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Drei Männer im Schneesturm (Kapitel 3.3) Aus «Schneesturm im Sommer»

Es dauerte noch eine Weile, bis sich Otto mit meiner Hilfe hinter den Schutzwall legte, wir mussten ihm kräftig zureden und zuletzt beteuern, dass wir ihn nicht vorher verlassen würden. Ich brachte ihn so weit, dass er meine Windjacke über seine eigene anzog, dann legte ich ihn ins Lager.

Sein gebrochener, haltloser Unterschenkel verursachte ihm dabei wieder einen derartigen Schmerz, dass Karl mir riet, ihm einen Notverband zu machen, was ich schon vorher hätte tun sollen. Ich band ihm das Bein mit zwei Wadenbinden fest an den Schaft seines Eispickels. Einen Teil unseres Proviantvorrats packte ich in seinen Rucksack, wir behielten für un snur ein paar Stücke Zwieback, etwas Schokolade und einen Schluck Cognac. Auch unsere Rucksäcke überliessen wir ihm, und ich machte daraus zu seinen Häupten ein niederes Zeltdach, indem ich sie geöffnet miteinander verband und mit den Riemen im Schutzmäuerchen befestigte. Wie Otto mich während dieser Arbeit anblickte, vergesse ich nicht; der Vorwurf, dass ich ihn preisgab, die aufsteigende Todesangst, die Bitte um Erbarmen, die verzweifelte Hoffnung, dass ich mich doch noch anders besinnen könnte – alles war in seinem Blick.

Ich schnitt unser Seil entzwei, weil ich die eine Hälfte zum Tragen verwenden, die andere hierlassen und später wenn möglich zum selben Zwecke brauchen wollte, dann machte ich eine einfache Tragschlaufe und lud mir Karl rittlings so auf den Rücken, dass er notdürftig sitzen konnte. Um den schwer erträglichen Augenblick nicht noch mehr zu belasten, nahmen wir so unfeierlich von unserem Kameraden Abschied, als ob uns nur eine flüchtige Trennung bevorstände, aber es kam uns hart an. «Bewege dich, so viel du kannst», riet ich ihm, «aber gib acht, dass der Bau nicht zusammenfällt! Iss und trink, was du hast, und schlaf nicht ein, dann kannst du es sicher aushalten!»

Er hatte bis jetzt geschwiegen, nun rief er plötzlich gereizt: «So geht doch einmal, geht, macht, dass ihr fortkommt!» 

Ich verzieh es ihm, wir hatten ihn ja vielleicht falsch behandelt; es musste ihm schwerfallen, mit dem Tod vor Augen unsere gespielte Zuversicht zu durchschauen und dennoch zu ertragen. Wir verzweifelten aber immerhin nicht ganz an der Möglichkeit, dass er es so nun doch aushalten könnte, und riefen zuletzt herzlich: «Auf Wiedersehen!»

Ich musste mit Karl so langsam und vorsichtig gehen und ihn so häufig abladen, dass ich nicht hoffen konnte, bei Tageslicht auch nur die Alp zu erreichen. Es war spät geworden, wir hatten viel Zeit verloren. Karl, der das linke Wadenbein gebrochen hatte, versuchte schliesslich, mit dem heilen Bein neben mir her zu humpeln, indem er den linken Arm um meine Schulter legte und sich mit der Rechten auf den Eispickel stützte. Wir kamen auf diese Art zwar nicht schneller vorwärts, aber ich konnte so doch meinen Rücken entlasten, ohne dass wir uns aufzuhalten brauchten. Von Zeit zu Zei ttrug ich ihn wieder.

