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Wanderer auf dem Heimweg (Kapitel 8.8) Aus «Schneesturm im Sommer»

Der Abend stieg aus dem Tal herauf und überschattete Unterstaffel, aber auf der oberen Alp rückte er nur langsam über die goldgrün besonnten Weideplätze und Felsköpfe vor, die Kuppe des Hügels neben der Hütte leuchtete noch, und die Schutthalden im Hintergrund widerstrahlten ein stärkeres Licht als untertags. Auf der Hügelkuppe stand, wie jeden Abend zu dieser Stunde, der Älpler Urs und schaute, einem Wächter gleich, der die Nacht anrücken sieht und ihre Gefahren kennt, über das ihm anvertraute Vieh und die Alp hin. Rinder und Jährlinge standen und lagen satt herum, die zwei Kühe, die einzigen Milchspenderinnen da oben, waren gemolken und zogen noch einmal ins vollere Grashinaus, durch die offene Hüttentür drang Rauch, und Toni, ein Bauernbub, der dem Alten zur Hand ging und darum Handbub hiess, holte mit dem Kessel am Brunnen Wasser.

Vor der Hütte gingen zwei Männer auf und ab, die nicht hieher gehörten, Jost Achermann und dieser Herr aus der Stadt, Herr Leuenberger. Beide waren nach der Auffahrt mit vollen Rucksäcken angerückt und hatten unter dem Hüttendach ihr enges Nachtlager eingerichtet. Um seines guten Bekannten Achermann willen, der ihm ein schönes Entgelt verhiess, hatte der Hirt sich einverstanden erklärt, kümmerte sich jetzt aber nur noch wenig um die beiden und liess sich weder in seiner Arbeit noch in seinen Gewohnheiten stören. Er hob den hölzernen Milchtrichter vor den bärtigen Mund, rief «Gelobt sei Jesus Christ» in den Abend hinaus, rief die Mutter Gottes und drei Bauernheilige an und bat sie um ihren Schutz für die Alp und das liebe Vieh, dann verwünschte er wider jede Regel einen gewissen, unter Bauern verhassten Mann, den er mit Namen nannte, und schloss den Betruf so: «Er söll verlumpe oder dr Tüfel söll e hole! Das walte Gott!» 

Jakob glaubte nicht recht gehört zu haben, aber Jost bestätigte, dass Urs den Betruf gegen die gebräuchlichen Formeln dieses Gebietes unbekümmert eigenmächtig abwandle.

Die Freunde blieben draussen, bis alles Vertraute in der hier unvertrauten Dämmerung verschwand. Am Morgen darauf aber streiften sie voller Neugier zwischen Weide und Wildnis herum. Abends hörten sie Urs zum zweiten Mal beim Betruf, dem er auch diesmal eine ungewohnte Wendung gab. Er schloss seinen ältesten Sohn Franz, der als sein Nachfolger ein kleines Bergheimwesen bewirtschaftete, in das Gebet ein und beendete es so: «Bhüet üs dr Herrgott d’Alp und das lieb Veh und deheime de Franz und d’Frau und alli Chind! Das walte Gott!»

An diesem Abend stellte er schwarzen Kaffee auf und schien zu einem Gespräch bereit, aber erst, als Jakob mit dem Kirschwasser anrückte, das er auf Josts Rat zu diesem Zweck mitgebracht hatte. Die haarigen braunen Arme auf den rohen Tisch gelegt, das dunkle Gesicht im grauen Bart- und Haargewucher halb verborgen, musterte er mit seinen tiefgelagerten Augen forschend seine Gäste oder stellte verfängliche Fragen, die das öffentliche Leben betrafen, und begann unvermutetü ber Regierungen und Behörden zu schimpfen wie der ärgste Rebell.

Jakob fand ihn schwierig; ihm erschien er bald als grober alter Schalk, bald als verhetzter Bergbauer, der Land und Volk im übelsten Zustand sah. Er widersprach und sagte, die Behörde werde vom Volk gewählt, das die Verantwortung mittragen müsse. Leider scheine man heute aus Habsucht und Unternehmungswut den rechten Weg manchmal aus den Augen zu verlieren, aber am gesunden Kern des Volkes un dam guten Willen seiner Behörden dürfe man nicht zweifeln. Im Übrigen seien die Umstände der Zeit oft mächtiger als die Regierungen.

