42. Ungute Nachrichten aus dem Norden Aus «Politiker wider Willen»

Am 30. Januar 1933 macht Reichspräsident Hindenburg den «böhmischen Gefreiten», wie er Hitler gerne nannte, zum neuen Kanzler. «Die Zigarre muss doch mal geraucht werden», murrte er, ohne zu ahnen, welche katastrophalen Folgen sein Entscheid für Deutschland und die Welt haben würde.

Die Schweiz, die, wie meistens, vorwiegend mit sich selbst beschäftigt ist, nimmt  die Ernennung Hitlers nicht allzu tragisch. Der Berliner Korrespondent der Gazette denkt wie Hindenburg:

Man soll nicht meinen, dass das Kabinett Hitler unter Theatercoups regieren wird. Wir  glauben im Gegenteil, dass er versuchen wird, alle die Befürchtungen zu beruhigen. Wir haben noch keine Fälle von gehenkten Juden oder von Sozialisten mit abgeschnittenen Ohren verzeichnet. Die Massaker der «Nacht der langen Messer», das «Geräusch  der von der Guillotine rollenden Köpfe» werden uns wahrscheinlich erspart  bleiben.

Der von Pilet geschätzte aussenpolitische Kommentator des Blatts — die Wertschätzung  ist gegenseitig — Geschichtsprofessor Edmond Rossier, staunt über den riesigen  Enthusiasmus, der die «gute Stadt Berlin» plötzlich gepackt hat:

Fackelzug, eine unübersehbare Menschenmenge in den Strassen, Umzüge vor der  Reichskanzlei, vaterländische Gesänge, endlose Beifallskundgebungen … All das, weil  Adolf Hitler, ehemaliger Korporal in einem bayrischen Regiment, ehemaliger Flachmaler, deutscher Bürger seit nur einem Jahr, den Sessel Bismarcks besetzt hat.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

 

Rossier erinnert daran, dass die Nationalsozialisten bei den letzten Wahlen einen  Rückgang verzeichneten und dass Hitlers Stern am Sinken schien.

Es bot sich ihm eine letzte Gelegenheit, er packte sie und er hat gutgetan. Er ist nicht  der absolute Herr, aber er ist gleichwohl in der Lage, grosse Dinge zu tun. Er hat einen der Seinen im Innenministerium platziert; er verfügt über alle Polizeikräfte; er hat eine Leibgarde von 300’000 Braunhemden, die er auf Staatskosten aushalten will; er kann  mit Stahlhelmen in noch grösserer Zahl rechnen; und aufgrund seines hohen offiziellen  Rangs werden alle die Anordnungen, die er treffen wird, einen legalen Schein haben. Er hat vor allem die ungeheure Autorität, die ihm die Hoffnung und der Beifall der  Massen verleiht. Jetzt ist der entscheidende Moment gekommen. Derjenige, der bisher  bloss ein Volkstribun war, ist aufgerufen, seine Qualitäten als Staatsmann zu enthüllen. Er ist in der Lage, dem Reich eine neue Richtung zu geben. Was wird geschehen?

Einen Monat später kriegt man Klarheit, wohin Hitlers neue Richtung führt. Am  Abend des 27. Februar geht der Reichstag in Flammen auf. Göring verkündet, dass es  sich um ein kommunistisches Komplott handle, und schon am nächsten Tag erlässt  das Reichskabinett eine Notverordnung «Zum Schutz von Volk und Staat». Sie setzt  die Grundrechte ausser Kraft und ermöglicht die Verhaftung zahlreicher linker Politiker, Gewerkschafter und Intellektueller. Maurice Muret, Auslandredaktor der Gazette, meint, dass Hitler sich kaum um die Gefühle der Schweizer kümmere, und  fügt hinzu:

Geziemt es sich nicht gleichwohl für die Schweizer Presse, mit Mass, aber mit Festigkeit  ihr lebhaftes Bedauern zu markieren, dass das «Volk der Dichter und Denker» jener Freiheit den Rücken kehrt, die ihm einst so lieb war und seine besten Söhne inspirierte? Was würden Lessing und Schiller zu den «Menschenjagden» sagen, die uns um Jahrhunderte zurückwerfen?

«Politiker wider Willen»

Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen  Wissens, seiner militärischen Kenntnisse  und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten  Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.


Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany

Beitrag vom 06.07.2025

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