© Dino Reichmuth/ unsplash

Die Zeit holt den Spiegel nach (Nachwort) Aus «Schneesturm im Sommer»

Von Usama Al Shahmani

Weniger als sechs Monate nach meiner Geburt in Bagdad starb der Schweizer Autor Meinrad Inglin am 4. Dezember 1971 in seinem Haus «Im Grund» in Schwyz. Fünfzig Jahre liegen zwischen seinem Gehen und meinem Kommen. Ich lese ihn heute und spüre, wie nah wir einander sind. Die Lektüre seiner Erzählungen wurde mir zu einer Begegnung mit ihm, einer gemeinsamen Wanderung in den Schweizer Alpen, auf der er mir vieles aus seinem Leben erzählt. Er eröffnete mir einen neuen Blick auf die schweizerische Gesellschaft, die Politik und Literatur.

Ich hatte nicht das Glück, in einem Haus aufzuwachsen, in dem Bücher gelesen wurden oder es überhaupt welche gab. Ich war glücklich, dass ich in der südirakischen Stadt, wo ich aufgewachsen bin, eine kleine Bibliothek besuchen und dort ein wenig von der Weltliteratur kennenlernen konnte. Es gab nicht gerade viel Schweizer Literatur in dieser Bibliothek, ein paar kleine Bücher, simple Reiseführer, welche die Kultur der Schweiz zu repräsentieren hatten – die Bibliothek als eine Art analoges Wikipedia. 

Später, während meines Literaturwissenschaftsstudiums an der Universität in Bagdad, konnte ich ausgewählte Texte von Gottfried Keller, Robert Walser und Friedrich Dürrenmatt lesen. Ich werde nie vergessen, was unsere Professorin im Fach Vergleichende Literatur auf die Frage einer Studentin: «Gibt es Schweizer Autorinnen?», antwortete: «Ja, bestimmt gibt es welche. Aber die Araber übersetzen nur für Männer, und weil wir meistens nur Englisch als Fremdsprache kennen, haben wir keine Möglichkeit, diese Literatur in ihrer Originalsprache kennenzulernen.»

Zwei Jahre vergingen. Zu Beginn des Sommers 1990 wurde an der Universität von Bagdad ein Projekt angekündigt, in dessen Rahmen Weltliteratur ins Arabische übersetzt werden sollte. Darunter war auch der Roman «Schweizerspiegel» von Meinrad Inglin. Es ging der Fakultät um Literatur, in welcher der Erste Weltkrieg und sein Echo zur Sprache kamen. Ein paar Wochen nach dieser Ankündigung marschierte Saddams Republikanische Garde in Kuwait ein. Vier Monate danach, im Januar 1991, brach der zweite Golfkrieg aus, und in der Folge verschwand dieses Übersetzungsprojekt wie vieles andere, was dieser Krieg an irakischer Kultur und ihrer Weltoffenheit vernichtete. So blieb der «Schweizerspiegel» im arabischen Raum eine Leerstelle. Sie stand da als Mahnmal und wartete auf jemanden, der dem arabischen Raum vermitteln würde, wie Inglin die Auswirkungen eines Krieges auf die Gesellschaft dargestellt hatte.

Was wissen wir Araber denn überhaupt von der Schweizer Literatur? Ich habe recherchiert und festgestellt, dass sehr wenig davon ins Arabische übertragen wurde. Persönlich kannte ich diese Literatur im Irak nur flüchtig. Ausser zweivollständigen Romanen von Max Frisch habe ich nicht vielin die Hand bekommen. Die wahre Reise hin zu dieser Literaturbegann für mich erst, als ich beschlossen hatte, selbst einen kleinen Teil dieser riesigen Leerstelle mit Übersetzungen zu füllen. Im Jahr 2004 besuchte ich den Ammann Verlag in Zürich und lernte Egon Ammann kennen. Nach einem kurzen Gespräch über die Schweizer Literatur im arabischen Literaturbetrieb erhielt ich von ihm ein paar Bücher, unter anderen den Roman «Fräulein Stark» von Thomas Hürlimann, den ich zwei Jahre später ins Arabische übertrug. Am Ende unseres Gesprächs fragte ich ihn, ob er zufällig wisse, was aus dem «Schweizerspiegel»-Vorhaben geworden war. «Wurde er ins Arabische übersetzt?» Er wusste es nicht, und mir wurde klar, dass es wirklich nie zu dieser Übersetzung gekommen war. Sollte ich das übernehmen?