Der alte Bauer liess sich nicht belehren, er schlug wiederholt die gefausteten Fingerknöchel auf den Tisch, loderte vor Zorn oder starrte finster ins Herdfeuer, das den Hüttenraum spärlich erhellte.

Jost und Jakob bewahrten ihre Ruhe, gingen beizeiten schlafen und standen früh wieder auf. Sie wuschen sich amn ahen Brunnen, kochten ihren Milchkaffee und verliessen die Hütte. Ein wolkenloser, tiefblauer Himmel überwölbte die Alp, das hellgraue Gestein leuchtete, und die Rinder standen auf der frischgrünen Weide im Goldglanz der Morgensonne. Ein grosser Tag war angebrochen.

«Jost, das ist ja herrlich!», rief Jakob. «Mir ist … ich weiss nicht wie.» Er folgte Jost, der eine bestimmte Richtung einschlug, nur zögernd, blieb immer wieder stehen und staunte. Er war ein menschenfreundlicher, heiterer Mann, der seine harten Wegstrecken und trüben Anwandlungen ohne Schaden überstanden und schöne Tage genug erlebt hatte. Nie in seinem Leben aber hatte ihn eine so strahlende nahe Himmelsbläue beglückt, und nie hatte er eine so reine, frische Luft geatmet. Die letzten Sorgenreste seines städtischen Alltags waren verflogen, und sein Herz schlug ruhiger als je. Anschauend und immer wieder aufschauend wandelte er den Furchen seltsam geformter Schratten entlang, aus denen hochstengelige blaue Blumen ins Licht aufragten, und zwischen Felsblöcken herum, die wie mit Bedacht geschmückt erschienen und Blumen in jeder Ritze trugen.

Vor einem solchen Block stand Jost, rief ihn herbei und zeigte ihm erfreut, was er eben entdeckt hatte, ein rotblühendes Polster, einen Steinbrech, und daneben eine verwandte seltenere Art mit zarten gelblichgrünen Blüten, die er hier zum ersten Mal sah. Er wies noch auf anderes hin, das auf dem Felsblock wuchs, sie bewunderten es zusammen und gingen auch zusammen weiter, aber nach wenigen Schritten blieb Jost stehen, wandte erregt den Kopf hin und her und zeigte mit leisen Rufen auf ein Lebewesen, das aus dem blauen Himmel herabtanzte und flüchtig auf der Erde landete. Jakob sah drei Herzschläge lang einen Falter mit schwarzen Flecken und runden roten Punkten auf den weissen Flügeln, er kannte ihn nicht, betrachtete ihn aber hingegeben, angesteckt vom gespannten Entzücken des Freundes, der ihn nicht aus den Augen liess, bis er weggeflogen und verschwunden war. «Der Apollofalter», sagte Jost aufatmend und teilte mit, was er über ihn wusste.

Ein Steingeriesel lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Schutthalden im Hintergrund, wo der Berg nun nicht mehr in einer Wolke verschwand, von seiner Gestalt aber nur einen hoch in die Bläue gereckten felsigen Buckel zeigte. Jost vermutete Gemsen, doch waren auf dem Wechsel, der sich wie ein schmaler Pfad über eine Schutthalde hinzog, keine zuerkennen. Auf Jakobs Fragen schilderte er den Berg als höchsten einer Gruppe von unberühmten, angeblich nicht lohnenden und darum nur selten begangenen Stöcken und Firsten; auf der Karte heisse er Oberstaffelstock und gelte nicht als schwierig, aber die älteren Hirten hier hätten sich über diesen Berg ihre eigene Meinung gebildet. 

«Wenn du von Urs etwas darüber erfahren willst, wird er sich zuerst erkundigen, warum du fragest, und dann mit einem argwöhnischen Blick auf den Berg vielleicht sagen, dort oben sei nichts mehr. Das ist schonend ausgedrückt. Für Urs hört hier auf Oberstaffel die vertraute Erdenwelt auf, und was noch sichtbar darüber hinausgeht, grenzt an andere Bereiche; dorther kommt alles Unheimliche. Für mich hat viel Wunderbares dort oben noch eine letzte Zuflucht.»

