Ursina Troxler und Manuela Achermann schneidern aus Hochzeitskleidern Schlafsäckchen für stillgeborene Babys. Damit zeigen sie nicht nur Anteilnahme, sondern wollen auch ein Umdenken anregen.
Text: Roland Grüter, Fotos: Valentin Luthinger
Als Joyas Name fällt, verstummt das Lachen. Die beiden Frauen werden nachdenklich und das Zimmer in der ehemaligen Ziegelei in Flüelen UR füllt sich mit stiller Andacht. Die Kleine war die Erste, die in einem Bettchen von Manuela Achermann und Ursina Troxler zu Grabe getragen wurde. Das Mädchen starb im Bauch seiner Mutter, nur drei Wochen vor der Geburt. Die Erinnerung an Joya wühlt sie noch immer sichtbar auf, sechs Jahre nachdem das Licht der Kleinen erloschen ist.
Manuela Achermann und Ursina Troxler, beide 46-jährig, haben selbst erlebt, was es bedeutet, ein Kind zu verlieren, bevor dieses geboren wird. In der Schweiz erleiden jeden Tag 117 Frauen solche Fehlgeburten, jede fünfte Schwangere ist davon betroffen. Und trotzdem wird das Thema noch immer totgeschwiegen – mit schlimmen Folgen. Wie eine Studie aus dem Jahr 2019 zeigt, geben sich 46 Prozent der Frauen selbst Schuld für den Abort. Das wollen die beiden Frauen ändern, dafür wählten sie einen bemerkenswerten Weg. Sie nähen aus getragenen Hochzeitskleidern Bettchen, Cocoons und Kleidchen, die sie kostenlos an Betroffene abgeben. Jedes davon gründet in derselben Idee: Kleider der Liebe für Kinder der Liebe.
Im Estrich der stillgelegten Ziegelei, gleich nebenan, lagern die Hochzeitskleider. Rund 300 Stück warten in Schachteln und an Bügeln darauf, verarbeitet zu werden. Der Spendenwille ist gross. Die ehemaligen Besitzerinnen erhalten als Dank jeweils ein Stoffherz, das die beiden Frauen aus den bauschenden und rauschenden Stoffwolken nähen. Der Rest aber wird zu Schlafsäckli und Bettchen, zu Engelskleidern halt, wie Ursina Troxler und Manuela Achermann ihre Werke nennen.
In grossen Kunststoffbehältern, mäusesicher verstaut, lagern die Schutzhüllen für die «Würmlis», «Schnägglis» und « Stärnlis », deren Leben dermassen früh zu Ende ging. Sie sind nur handgross. Perfekte Handarbeit. Keine Druckknöpfe, keine Perlen, keine ruppigen Stickereien, wie sie an vielen Hochzeitskleidern zu finden sind. Noah, Nicole und Lara – die Frauen nennen jedes Kindchen beim Namen – sollen möglichst bequem in ihren Stoffumschlägen liegen. Nichts, was deren Frieden stören oder die kleinen Köpfchen drücken könnte. Zugeschnitten und genäht werden die Schutzhüllen in den Stuben der beiden Frauen, die eine lebt im Entlebuch, die andere in Flüelen.
Manuela Achermann ist gelernte Bäckerin-Konditorin, Ursina Troxler arbeitet in einem Büro. Einmal im Monat treffen sie sich in der alten Ziegelei in Flüelen, um neue Pläne zu schmieden, Erlebnisse mit Angehörigen auszutauschen – aber auch, um über ihre Männer zu tratschen, wie die beiden lachend sagen. Kontaktiert werden sie von Betroffenen und Angehörigen per Telefon oder Mail. «Sie finden uns oft übers Internet. Wir haben zwar ein offenes Ohr für deren Geschichten, halten uns aber bewusst zurück, drängen uns in keiner Weise auf», sagt Manuela Achermann. «Wir sind Dienstleisterinnen, mehr nicht», ergänzt Ursina Troxler: «Oft legen wir die Kleidchen in den Milchkasten. Denn die Eltern sind nach einem Abort mit ihrem Kummer beschäftigt, wir wollen sie dabei nicht stören.»
Die Urnerin war es, die vor acht Jahren auf die Idee mit den Engelskleidchen kam. Sie selbst lag schwerkrank im Spital, ihre Schwester bereitete sich zeitgleich auf ihre Hochzeit vor. «Da wurde mir neuerlich bewusst, wie nahe Glück und Unglück beieinander liegen.» Sie fasste die Idee, aus Hoch- zeitskleidern Hüllen für stillgeborene Kinder zu schneidern, so wie es andere in den USA oder in Australien schon lange tun. Also deckte sie sich in Auktionshäusern mit ersten Modellen ein, für ein paar Franken pro Stück. Was ihr aber fehlte: Schnittmuster und handwerkliches Geschick.
In der Folge suchte sie auf Facebook nach Weggefährtinnen, kam auf diesem Weg anfangs aber nur zu zusätzlichen Kleidern. Der Fundus wuchs auf 50 Stück, doch eine helfende Hand fehlte noch immer. Dann meldeten sich zwei Frauen, darunter Manuela Achermann. Sie brachte entsprechendes Know-how mit. Seither bilden die beiden ein Team, geben ihre Engelskleider an einzelne Spitäler und Hebammen ab. Durchschnittlich einmal im Monat setzen sie sich gleich selbst ans Steuer ihrer Autos, um ihre Engelskleidchen auszuliefern: damit sie garantiert zur richtigen Zeit am Zielort sind.
Frauen fühlen sich nach einem Abort häufig alleingelassen. Küretagen, die Abschabung der Gebärmutter, gehören in Spitälern zu Routineeingriffen, stillgeborene Embryonen werden meist als Sondermüll entsorgt. Manche Krematorien verbrennen Föten erst, wenn sie älter als 23 Wochen sind. «Eltern wird reihum die Möglichkeit genommen, Trauerarbeit zu leisten, Abschied von ihren Sternenkindern zu nehmen», sagt Manuela Achermann. «Stattdessen kriegen Frauen oft von Ärzten zu hören: Sie seien jung und können jederzeit wieder schwanger werden – als ob das den Verlust eines Kindes aufwiegen könnte.» Eine Denkumkehr und ein würdigerer Umgang mit Stillgeburten sei dringlich. Dazu wollen sie mit ihrem Schaffen einen Beitrag leisten.
Wie hoch geschätzt das Ansinnen wird, liest sich aus den vielen Dankesbriefen, welche die Frauen von betroffenen Eltern oder von deren Angehörigen erhalten. Natürlich danken sie darin auch für die Engelskleider, in denen sie ihre Kleinen verabschieden konnten, aber nicht nur: Sie schätzen es, dass die Sternenkinder von anderen wahrgenommen werden. Das Quäntchen Aufmerksamkeit und Anteilnahme spendet Trost.
So bleibt auch Joya sechs Jahre unvergessen – nicht nur des Bildes wegen, das Manuela Achermann und Ursina Troxler von den Eltern zugeschickt bekamen. Es zeigt Joya in einem Sternenkleid. Friedlich schlafend. «Ihr Schicksal hat uns gleich von Anfang an bekräftigt, dass unsere Idee wichtig und richtig ist», sagen die Frauen.
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