachricht. Sein Vater wurde ebenfalls gefangen genommen, vor Gericht gestellt und zu Tode verurteilt. Am 6. November 1793 wurde Louis Philippe von Orléans senior in Paris Öffentlich mit der Guillotine hingerichtet!
Der junge Louis-Philippe ist todtraurig. Doch er darf sich nichts anmerken lassen, weil sonst sein streng gehütetes Inkognito auffliegen würde. Also versucht er sich so zu benehmen, als ob nichts geschehen wäre. Von Internatsleiter Jost, der seine wahre Identität kennt und vom erlittenen Unglück weiss, erhält er zum Trost frische Früchte und sogar Süssigkeiten aufs Zimmer. Ohne dass es jemand bemerkt, bürstet ein Hausdiener die Kleider des Herzogs und putzt die Schuhe, zudem wird dessen Wäsche regelmässig gewaschen und gebügelt. Louis-Philippe bemüht sich sehr, trotz seiner Privilegien nicht aufzufallen, er isst gemeinsam mit den Lehrern und Schülern. Wenn ihm das Essen missfällt, lässt er sich nichts anmerken und begnügt sich mit Brot.
Neben dem Unterricht in Reichenau erteilt «Monsieur Chabos» auch Privatlektionen in Französisch, nämlich der Tochter von Verwalter Jost sowie den Söhnen von Johann Baptista von Tscharner, dem Bürgermeister von Chur. Dazu wird Louis-Philippe in den Bündner Hauptort eingeladen, was ihm behagt, weil er sich in Reichenau eingeengt fühlt. Dort in Chur bekommt er im Frühjahr 1794 mit, wie die Französische Revolution bis ins Bündnerland wirkt. Die Bündner Oberländer sind so unzufrieden, dass sie nach Chur marschieren und eine ausserordentliche Standesversammlung verlangen.
Trotz seiner Revolutionserfahrung greift Louis-Philippe nicht ein und hält unbeirrt seinen Unterricht ab. Peter Conradin von Tscharner, einer der unterrichteten Söhne, ist damals mit sieben Jahren zu jung, um das Seminar zu besuchen. Später schreibt er: «Jeder von uns wünschte in die Klasse des Herrn Chabos eingeteilt zu werden, […] allgemein hatte das einnehmende Äussere und die Freundlichkeit seines Betragens die jungen Gemüter für den neuen Ankömmling eingenommen».
Eine unstatthafte Liebesbeziehung
Louis-Philippe – oder «Monsieur Chabos» – kommt mittlerweile nicht nur bei den Schülern gut an. Er bezirzt die Köchin des Seminars, eine Italienerin namens Marianne Banzori, und geht mit ihr eine Liebesbeziehung ein. Bald ist die Köchin, für alle gut ersichtlich, schwanger. Verwalter Jost gerät angesichts dieser Schwangerschaft ausser sich: Warum, tobt er, muss es ausgerechnet seine Köchin treffen? Wer soll in Zukunft im Seminar kochen?
Der befreundete General von Montesquiou mit Wohnsitz in Bremgarten sieht die Angelegenheit vergleichsweise entspannt. Er erwähnt die Methode, die in solchen Fällen am französischen Hof zur Anwendung kommt: Man sucht für die Schwangere einen standesgemässen Mann, damit sich der Adelige aus dem Staub machen kann.
Weniger entspannt verhält sich Louis-Philippe selbst. Er scheint nicht wirklich zu begreifen, dass er Vater wird. So versucht er sich mit der Ausflucht zu retten, dass er wohl kaum der Vater des Kinds sei. Viel eher komme der Zimmermann dafür infrage, mit dem die Köchin zuvor intim gewesen sei. Verwalter Jost tut das als bösartige Unterstellung ab: Seine Köchin sei gewiss keine Jungfrau gewesen, aber auch keine Hure.