Jakob zeigte in seiner hochgemuten Stimmung Lust, den Berg zu besteigen, und Jost führte ihn abseits der Schutthalden wenigstens zu einem Rasenband hinauf, das den weiteren Anstieg bequem und verlockend erscheinen liess; für die ganze Wanderung um und auf den Berg war der Tag zu weit vorgerückt. Jakob aber fand schon hier eine Belohnung und zeigte überrascht auf ein weisses, wie aus zartem Filz gebildetes Sternchen, das auf einem Felsgesims im mageren Grase stand. Die Blume, die gepresst, geschnitzt, gemalt allen möglichen Kitsch aus den Alpenländern zu schmücken hatte oder verpflanzt in Gärten entartete, das Edelweiss, hier sah Jakob es zum ersten Mal lebend in seiner Unschuld an seinem wahren Standort. Gerührt betrachtete er es. «Ja, hier kommtes immer noch vor», sagte Jost. «Das da ist nicht voll erblüht, aber bald findet man hier und höher oben prachtvolle Sterne; den schönsten hab’ ich einst für Vrene dort oben aus einer Plangg herabgeholt und dabei das Leben gewagt, ich Narr.»

«Das ist keine Narrheit. Vrene hat den Stern gewiss aufbewahrt und hat ihn heute noch, das trau’ ich ihr zu.»

«Ich werde sie nicht fragen, aber … was hat sie von mir gesagt? Ich solle mich wieder einmal zeigen? Möglich, dass ich sie bald sehen werde. Wenn wir noch länger da oben bleiben wollen, muss einer von uns nach Seewilen hinab und fürd en Nachschub von Proviant sorgen; das tu’ ich am besten selber.»

Jakob entdeckte etwas höher am Fels noch andere weisse Blüten. «Silberwurz», erklärte Jost. «Auch ein interessantes, mir sehr sympathisches zähes Sträuchlein. Aber komm, wir kehren um und machen dann da unten noch einen Abstecher.»

Zum Autor

Meinrad Inglin (1893–1971) Sohn eines Goldschmieds, Uhrmachers und Jägers, wurde mit siebzehn Jahren Vollwaise. Uhrmacher- und Kellnerausbildung, trotz fehlender Matura Studium der Literaturgeschichte und Psychologie in Bern, Genf und Neuenburg. Tätigkeit als Zeitungsredaktor, während des Ersten und Zweiten Weltkriegs Offizier im Grenzdienst. 1922 als Journalist in Berlin, danach als freier Schriftsteller in Schwyz. Für sein Werk (vor allem Romane und Erzählungen, einzelne Aufsätze, Notizen und eine Komödie) wurde Inglin vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Grossen Schillerpreis und dem Gottfried-Keller-Preis.

Jakob kehrte nur ungern um und nahm sich vor, die ganze Wanderung um und auf diesen Berg doch einmal zu unternehmen. Jost kam, während sie abstiegen, auf das Edelweiss zurück: «Die Botaniker sagen, es stamme gar nicht aus unseren Bergen, sondern sei als sibirische Steppenpflanze in der Eiszeit hier eingewandert.»

«Was wir dieser Eiszeit nicht alles verdanken!»

«Besser gesagt: was wir trotz den Eiszeiten dieser Erde nicht alles verdanken! Eiszeit … eine der unheimlichen Möglichkeiten, denen die Bewohner eines erkaltenden Sterns ausgesetzt sind.»

«Weiss man, warum?»

«Man kann annehmen, dass die Bahn unseres Planeten oder die Neigung der Erdachse, also unser Verhältnis zur Sonne, in langen Zeiträumen gewissen Schwankungen unterliegt; einig ist man sich darüber noch nicht. Das mittlere Jahresklima braucht hier nur um wenige Grade kälter zu werden, und wir stehen am Anfang einer neuen Eiszeit. Aber seit es auf der Erde Leben gibt, folgen auf Eiszeiten Paradiese wie auf Winter Frühlinge.»

«Seit wann also? Und wie alt ist die Erde?»

«Was hast du davon, wenn du das weisst? Der Ursprung der Erde ist für mein Vorstellungsvermögen so astronomisch, dass er mich weniger bewegt als die Fülle ihrer jüngsten Wunder. Ob es so oder so viele tausend Millionen Jahre her ist, seit sich die Erde als glühende Gaskugel aus der Sonne gelöst und ihre eigene Umlaufbahn angetreten hat, darüber gibt es verschiedene Meinungen. Unser Gasball hat sich abgekühlt, zusammengezogen und eine Kruste bekommen, auch das ist unter den im Weltraum herrschenden Umständen weiter nicht verwunderlich. Solche Krustensterne oder Planeten gibt es unzählige. Das Wunder aller Wunder aber beginnt auf unserer Kruste, auf der Kruste unserer Erde …»

Sie stiegen durch ein Rasentälchen hinab und sahen auf seiner höheren Lehne Feuerlilien, im Schatten orangerote, in der Sonne feuerrot ins tiefe Blau des Himmels aufflammende Blüten, dann erreichten sie Schrattenhänge, wo das scharfkantige graue Gestein unter grünen Teppichen fast verschwand und jeder Atemzug Düfte, jeder Blick neue Blumen und Falter entdeckte.