Fast lieber würde ich eigentlich diese Erzählsammlung übersetzen, die mich stark angezogen hat. Auf der sprachlichen Ebene fasziniert mich Inglins Poesie, und auf der thematischen Ebene sind es die Liebe seiner Protagonisten zur Natur sowie der leise Humor und die feinen märchenhaften Elemente, die Inglin raffiniert ins Gewebe des Textes flicht. 

«Jawohl, das gibt es», sagte der Aal, der zugehört hatte. «Ich habe selber fliegende Fische gesehen.» – «Aber bitte, wie machen sie das?», fragten die Seeforellen. Das wusste der Aal nicht. «Ich habe nie besonders darauf geachtet», sagte er, «und das Fliegen hat mich selber auch gar nicht gelockt. Sie werden es aber wohl gelernt haben.» –«Wenn man das lernen kann», riefen die Seeforellen, «so werden wir es lernen, so viel ist sicher. Aber wie und wo?» Der Aal riet ihnen, den alten Hecht im Schilf an der Flussmündung zu fragen. «Er ist der älteste Fisch in unserem See, er hat die grösste Erfahrung und weiss alles. Natürlich ist er nicht mehr so wach und wendig wie ihr, aber seid trotzdem auf der Hut! Er war früher ein starker Räuber und ist noch heut imstande, zwei unehrerbietige Burschen am Schwanz zu nehmen.» (Zwei hochmütige Seeforellen)

Beim Lesen erinnerte ich mich an das, was die Araber immer wieder sagen: «Ein Dichter zu sein, ist keine freie Wahl. Ein Dichter wird Dichter, wenn er eine besondere Beziehung zur Natur hat und keine andere Möglichkeit findet als die Sprache, um diese zum Ausdruck zu bringen.» Diese Besonderheit in der Beziehung zur Natur und die Weite des Geistes habe ich bei keinem anderen Schriftsteller so gespürt wie bei Inglin. Die Natur ist der Nährstoff und der Lebensraum seiner Sprache. Sie ist das Gerüst, auf das sich seine Sprache stützt, und das Fundament einer unendlichen Sehnsucht nach Heimat. Diese Sehnsucht scheint in manchen Geschichten eine mächtige Quelle der Narrativität zu sein. Man kann Inglins Literatur vor allem dann gut nachvollziehen, wenn man seine Haltung zur Natur begreift. 

Wenn auf der Wiese das Emd gesammelt und auf dem Acker geerntet war, ging der alte Bonifaz eines Tages in der Herbstsonne von früh bis spät gemächlich dem Hag entlang. Er rauchte sparsam eine Deckelpfeife, die ihm in den grauen Bart hinabhing, seine gebräunte Glatze glänzte, und seine Augen blickten freundlich auf das Gestrüpp, wo ihm jeder besondere Strauch bekannt war. Über seiner mächtigen Schere, mit der er ruhig und gleichmässig arbeitete, fielen Dornschosse, laubige Zweige und hochgewachsene Ruten zusammen. Häufig stoben Vögel vor ihm aus dem Dickicht, um eine Strecke weiter wieder einzufallen, und er brummte beruhigend. Ein Hase sprang ihm vor den Füssen weg, er blickte ihm lachend nach, wie er mit hochgestellten Löffeln flüchtete, und fand im Laub seine Sasse. (Der Lebhag)

Seine Figuren definieren ihr Menschsein im Verhältnis zur Natur. Diese Verbindung ist das Netz, das die Geschichten innerhalb des Bandes miteinander verwebt. Die Flucht der Figuren in die Natur lässt sich als Gleichnis dafür lesen, dass sie dort sich selbst verstehen lernen, wenn sie ihrer eigenen Ratlosigkeit entfliehen – so wie beispielsweise in der Geschichte «Die entzauberte Insel».

Der See mit seinen stillen, von Schilf, Ried und Wald begrenzten, von Bergen hoch umgebenen Ufern glänzte im frühsommerlichen Nachmittagslichte. Die Insel lag dem westlichen Waldufer gegenüber auf einer Klippe, einem unregelmässig aus dem Wasser ragenden Felskopf, den seit Menschengedenken eine kleine Wildnis bedeckte. Sie war nicht grösser als ein mittlerer Dorfplatz, aber voll heimlicher Winkel und Schlüpfe. (…) Als endlich mit heissem Glanz und grell durchblitzten schwülen Nächten ihr Feriensommer anbrach, betraten sie die Uferklippe schon eines frühen Morgens hochbeglückt wie Entdecker ein märchenhaftes Eiland.» (Die entzauberte Insel)

