Beinahe unsterblich
Sie glauben, 95 Jahre seien ein biblisches Alter? Das gilt vielleicht für Menschen, doch andere Spezies überdauern Jahrhunderte oder gar Jahrtausende. Der dänische Mikrobiologe Nicklas Brendborg widmet sich in seinem Buch «Quallen altern rückwärts» den wahren Methusalems der Natur.
Text: Claudia Senn
Das am längsten lebende Wirbeltier…
… ist der Grönlandhai oder Eishai. Dieser sechs bis sieben Meter lange Überlebenskünstler kann bis zu 500 Jahre alt werden. Ein Exemplar, das sich heute seinem Lebensende nähert, ist also etwa 1522, fünf Jahrzehnte nach der Erfindung des Buchdrucks, geboren worden und war bei Ausbruch der Französischen Revolution bereits 267 Jahre alt.
Das am längsten lebende Säugetier…
… ist der Grönlandwal, der in Alaska seit jeher von den Inupiat bejagt wird. Manchmal entdecken die indigenen Ureinwohner dabei in den Fettschichten der Tiere Harpunenspitzen aus dem 19. Jahrhundert.
Das Sterberisiko von Bäumen nimmt mit zunehmendem Alter ab,…
… denn mit den Jahren werden sie immer kräftiger und widerstandsfähiger – bis sie eines Tages so gross sind, dass sie von einem Sturm gefällt werden. In der Schweiz gibt es etliche Eiben, die 1000 bis 1500 Jahre alt sind. Auch Linden und Lärchen können ein biblisches Alter erreichen. In Kalifornien steht eine fast 5000 Jahre alte Kiefer namens Methuselah. Als Methuselah noch ein zarter Keimling war, trompeteten auf der Wrangelinsel im Arktischen Ozean vor Sibirien die letzten Mammuts.
Immer wieder in die Kindheit zurück…
… geht die Turritopsis, eine Quallenart, die etwa so winzig ist wie ein Fingernagel. Für harte Zeiten hat sie einen ganz besonderen Trick auf Lager: Wenn sie sich gestresst fühlt oder Hunger hat, entwickelt sie sich einfach in ihr Polypenstadium zurück – wie ein Schmetterling, der wieder zur Raupe wird. Danach wächst sie von neuem zu einer erwachsenen Qualle heran. Diesen Ausflug in die Kindheit kann sie beliebig oft wiederholen.
Friss dich selbst, wenns nichts anderes zu fressen gibt,…
…das ist das Motto des Plattwurms Planaria. Dieses winzige und unscheinbare Tier offenbart in harten Zeiten ein besonderes Talent: Gibt es nicht genügend Futter, knabbert der Wurm sich einfach selbst an. Zuerst frisst er die weniger wichtigen Teile, dann den ganzen leckeren Plattwurmrest, bis nur noch das Nervensystem übrig ist. Das wirkt erstaunlicherweise verjüngend. Denn werden die Zeiten besser, regeneriert er sich – und ist wieder so fit und energiestrotzend wie ein Jungwurm.
Das Lieblingstier der Anti-Aging-Forscher ist…
…der Nacktmull. Denn für dieses unfassbar hässliche Nagetier, das in weitläufigen Tunnelsystemen unter der Erde Ostafrikas herumhuscht und aussieht wie ein Penis auf Beinchen, scheinen die Gesetze des Alterns ausser Kraft gesetzt zu sein. Obwohl der Nacktmull so winzig ist wie eine Maus, kann er über dreissig Jahre alt werden. Er bekommt so gut wie niemals Krebs (nicht mal, wenn man ihn zu Forschungszwecken absichtlich damit infiziert!), sieht im Alter so knackig aus wie ein Jungspund und ist sein ganzes Leben lang aktiv und fortpflanzungsfreudig. Wie macht er das nur? Das würde die Forschung zu gerne wissen.
Wenn der menschliche Alterungsprozess durcheinander kommt…
… könnte das an einer genetisch bedingten Krankheit liegen. Betroffene des Progerie-Syndrom etwa sehen schon als Kleinkind aus wie Greise. Sie bekommen Arterienverkalkung und eine pergamentdünne Haut und sterben meist schon im Kindes- oder Jugendalter an Herzinfarkten und Schlaganfällen. Auch das Gegenteil kommt vor: Betroffene des X-Syndroms altern so gut wie gar nicht und bleiben ihr Leben lang wie ein Kleinkind.
Nicklas Brendborg: Quallen altern rückwärts – Was wir von der Natur über ein langes Leben lernen können. Eichborn-Verlag 2022. Ca. 35 Franken.
Tierisch alt
Tiere altern nach ureigenen Regeln. Manche Arten weisen Seniorinnen und Senioren wichtige Aufgaben zu – und profitieren im Gegenzug von deren Wissen.
zum Artikel