Teil 9: Elf Schritte ins Glück Tagebuch einer Sterbenden
Wahrscheinlich sehnen sich alle Menschen nach einem glücklichen und erfüllten Leben. Mein Garant dafür sind die alltagserprobten, wissenschaftlich fundierten elf Schritte zur Stärkung der psychischen Gesundheit. Ich wende diese Impulse schon seit über fünfzehn Jahre an – auch jetzt, im Rahmen meiner Krebserkrankung. Sie umfassen einfache, gut umsetzbare und leicht verständliche Tipps, wie man gut für sich selbst sorgen kann.
Klar, ein gesundes und glückliches Leben fängt mit bewusster, ausgewogener Ernährung an, auch regelmässige Bewegung und Entspannung sind wichtig für unser Wohlsein. Darin geht es aber nicht etwa um Höchstleistungen, sondern darum, gut für uns zu sorgen. Für mich bedeutet das auch: dann und wann mit Freunden ein Gläschen Wein trinken, bis man beschwipst kichern muss. Man darf auch faul auf dem Sofa liegen und einen Liebesfilm anschauen. Denn Genuss, Vergnügen und Freuden sind wichtige Essenzen für ein erfülltes Leben.
Aktuell habe ich aber kaum Appetit. Das Essen schmeckt mir nicht, deshalb esse ich wie ein Vögelchen: Mein Gewicht nimmt rasant ab. Zum Glück muss ich mit meinem Hündchen mehrmals am Tag an die frische Luft, Gassi gehen. Kleine Spaziergänge, aber immerhin. Im Gegenzug ist mein Bedürfnis nach Entspannung riesig. Sobald etwas erledigt ist, mache ich Pause. Beine hoch, beruhigende Musik an. Auch mein Bedürfnis nach Rückzug ist gewachsen. Einen Tag lang keine Termine zu haben, niemanden zu sehen: Das ist Balsam für meine Seele.
Ich arbeite schon seit über fünfzehn Jahre mit diesen elf Impulsen. Sie umfassen einfache, gut umsetzbare und leicht verständliche Tipps, wie man gut für sich selbst sorgen kann.
Zum Programm gehört auch der Schritt «Sich selbst annehmen». Er schliesst die Lebensumstände mit ein, in denen wir jeweils stecken. Ich akzeptiere selbst das Unabänderliche der Krebserkrankung. Dadurch bleibt mir genügend Energie, um mich auf die Herausforderungen, die das Leben an eine Sterbende stellt, zu meistern – um beispielsweise meine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Mir steht dafür genügend Zeit zur Verfügung, ich kann meine Entscheidungen bei vollem Verstand und mit offenem Herzen treffen, dafür bin ich dankbar. Ich verschwende keine Zeit und Energie mit Fragen wie «Warum ich?», «Warum jetzt?» oder «Was habe ich falsch gemacht?». Ich habe zwar eine lebens-begrenzende Krankheit, doch ich bin mehr als diese Krankheit. In mir steckt noch immer Leben, und dieses will gelebt werden. Volle Pulle.
Selbstredend fordert uns dieser Schritt dazu auf, uns selbst anzunehmen, uns so zu respektieren, wie wir sind. Ich verzichte dabei bestmöglich, mich zu beurteilen oder gar zu verurteilen, mich an irgendeinem Ideal zu messen. Denn auch Schwächen machen mich aus. Ich bin davon überzeugt: Treten wir uns unverkrampft gegenüber, können wir uns so sein lassen, wie wir sind – und andere, wie sie sind. Statt zu hadern, sollten wir uns auf die Stärken besinnen. Denn darin liegt grosses Potenzial. Leider bleibt dieses oft ungenutzt. Das ist bedauerlich.
Der Schritt «mit Freunden in Kontakt bleiben» ist mir besonders wichtig. Ich hatte über viele Jahre viel gearbeitet und manchmal meine Freundschaften vernachlässigt. Das wurde mir erst richtig bewusst, als ich erfuhr, dass ich sterben werde. Daraufhin kontaktiere ich Freunde, Bekannte und Arbeitskollegen, die ich schon lange nicht mehr gesehen hatte. Denn mir war es ein Anliegen, sie vor meinem Tod noch einmal zu treffen. Mir war bewusst, dass mein Wunsch den Menschen etwas Mut abringt. Denn Begegnungen mit einer Sterbenden sind anspruchsvoll. Für mich waren sie aber ungemein bereichernd – und ich glaube auch für die anderen.
Was mich zu einem weiteren Punkt führt: «darüber reden». Dieser fällt mir besonders leicht, denn ich rede gern und viel – egal, ob es andere interessiert oder nicht. Ich kann auch offen und ohne Tabus über meine Krankheit, übers Sterben und den Tod sprechen. Das hilft hoffentlich anderen, etwelche Widerstände zu überwinden.
Ich kann an dieser Stelle nicht alle elf Schritte zur Stärkung der psychischen Gesundheit ausführen. Ihre wichtigste Botschaft aber lautet: Lebe dein Leben. Lebe DEINS – JETZT! Ich möchte, dass dieser Appell möglichst viele Menschen erreicht. Denn er ist ein wichtiger Garant, im Leben zum Glück zu finden. Und leben wir unser Leben so, wie es uns tatsächlich entspricht, fürchten wir uns auch weniger vor dem Sterben.
- «Ich habe nichts zu bereuen»: Im Video spricht Michèle Bowley mit Zeitlupe Redaktorin Jessica Prinz darüber, dass man sterben lernen kann, indem man gut lebt. Zum Video.
- Weitere Tagebucheinträge und Beiträge über Michèle Bowley können Sie hier lesen.
Aktuell tourt die Basler Psychologin durch die Schweiz und liest in diversen Städten aus ihrer Autobiografie. Eine Übersicht ihrer Auftritte finden Sie unter psyche-staerken.ch/autobiografie
Mehr über das Buch «Volle Pulle leben – Lebe Deins, jetzt», in dem Michèle Bowley über Ihr Leben und Sterben schreibt, finden Sie hier.