Als wir die Alp erreichten, war die Nacht schon angebrochen. In einem ungewissen, von der Schneeblässe dämmernd erhellten Halbdunkel trug und führte ich Karl bis ungefähr in die Mitte des weiten Alpbodens, dann legte ich ihn ab und suchte die Hütte. Es schneite hier undichter und flockiger, doch immer noch schräg vor dem kalten Winde her. Hoch über mir ging der Sturm in sausenden Stössen, als ob dort riesige Tücher geschwungen würden. Ich schlug immer weitere Kreise und suchte und suchte, aber ich fand die Hütte nicht, ich fand sie nicht. Karl und ich riefen in der schwachen Hoffnung, dass sie doch nicht allzu fern sei und ein zurück gekehrter Hirt vielleicht noch dort übernachte, gemeinsam um Hilfe, aber niemand gab Antwort und nirgends schimmerte ein Licht aus der unheimlichen Dämmerung.

Ich ging weiter mit Karl, führte und trug ihn abwechselnd, bis endlich Bäume vor uns auftauchten, dann legte ich ihn unter eine Tanne und fiel neben ihm erschöpft zusammen; meine Beine zitterten, und ein Schluchzen würgte mir die Kehle, für das ich im Augenblick keinen Grund anzuführen gewusst hätte. Ich nahm mich zusammen und suchte es zu verbergen, ich wollte mir ausgerechnet jetzt vor Karl keine Blösse geben, und vielleicht bewahrte mich dieser Wille davor, den letzten Halt zu verlieren. Ich ass, was ich noch hatte, trank das Restchen Cognac und stand nach einer Viertelstunde wieder auf.

Ich hätte meinen durchfrorenen Kameraden nun bitten können, hier im nasskalten, tropfenden Walde fünf, sechs Stunden auf mich zu warten, er würde es ohne Widerspruch getan haben, und ich hätte dann zu Otto zurückkehren und ihn hinabtragen müssen, aber ich konnte nicht mehr. Ich war zwölf Stunden durch eine weglose Gegend gewandert, davon fünf Stunden im Schneesturm, ich hatte gefroren wie ein nasser Hund, ich war abgestürzt, hatte mich mit schmerzender Hüfte, ich weiss nicht wie lang, um zwei Männer bemühat und mit geschwollenen Händen Schnee, Dreck und Steine zusammengescharrt, ich hatte einen Mann zwei, drei Stunden weit geführt, gestützt, auf dem Rücken getragen,ü ber verschneite Hänge hinab, über eine Alp hin, alles fast ohne Rast und Ruh, von früh bis spät – jetzt konnte ich nicht mehr; ich bin gross und stark, aber ich konnte nicht mehr, so wahr ich lebe.

Ich verbrauchte den letzten Rest meiner Kräfte, um Karl durch den Wald hinab und in das erstbeste Bauernbett zu helfen, weiter unten in der Wirtschaft die Leute zu wecken, ein paar bergtüchtige Männer rufen zu lassen, die auch erstgeweckt werden mussten, und ihnen den Weg zum Verunglückten einzuprägen.

Zum Autor

Meinrad Inglin (1893–1971) Sohn eines Goldschmieds, Uhrmachers und Jägers, wurde mit siebzehn Jahren Vollwaise. Uhrmacher- und Kellnerausbildung, trotz fehlender Matura Studium der Literaturgeschichte und Psychologie in Bern, Genf und Neuenburg. Tätigkeit als Zeitungsredaktor, während des Ersten und Zweiten Weltkriegs Offizier im Grenzdienst. 1922 als Journalist in Berlin, danach als freier Schriftsteller in Schwyz. Für sein Werk (vor allem Romane und Erzählungen, einzelne Aufsätze, Notizen und eine Komödie) wurde Inglin vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Grossen Schillerpreis und dem Gottfried-Keller-Preis.

Halb ohnmächtig taumelte ich nach Mitternacht ins Bett, überzeugt, dass ich augenblicklich in den tiefsten Schlaf fallen werde. Ich täuschte mich, ich konnte nicht einschlafen und verbrachte zwei Stunden in einem Zustand, der zum Qualvollsten gehört, was man an Schlaflosigkeit erleiden kann, eine Erfahrung, die mancher übermüdete Berggänger schon vor mir gemacht hat. Am Ende schlief ich dann allerdings so, dass mich zehn Stunden lang das ärgste Gewitter nicht wachgedonnert hätte. Es war zwei Uhr nachmittags, als ich erwachte. Jemand klopfte an meine unverschlossene Tür, ich rief «Herein», und der Wirt streckte den Kopf ins Zimmer. «Sie bringen ihn», sagte er gedämpft. «Der Doktor ist auch gekommen.»