Im Zentrum dieser Erzählung stehen vier junge Menschen, die auf diese «entzauberte Insel» fliehen. Es geht um ihre Lebensbedingungen dort – und die Bilder der Natur als Symbol ihrer Verwandlungen. Die Insel ist Fluchtort und Sehnsuchtsort zugleich. Sie dient als Symbolraum und als Feld zwischen Identität, Natur, Begehren und Mythos. Die Distanz zwischen diesen vier Aspekten verkleinert sich dadurch, dass alle vier am Ende eins werden, und die real wirkenden Ereignisse auf der Insel werden immer mehr von einer märchenhaften Atmosphäre verdrängt. Die Fantasie zeigt sich in Form einer Realität, und dieser Widerspruch lässt die Natur noch kräftiger werden. Die dauernde Lautheit der Natur, die wild und kraftvoll dargestellt ist, definiert sich so auch als ewig jung und sich stets erneuernd. Auch die Tiere auf der Insel – die Schlange oder die Fische beispielsweise – können als Symbol der Verführung gelesen werden, die sich auch in der Gemeinschaft und der Harmonie zwischen den Jugendlichen spiegeln. 

«Die Alte kommt», flüsterte er. «Die Schlange.» Siefolgten ihm leise ans westliche Ufer und spähten stumm aus dem Unterholz. Eine Schlange schwamm auf die Insel zu; den dunklen Kopf über das Wasser erhoben, doch mit den Windungen des geschmeidigen Leibes kaum einmal die Oberfläche berührend, nahte sie rasch und unauffällig. Sie züngelte, als sie landete, man sah ihre gespaltene, fadendünne Zunge und ihre gelben Backenflecken, dann tauchte lang wie ein Menschenarm ihr schwarzgefleckter grau-brauner Rücken auf; sie kroch, eine feuchte Spur hinterlassend, über eine schräge Steinplatte und verschwand am Ufer.» (Die entzauberte Insel)

Auch in der Geschichte «Wanderer auf dem Heimweg» wird die Natur zum Fluchtort und als Spielplatz einer verlorenen Kindheit dargestellt. Jede Entfernung von der Natur bedeutet da, sich selbst fremd zu werden. Die Hauptfigur, Hoteldirektor Marcel Leuenberger, findet seine Identität durch die Nähe zur Natur und durch seine Suche nach einer ewigen Heimat in ihr. Darin nimmt die Geschichte ihren Anfang:

«Wohin, wohin?», fragte die Frau. «Nach Seewilen. Kommst du mit?» – «Nach Seewilen? Bitte, was willst du denn dort?» – «Mich ein wenig umsehen. Ich bin seit meiner Jugend nie mehr dort gewesen. Es ist eine wunderbare Landschaft. Der See hat dort ein Ufer mit einer reizenden Halbinsel, auf der man zum Beispiel ein Chalet bauen könnte, ein komfortables kleines Ferienhaus für uns beide.» – «Jakob!» Sie starrte ihn forschend an, schüttelte den Kopf und erklärte entschieden: «Dafür hab’ich keine Zeit. Aber bitte, fahr nur ruhig hin!» (Wanderer auf dem Heimweg)

Dieser Protagonist ist zutiefst zerrissen – er fühlt sich fremd in der Zivilisation und möchte sich am liebsten in der Natur auflösen. Damit verweist er als Figur auf einen zentralen Moment im Diskurs der Moderne. Und mit der Entwicklung der Geschichte gewinnt die Natur eine weitere Bedeutung– nämlich als Schauplatz, auf dem die tiefe Ratlosigkei teiner Familie auf die Spitze getrieben wird. Die Wanderung der Hauptfigur in die Landschaft und das Gebirge ist die wichtigste und schönste Bewegung in ihrem Leben, die heilend ist, am Schluss aber auch in den Tod führt. Dieser Direktor verlässt seine Arbeit als Leiter eines grossen Hotels und kehrt der modernen Zivilisation den Rücken, weil er sich entfremdet fühlt. 

Die Paradiese liegen dazwischen. Am Ende des Tertiärs wurde es auf der Erde kälter, die Gletscher stiessen vor, die Palmen erfroren, die Vögel flogen weg, und die Säuger verzogen sich in tiefere Lagen. Der Mensch überstand die Eiszeiten als Jäger, dafür haben wir Beweise. Er war jetzt nicht mehr völlig in seiner Umwelt befangen, er stand ihr gegenüber, vielleicht mit einem Schimmer von Güte in den Augen, wie wir hoffen wollen,u nd mit der Furcht vor höheren Mächten. Er kämpfte gegen Tiere und Gespenster um sein Dasein, erwies sich als unerhört lebenstüchtig und eröffnete eine Epoche, die man gern das Zeitalter des Menschen nennt.» (Wanderer auf dem Heimweg)

Er bricht auf, er wandert, auf der Suche nach einem Sinn, einer Spiritualität, die ihn mit einem Felsen, einem Baum, einem Fluss oder einem Sonnenstrahl verbindet.