Daraufhin erklärt sich der Herzog bereit, für die Niederkunft in Italien sowie für die Erziehung des Kinds aufzukommen. Das besänftigt die Gemüter, und die Köchin versöhnt sich mit dem Franzosen, den sie zärtlich «Chabosli» nennt. Louis-Philippe besucht danach die Banzori auch wieder in ihrer Kammer. Schliesslich kommt das Kind im Dezember 1794 in Mailand zur Welt, aber wegen Abwesenheit des Vaters und mangels existenzsicherndem Beruf der Mutter wird das Baby in ein Waisenhaus gegeben. Louis-Philippe schreibt der Mutter des Kinds noch einige Briefe – der warmherzige Tonfall deutet durchaus auf eine Liebesbeziehung hin, und nicht bloss auf eine einmalige Affäre.
Dennoch muss Louis-Philippe noch vor der Niederkunft der Köchin die Lehranstalt verlassen. Eine Rückkehr nach Frankreich ist noch immer nicht möglich, also zieht er für neun Monate wieder nach Bremgarten im Aargau, während sein Kind als Waise in Mailand aufwächst. Der Herzog lebt von Juni 1794 bis März 1795 in Bremgarten und legt sich den neuen Decknamen «Adjudant Corby» zu.
Wieder dauert es nicht lange, bis man auch in Bremgarten begreift, wer sich hinter dem Namen «Corby» versteckt; die Exil-Franzosen sind über die ganze Eidgenossenschaft verteilt. Louis-Philippes väterlicher Freund General Montesquiou stellt sich vor ihn und versucht nach Kräften, alle verbalen Angriffe abzuwehren.
Nach den Zwischenfällen in Zürich, Zug, Reichenau und nun auch wieder in Bremgarten sieht Louis-Philippe die Zeit gekommen, sich nach gänzlich neuen Horizonten umzusehen. Dabei ist ihm der Zuger Landschreiber der Freien Ämter, Franz Josef Müller, behilflich. Damit der Adelige unbehelligt reisen kann, stellt ihm Müller einen falschen Pass aus. Weil dem Landschreiber beim Fälschen kein anderer Name einfällt, wählt er seinen eigenen aus: Louis-Philippe reist deshalb als «Franz Josef Müller» nach Hamburg.
Von dort geht die Odyssee des Herzogs weiter nach Skandinavien. Er versteckt sich schliesslich in Muonio in Finnland, einem abgelegenen Dorf in Lappland am nördlichen Ende des Bottnischen Meerbusens. Hier ist er endlich vor anderen Franzosen sicher. Louis-Philippe lebt nun im Pfarrhaus und behält den unverfänglichen Decknamen «Müller» bei.
Aber auch dort bändelt er wieder mit weiblichem Personal an. Diesmal geht er eine Liebesbeziehung mit der Haushälterin des Pfarrhauses ein, mit Beata Caisa Wahlborn (1766–1830). Auch sie wird schwanger. Noch bevor der kleine Erik zur Welt kommt, ist Louis-Philippe wieder weg. Das Kind wird seinen Vater nie kennenlernen.
Doch Louis-Philippe vergisst seinen Sohn in Finnland nicht ganz: Er bestellt ein Gemälde, das ihn, Kindsmutter Beata und Sohn Erik Kolström (1796–1879) nebeneinander zeigt, obwohl sie so nie beieinandergestanden sind. 178 Jahre nach der unrühmlichen Geburt wird Olof Kolström, ein Nachkomme von Erik, 1974 zu Festlichkeiten des französischen Kulturministeriums nach Paris eingeladen werden. Die französische Regierung bestätigt auf diese Weise, dass Erik wirklich der Sohn des Herzogs von Orléans war.
Zurück zu Louis-Philippe, seiner Flucht vor Franzosen und unstandesgemässen Vaterpflichten. In der Folge hält sich der Schürzenjäger von problembehafteten Liaisons fern. Er heiratet 1809 die Königstochter Maria Amalia von Neapel-Sizilien. Mit ihr wird er zehn Kinder haben, vier Töchter und sechs Söhne. Zudem findet er zurück in die Politik Frankreichs und hangelt sich geschickt durch die nach-napoleonischen Wirren.
Seine grosse Chance kommt 1830 mit der Julirevolution. Zunächst hält er sich diskret im Hintergrund und kehrt erst nach dem gewaltsamen Umsturz zu Fuss nach Paris zurück. Effektvoll lässt er sich von einem Trommler begleiten, der voranschreitet, und wickelt sich in einen Trikoloreschal. Weil die Umstände günstig sind und er die Grundsätze der Französischen Revolution achtet, wird Louis-Philippe zum König erkoren. Er nennt sich nicht wie seine Vorgänger «König Frankreichs», sondern «König der Franzosen». Er will als König des Volks gelten, eben als «Bürgerkönig».
