Hilfe für Menschen, die Gewalt erfahren – und für solche, die Gewalt ausüben: Für Ruth Mettler Ernst, Geschäftsleiterin der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter UBA, ist Gewalt auch ein gesellschaftliches Problem. Sie plädiert für Sensibilisierung und Information.
Interview: Usch Vollenwyder
Gemäss Bundesrat sind 300 000 bis 500 000 über Sechzigjährige von Gewalt betroffen. Nur ein Bruchteil davon meldet sich bei Ihnen. Warum?
Weil Gewalt im Alter nach wie vor ein Tabuthema ist. Viele Betroffene schämen sich oder haben Angst vor Konsequenzen: vor einem Heimeintritt zum Beispiel. Oder dass die Beziehung abbricht und sie dann noch einsamer sind. Andere sind sich gar nicht bewusst, dass sie von Gewalt betroffen sind, weil sie zum Beispiel schon immer in einer schwierigen Partnerschaft gelebt haben. Wieder andere sind zu wenig informiert und wissen nicht, dass es überhaupt Hilfsangebote und spezialisierte Beratungsstellen gibt. Hinzu kommt, dass die jetzt alt gewordene Generation gewohnt ist, ihre Probleme allein zu lösen.
In welchen Milieus kommt es besonders häufig zu Gewaltproblemen?
Häusliche Gewalt kommt in allen Gesellschaftsschichten vor. Überforderung in der Betreuung ist nur einer der Risikofaktoren. Auch die Pensionierung bedeutet ein gewisses Risiko: Eheprobleme können nicht mehr verdrängt werden, weil man mehr aufeinander konzentriert ist. Wut ist ebenfalls ein gewaltauslösender Faktor: Endlich könnte man das Leben zusammen geniessen, doch dann wird der Partner oder die Partnerin krank, und man schlüpft ungewollt in die Rolle der betreuenden Angehörigen. Manchmal ist Gewalt auch schon lange Teil einer Beziehung. Einsamkeit kann ein weiterer Faktor sein: Es sind vor allem einsame alte Menschen, die Opfer von so genannten Enkeltrickbetrügern werden. Oft haben alte Menschen auch gar nicht mehr die körperliche und geistige Kraft, sich gegen Misshandlungen zu wehren.
Woran erkennt man eine Gewaltsituation?
Die meisten Betreuenden merken selber, wenn sie ungerecht oder laut werden, die hilfsbedürftige Person unsanft anpacken oder sie vernachlässigen. Dann braucht man dringend Hilfe! Warnsignale gibt es meist schon längst vorher: Schlafstörungen, depressive Verstimmungen, Alkohol, eine Krankheit … Auch bei gewaltbetroffenen Menschen sind manchmal äussere Zeichen wahrzunehmen: wenn sich jemand verändert, plötzlich immer traurig wirkt oder Angst hat. Dann sollte man die Situation beobachten und handeln.
Wer muss handeln – und wie soll man handeln?
Alle! Wer von Gewalt betroffen ist, solche ausübt, wer von einer Gewaltsituation weiss oder sie vermutet, muss handeln. Es ist die Aufgabe der ganzen Gesellschaft, Gewalt und Misshandlung zu stoppen! Dafür gibt es Anlauf- und Beratungsstellen. Wer unsicher ist, ob er tatsächlich eine Gewaltsituation erlebt oder beobachtet, kann bei der UBA auch Rat holen. Wir sind für alle da: für Seniorinnen und Senioren, für Familienmitglieder, für Nachbarinnen und Nachbarn, aber auch für Fachleute in Institutionen, bei der Spitex oder für Freiwilligendienste. Es gibt selbst Enkel, die sich bei uns melden, weil sie sich Sorgen um ihre Grosseltern machen.
Wie können Lösungen aussehen?
Es ist hilfreich, wenn alle Beteiligten für eine Lösungsfindung bereit sind. Zum Beispiel vereinbaren unsere Fachleute mit ihnen konkrete Regeln für einen gewaltfreien Umgang. Oder sie empfehlen eine Paartherapie. Häufig gilt es, eine schwierige Wohnsituation zu verändern. Manchmal können sie auch nur die Meldenden stärken. In akuten Gewaltsituationen muss die Polizei gerufen werden. Wir haben eine Bandbreite von Möglichkeiten und ein grosses Netzwerk: Pro Senectute, die Alzheimervereinigung, verschiedene Institutionen, die Kesb, die Polizei, die Opferhilfe …
Gibt es immer eine Lösung?
Nein. Es hängt sehr davon ab, ob die Betroffenen auch tatsächlich Hilfe wollen. Unsere Fachleute breiten vor ihnen einen Fächer möglicher Lösungen aus – eine Lösung aufzwingen können wir ihnen jedoch nicht.
Welches ist die beste Prävention?
Darüber reden. Mit der Familie, im Freundeskreis, mit vertrauten Personen. Dass man sagt, in welch schwieriger Situation man sich befindet und wie frustriert man ist. Betreuende sollen zugeben können, dass sie an ihre Grenzen kommen. Von Gewalt betroffene Menschen sollen sagen dürfen, wenn sie Angst haben. Oder sich unwohl fühlen. Das Thema darf nicht mehr tabuisiert werden. Dafür braucht es Offenheit und immer wieder Information.
Ruth Mettler Ernst
ist seit 2016 Geschäftsleiterin der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter UBA in Zürich. Zuvor arbeitete die 60-jährige Thurgauer Alt-Kantonsrätin zehn Jahre bei Pro Senectute Kanton Thurgau. Ruth Mettler Ernst ist ebenfalls Geschäftsleiterin des Nationalen Kompetenzzentrums Alter ohne Gewalt.