Ich dachte an das, was geschehen war, trat nach ein paar Minuten halb angekleidet an ein Fenster und wunderte mich, dass ich keinen Schnee mehr sah, obwohl ich hier schon gestern keinen gesehen hatte. Da draussen lag ein mir fremdes, enges, von schwarzgrauem Regengewölk düster verhängtes Tal mit einer Schlucht und mageren, zu vernebelten Waldsäumen hinaufsteigenden Weiden. Vor dem Hause war eine Art Gartenwirtschaft mit rohen Holztischen, und auf einen dieser Tische hatten eben zwei Bergbauern eine Bahre abgestellt; der eine nahm langsam seine Iltispelzmütze vom Kopf, der andere schlug die Kapuze seines weissen Hirthemdes über den blonden Haarschopf zurück, die Übrigen, die dabeistanden, zogen ihre verknüllten nassen Hüte und behielten sie in der Hand. Ein älterer Herr in einem dunklen Überzieher, der Arzt, wie ich annahm, beugte sich über die Bahre und schlug die Sacktuchhülle zurück; nach einer Weile richtete er sich auf und nahm den Hut auch ab. 

Der Mann, der diese Geschichte erzählt hatte, schwieg, und niemand unterbrach sein Schweigen.

«Damit wäre ich eigentlich zu Ende», sagte er darauf, «aber ich muss doch das sonderbare Nachspiel noch erwähnen, das mir ein paar Monate später den Aufenthalt in jenem Dorfe zu verleiden begann. Karl und ich hatten am Begräbnis teilgenommen, den Hinterlassenen unser Beileid ausgesprochen und der betroffenen Frau gelegentlich schonend berichtet, jeder auf seine Art, wie sich alles zugetragen habe. In diesem Berichte, den wir natürlich dann da und dort im Dorfe wiederhole nmussten, stimmten wir offenbar nicht immer bis aufs Tüpfelchen überein. 

Ein Gemunkel entstand, von dem wir so lange nichts ahnten, bis ein misstrauisch veranlagter Onkel Ottos mich fast wie ein Verhörrichter auszufragen begann, warum ich nicht sofort Hilfe geholt, warum ich nicht Otto, sondern den weniger verletzten Karl gerettet und warum ich die Alphütte nicht länger gesucht habe, ferner warum ich von der Alp nicht zurückgekehrt sei, um Otto wenigstens aus dem ärgsten Sturm herauszuschaffen. Ich antwortete dem sauertöpfischen Herrn kurz und bündig, dass dort oben das Los entschieden habe und dass er sich über die andern Punkte bei Karl erkundigen möge. Den wahren Sachverhalt hatte ich immer verschwiegen, auch vor Karl, der meine Bemühungen um Otto in der Folge so hervorhob, wie ich es nur wünschen konnte. 

Das Gemunkel, das sich übrigens nie zu etwas Greifbarem verdichtete, liess jedoch gewissen Leuten offenbar keine Ruhe, ich hörte immer wieder davon. Wie die Angehörigen selber sich dazu stellten, weiss ich nicht, aber wenn ich sie auf der Strasse traf, schien mir, dass sich in der Art, wie sie meinen ernsten Gruss erwiderten und an mir vorbeigingen, etwas geändert habe. Besonders das kleine Anneli, ein hübsches Töchterchen, das wohl irgendein Kindergeschwätz aufgeschnappt haben mochte, blickte mich jedes Mal mit grossen, vorwurfsvollen Augen an, und da ich ja in der Tat seinen Vater preisgegeben hatte, begann mich das zu wurmen, ich wich den guten Leuten aus und machte die Sache dadurch noch schlimmer. Am Ende räumte ich leichten Herzens meinen Platz einem jungen Berufsfotografen und verzog mich in eine andere Gegend.