Uns, die wir seine Frauengeschichten aus Reichenau und Finnland kennen, würden allerdings noch andere, weniger schmeichelhafte Beinamen einfallen.
Ein König der Franzosen, nicht der Schweizer
Dass König Louis-Philippe zeitweilig im Schweizer Asyl gelebt hat, ist seiner Politik jedoch beim besten Willen nicht anzumerken. Beispiel Nummer eins: Ein Jahr nach der Thronbesteigung entlässt er die eidgenössischen Regimenter unter französischer Flagge, stattdessen gründet er die Fremdenlegion. Ein Entscheid, der die lukrativen Verdienstmöglichkeiten vieler Schweizer Patrizier massiv beschneidet.
Zweites Beispiel: Die Regierung des Bürgerkönigs mischt sich in Schweizer Angelegenheiten ein, zum Beispiel anlässlich der Conseil-Affäre von 1836. Dabei geht es um die Auslieferung eines französischen Spitzels, der in der Schweiz Informationen über französische Flüchtlinge gesammelt hat. Erst als England als Vermittlerin zwischen der Eidgenossenschaft und Frankreich auftritt, entspannt sich die Lage.
Das dritte Beispiel datiert auf das Jahr 1838: Prinz Louis-Napoléon (der spätere Napoleon III.,) hat seine Jugend im Thurgau verbracht. Jetzt darf er sich nur zeitlich begrenzt in der Eidgenossenschaft aufhalten, was er missachtet. Louis-Philippes Frankreich ist dadurch so aufgebracht, dass es gleich mit einem Einmarsch droht. Umgekehrt rufen einige Schweizer Kantone die Mobilmachung aus. Erst nachdem der junge Napoleonide freiwillig die Schweiz verlässt, kühlt sich die aufgeheizte Lage wieder ab. Auch wenn sich Louis-Philippe politisch offenkundig nicht schweizfreundlich gebärdet, hat er seine Jahre in der
Schweiz nicht vergessen. Privat zeigt er seine Dankbarkeit für die damalige Aufnahme und Unterstützung: Franz Josef Müller, der Zuger Passfälscher, bekommt 1836 von König Louis-Philippe das «Ehrenlegionskreuz» und eine mit Diamanten verzierte, goldene Tabakdose mit dem Bild des Königs und der Gravur «Donnée par le Roi», gefüllt mit französischen Goldstücken.
Auch ein anderer Zuger erhält ein edles Präsent: Alois Damian Bossard, der Wirt des Hotels Ochsen in Zug, in dem der Bürgerkönig gelegentlich dinierte, bekommt ein vornehmes Tafelservice geschenkt, ergänzt um ein feinstes Kaffeeservice aus der königlichen Porzellanfabrik, alles versehen mit einem goldenen, königlichen «L» mit Krone. Auch das Schloss Reichenau, von wo der junge Louis- Philippe nach Bekanntwerden der Schwangerschaft seiner Geliebten verschwinden musste, wird vom Bürgerkönig mit einer grosszügigen Gabe bedacht. 1845 schenkt Louis- Philippe den Bündnern zwei Bilder, die noch heute im Schloss zu sehen sind: Auf dem ersten ist Louis-Philippe als «Monsieur Chabos» vor einem Globus im Schulzimmer zu sehen; auf dem zweiten posiert er, der König, in einer Galauniform.
Übrigens: Das Louis-Philippe-Zimmer im Schloss existiert noch heute und kann besichtigt werden. Im 19. Jahrhundert wurde es zu einem Anziehungspunkt für Reisende aus dem In- und Ausland. Heute ist es allerdings nur noch eine einfache Kammer, die an die eher unrühmliche Zeit des späteren Königs von Frankreich erinnert.
«Blaues Blut. Royale Geschichten aus der Schweiz», Michael van Orsouw, Verlag Hier und Jetzt, 2019, CHF 39.–. www.hierundjetzt.ch