«Das Wunder aller Wunder beginnt auf der Erdkruste», wiederholte Jost. «Der Geist schwebt über ihren Wassern, und ein unergründlicher Wille erweckt sie zum Leben. Es überwältigt mich. Ich sehe kein Ende ab, finde keine Worte dafür und bin noch nicht einmal beim Menschen und seiner Geschichte. Ich erkenne Zeichen einer schöpferischen Macht auf Schritt und Tritt und bin schon ergriffen, dass unter glühenden und erstarrenden toten Sternen unsere Erdkugel somit Blumen und Faltern durch den Weltraum saust.»

Der Berg und die Staffelalpen drehten sich auf der Erdkugel nach Osten, aber auf Oberstaffel wuchsen die Schatten nur langsam über die Weiden herein, und der Rücken des Berges leuchtete noch grün und silbergrau in der Abendsonne. Der Hirt sass vor der Hütte und molk die Kühe, als seine Gäste zurückkehrten, dann machte er sich zum Betruf mit dem Holztrichter auf den Weg.

«Er hat gestern Abend ärger gelästert, als recht ist», sagte Jakob. «Dabei lebt er doch hier in einem Frieden, von dem die geplagten Leute in den Städten nur träumen können.»

«Ohne Grund schimpft er nicht.»

«Er übertreibt aber. Unser kleines Land hat es heute schwer, in diesem international versponnenen, industrialisierten, überbevölkerten Europa so viel wie möglich von seinem Erbe und seiner Eigenart zu bewahren; wenn man das bedenkt und ausserdem unsere Zustände mit denen anderer Länder und Völker vergleicht, besonders östlicher, dann darf man sich nicht mit Schimpfen begnügen.»

Der Hirt stieg schweren Schrittes auf den Hügel neben der Hütte, schaute über die Alp hin und setzte den Trichter an den Mund. Er begann wieder mit dem Rufe «Gelobt sei Jesus Christ», dann rief er «Ave Maria», rief die Heiligen Wendel und Antonius an, bat sie beschwörend um ihren Schutz gegen all das Üble, Böse, das uns umlauere, und schloss: «So bhüetid üs d’Alp und das lieb Veh und die lieb Eidgnosseschaft! Das walte Gott! In Ewigkeit. Amen.»


«Schneesturm im Sommer»

Meinrad Inglin ist einer der bekanntesten Unbekannten, seinen Namen kennen fast alle, seine Werke die wenigsten. Dabei ist er ein grosser Könner in einem grossen Spektrum unterschiedlicher literarischer Genres, stilistisch abwechslungsreich und sprachlich wohlkomponiert. «Schneesturm im Hochsommer» versucht, sein vielfältiges Schaffen abzubilden und damit einen literarisch hochinteressanten und oft überraschend aktuellen Schweizer Klassiker wieder breiter bekanntzumachen.

«Inglin ist seit Jahren genau der, von dem viele sagen, man hätte ihn ‹nicht auf dem Schirm› und der deshalb allen so präsent ist. Die Frage ist doch vielmehr: Was macht den Kerl so interessant, dass er nicht verschwindet? Er hat nie auf Effekt geschrieben. Er hat versucht, Verhältnisse zu beschreiben, wie sie sind. Eine Haltung, die nach dem ganzen postmodernen Klimbim auf eine neue Art interessant ist.»
Peter von Matt

Meinrad Inglin, «Schneesturm im Hochsommer».
Herausgegeben von Ulrich Niederer, Nachwort von Usama Al Shahmani, 256 Seiten, Leinenband, CHF 28.– (UVP), Limmat Verlag, Zürich

Umschlagfotografie: Dino Reichmuth, Unsplash
Typografie und Umschlaggestaltung: Trix Krebs
Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg
ISBN 978‑3‑03926‑021-8
© 2021 by Limmat Verlag, Zürich www.limmatverlag.ch

Beitrag vom 04.12.2022

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