Karl blieb dauernd mit mir in Verbindung, und heute, nach Jahren, weiss ich zum Beispiel durch ihn, dass Ottos Sohn das väterliche Geschäft tüchtig weiterführt, Anneli eine umworbene, lebenslustige Tochter geworden ist und die Mutter wieder lachen kann, dass also alles seinen natürlichen Gang genommen hat und niemand mehr lang im Schatten stehenbleibt, den das Unglück aus vergangenen Tagen noch manchmal herüberwerfen mag. Von Karl weiss ich auch, dass ein paar üble Schwätzer mein Verschwinden einem schlechten Gewissen zuschrieben; da ich ein gutes hatte, konnte mich das ungreifbare trübe Gespinst, mit dem Karl fertig zu werden versprach, nicht weiter bekümmern. 

Die Wahrheit behielt ich auch ferner für mich allein, weil sie mich in den Augenvieler kleinmütig gottesfürchtiger Leute, vor allem aber der betroffenen Angehörigen, in kein besseres Licht versetzt hätte. Ich könnte ihnen sagen, Gott habe mich nicht mit Vernunft, Gewissen und Urteilsvermögen begabt, damit ich im gegebenen Fall darauf verzichte und durch das Los eine Art Gottesgericht heraufbeschwöre. Wenn Gott richten und gar nach der Bibel am Jüngsten Tage die Guten von den Schlechten scheiden müsste, so würde allerdings bei jedem der unzählbaren Mittelmässigen, die weder entschieden gut noch schlecht sind, ein ebenso geringes Mehr oder Weniger, wie es meiner Entscheidung zugrunde lag, genügen, um ihn auf diese oder jene Seite zu winken. Es wird aber keine Haarspaltereien geben, und wir unter uns haben Grund zur Duldsamkeit.

Auch ich habe nicht gerichtet, ich habe nur aus Not demjenigen geholfen, den ich ohne Vorurteil als den Bessern erkannte, und ich wiederhole, dass ich in meinem Innersten mich dazu ermächtigt fand. Mag es allen, die in dieser Hinsich tbescheidener sind, vermessen erscheinen, ich nahm es auf mich und trage es mit gutem Gewissen noch heute.»



«Schneesturm im Sommer»

Meinrad Inglin ist einer der bekanntesten Unbekannten, seinen Namen kennen fast alle, seine Werke die wenigsten. Dabei ist er ein grosser Könner in einem grossen Spektrum unterschiedlicher literarischer Genres, stilistisch abwechslungsreich und sprachlich wohlkomponiert. «Schneesturm im Hochsommer» versucht, sein vielfältiges Schaffen abzubilden und damit einen literarisch hochinteressanten und oft überraschend aktuellen Schweizer Klassiker wieder breiter bekanntzumachen.

«Inglin ist seit Jahren genau der, von dem viele sagen, man hätte ihn ‹nicht auf dem Schirm› und der deshalb allen so präsent ist. Die Frage ist doch vielmehr: Was macht den Kerl so interessant, dass er nicht verschwindet? Er hat nie auf Effekt geschrieben. Er hat versucht, Verhältnisse zu beschreiben, wie sie sind. Eine Haltung, die nach dem ganzen postmodernen Klimbim auf eine neue Art interessant ist.»
Peter von Matt

Meinrad Inglin, «Schneesturm im Hochsommer».
Herausgegeben von Ulrich Niederer, Nachwort von Usama Al Shahmani, 256 Seiten, Leinenband, CHF 28.– (UVP), Limmat Verlag, Zürich

Umschlagfotografie: Dino Reichmuth, Unsplash
Typografie und Umschlaggestaltung: Trix Krebs
Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg
ISBN 978‑3‑03926‑021-8
© 2021 by Limmat Verlag, Zürich www.limmatverlag.ch

Beitrag vom 04.09.2022

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