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Weg da, Kinder!

Verstossen Mütter ihre Kinder, werden sie geächtet. In der Pflanzenwelt ist dieses System weit verbreitet. Dort spannen Pflanzen oft sogar mit Tieren zusammen, um sich den Nachwuchs fernzuhalten. Unser Gartenpöstler liebäugelt mit den Vorteilen der sogenannten Zoorchie.

Roland Grüter, Gartenkolumnist der Zeitlupe
© Jessica Prinz

Text: Roland Grüter
Letzthin fragte mich Nora (9), weshalb ich keine Kinder hätte. Sie wusste zwar, dass ich mit einem Mann zusammenlebe – aber vielleicht glaubte sie an ein Wunder der Natur oder kannte womöglich die Regeln der In-Vitro-Fertilisation. Doch als ich sie auf die künstliche Befruchtung ansprach, rollte sie bloss die Augen und sagte «Hä – wie soll das denn gehen?» Natürlich hätte ich Nora erklären können, dass sich hier die Biene mit einem Reagenzglas einlässt. Doch ich liess es. Denn wir sassen in einem Tram, und da ist es etwas heikel, einem Mädchen das laboratorische Zusammentreffen von Ei und Spermien plausibel zu erklären. Also beantwortete ich ihre Frage mit einer etwas unverfänglicheren Antwort: «Ich habe keine Kinder, weil ich keine wollte.»

Ein Protokoll der unglücklichen Mütter

Nora überlegte kurz, dann hakte sie nach: «Du wolltest keine? Bist Du trotzdem glücklich?» Auch hier musste ich eine Sekunde überlegen. Mir kam Fotografin Diana Karklin in den Sinn, die vor kurzem das vermeintliche Kinderglück ausgelotet hatte. Sie porträtierte dafür fünf Jahre lang Frauen, die mit ihrer Mutterschaft unglücklich sind – und fasste entsprechende Stimmen im Bildband «Undo Motherhood» zusammen». Und schrieb damit weltweit fette Schlagzeilen.  

Ich überlegte mir, ob ich Nora vom Fotoband erzählen soll. Denn an solchen Themen ist sie durchaus interessiert. Wahrscheinlich hätte sie die Argumente der zweifelnden Mütter sogar verstanden. Denn wie sie aus eigener Erfahrung weiss, ist das Zusammenleben zwischen Kinder und Eltern nicht immer nur erfüllend. Oft genug ist es enorm anstrengend oder sogar nervig. Nora würde in solchen Momenten Bruder Béla samt ihren Eltern gratis eintauschen – oder zumindest für einen Schleckstängel.

Wir erreichten die nächste Tramhaltestelle. Nora wartete noch immer auf meine Antwort. Also sagte ich: «Mir geht es gut – auch ohne Kinder» Damit gab sich meine Begleiterin zufrieden. Sie schälte einen Veggiestängel aus dem Papier und begann daran zu knabbern. Doch ihre Worte hallten nach. Ich überlegte mir, wie ich wohl als Papa gewesen wäre – in ständiger Sorge, was meinen Liebsten passieren könnte? Stets sprungbereit, sie vor den Wirren des Lebens zu retten, so wie es die meisten Väter tun? Wahrscheinlich schon. 

Zoorchie hat grosse Vorteile

Wobei: Das Antikonzept der Nonstop-Hege hat auch seinen Reiz. Dieses ist in der Pflanzenwelt weit verbreitet. Viele Arten haben in der Evolution ein ausgeklügeltes Konzept erfunden, um sich ihren Nachwuchs fernzuhalten – damit ihnen diese nicht vor der Sonne stehen oder ihnen ihren Platz streitig machen. Manche gehen dafür sogar Seilschaften mit Tieren ein. Die Wissenschaft bezeichnet dieses Zusammenspiel als Zoorchie. Denn sind Samen von Pflanzen zu gross oder zu schwer, plumpsen diese einfach so runter, und die Mutterpflanzen stünden in der Folge mitten in ihrer Brut. Folglich müssen Sträucher und Bäume mit Vögeln, Eichhörnchen und anderen Viechern zusammenspannen, um genau das zu verhindern. Diese tragen die Früchte weg und helfen mit, dass der Nachwuchs in sicherer Distanz heranwächst – ohne die Elternpflanzen zu konkurrieren. 

Eine Amsel sitzt auf einem Vogelbeerbaum und frisst Beeren.
Vögel spielen eine wichtige Rolle bei der Ausbreitung der Eberesche. © shutterstock

Auch die Samen der Zirbe oder Zirbelkiefer sind schwer. Um sich im Gebirge neue Standorte zu erobern – vor allem bergauf – ist sie folglich auf tierische Hilfe angewiesen. Diese erbringt der Tannenhäher. Der Vogel pickt mit seinem kräftigen Schnabel die Schuppen der Zapfen auf, puhlt die Samen heraus und versteckt diese in seinen Depots. 50 000 bis 100 000 Zirbelsamen gelangen so jährlich in die Wintervorräte des Eichelhähers. Die Depots legt er in der Erde an. Davon gehen manche vergessen – worauf die Samen im kommenden Frühling keimen, fernab der Eltern. Rekordhalter in Sachen Zoochorie ist übrigens die Vogelbeere. Von deren Früchten ernähren sich mehr als 60 Vogelarten. 

Ameisen als Ammen

Schattenpflanzen mussten sich ebenfalls allerlei einfallen lassen, um ihre Fortpflanzung zu gewährleisten. Denn im dunklen Untergrund ist es meist windstill. Den Samen bleiben folglich Reisen durch die Luft verwehrt. Deshalb staffieren viele Schattenpflanzen ihre Samenkörner mit einem besonderen Anhängsel aus, einem Ölkörperchen (Elaiosom). Dieses gehört zu den Leibspeisen von Ameisen. Die Krabbler sammeln die Samen willig ein und tragen sie in ihre Bauten. Nach dem Verzehr des Ölkörperchens entsorgen sie die Samen an der Erdoberfläche und tragen diese an Orte, die ideal für deren Keimung sind.

Das Tram, in dem Nora und ich sassen, näherte sich langsam dem Ziel. Ich überlegte mir, ob sich das Prinzip der Zoorchie in irgendeiner Weise auf die Menschen übertragen liesse. Doch so verlockend deren Vorteile – keine Pflichten, keine Verantwortung – auch scheinen: Mir ist das Gegenteil doch lieber. Nora kaute noch immer an ihrem Veggistängel. Ich legte die Hand auf ihre Schulter. «Weshalb soll ich unglücklich sein? – ich habe ja dich.» Das Mädchen lehnte sich zufrieden an meinen Arm. Nähe ist definitiv schöner als Zoorchie..

Der Gartenpöstler

Roland Grüter (61) ist leidenschaftlicher Hobbygärtner und folgt strikt den Regeln des Bio-Gärtnerns. Er lebt in der Nähe von Zürich und hegt und pflegt einen kunterbunten, wilden Blumengarten. An dieser Stelle schreibt der Journalist regelmässig über Spass und Spleens im grünen Bereich.



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Beitrag vom 05.10.2022
  • Kriemhild Ysker sagt:

    Ich wäre begeistert gewesen, wenn der Biologieunterricht in meiner Schule auf solche Zusammenarbeit in der Natur hingewiesen hätte

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