Diese Wanderung hat mich sehr berührt. Die Entfremdung des Hoteliers von seinem Betrieb und sein Bedürfnis zum Wandern ähneln meinem Fremdsein im Exil und meiner Hinwendung zum Wandern, um mich zugehörig zu fühlen. Ich habe mich im Bild dieser Figur wiedergefunden. Wandern, diese natürliche Bewegung, die ich glücklicherweise in der Schweiz entdeckt habe, hat mein Leben in ein Vorher und ein Nachher geteilt. Es ermöglichte mir, mich selbst zu finden und mich von der Flucht, ich möchte fast sagen: reinzuwaschen. Auch meine Art des Schreibens hat das Wandern enorm beeinflusst. Ich bewege mich ständig in zwei Sprachen und Kulturen und schaukle zwischen irakischen Landschaften und schweizerischen Bergwelten. Deutsch oder Arabisch, Berge oder Wüste, keines von beidem ist ausschliesslich, beides ist das eine im anderen. Natürlich gibt es zwischen der Figur des Hoteliers und mir auch einen grossen Unterschied: Er ist Schweizer und Direktor eines grossen Betriebs, ich bin ein Autor im Exil. Aber wir beide waren gezwungen, unsere teilweise vertraute Umgebung fluchtartig zu verlassen; er wegen seiner immer grösser werdenden Entfernung von der Familie und dem Rest der modernen Gesellschaft, ich wegen der Diktatur. Wir beide haben die Hoffnung in uns getragen und sie in einen Wald gepflanzt, um eine Heimat zu finden. Dieser Mann richtet seinen Blick auf die Alpen. Ich bilde mir ein, dass auch er die schweigende Bergwelt als die einzige Erlösung wahrnahm.

Das Zwielicht eines frühen Märzabends schwankte um die Dachterrasse, die Tageshelle verblasste kalt, dunstig, nur im Süden leuchteten über den nahen Wipfeln stehen gebliebener Parkbäume und dem fernen fahlen Saum verschneiter Berge noch rötlich goldene Wolkenfische aus dem offenen Himmelsrand. Die wachsende Stadt hatte den ehemaligen Park schon fast verschlungen, von beleuchteten Bauplätzen reckten sich Krantürme in den Abendhimmel, Antennengerippe horchten gierig über die Dächer hinaus und trugen den Hausbewohnern auch den Lärm der entfernteren Welt an die Ohren. (Wanderer auf dem Heimweg)

Diese Erzählung scheint mir immer noch sehr aktuell zu sein, auch wie sie nach einer Sprache sucht, um dem Tod beizukommen. So wie der Erzähler hier die Natur philosophisch betrachtet, wird die Erzählung zu einer äusserlichen und innerlichen Bewegung auf der Suche nach dem Sprechen über den Tod. Reicht die Sprache für die Anwesenheit des Lebens mit all seiner Beweglichkeit aus für die Abwesenheit des Todes mit all seinem Stillstand? 

Der Tod als Motiv und als Realität prägt nicht nur die Figur dieser Geschichte, sondern auch andere in dieser Sammlung. Immer wieder stossen wir auf Figuren, die eine poetische Schilderung oder ein Bild für den Tod oder für die Einsamkeit zu schaffen versuchen. Und wenn es um den Tod geht, verwandelt sich Inglins Sprache manchmal zu einer Meta-Sprache, einer Sprache, die sich über das Gewöhnliche erhebt. Aber ohne kompliziert zu sein. Sie eröffnet Zugänge zur gedanklichen Tiefe an den Tod und bringt den Tod auf einer Parallele mit dem Leben zusammen. Eine solche philosophische Haltung fand ich auch in der Geschichte «Meister Sebastian».

«Ziellos wanderte er nun herum, Müdigkeit und Hunger zehrten an seinen Kräften, die Fremde wehte ihn an wie ein Winterwind, und die Erniedrigungen des Bettlerlebens wurden ihm unerträglich. Er fühlte sich reif zum Sterben und beschloss, heimzukehren, um noch dies und jenes in Ordnung zu bringen. Daheim wollte er auf sich nehmen, was ihm beschieden sein würde, und ruhig dem Ende entgegensehen. Der Heimweg war aber weit, und als er endlich durch das ihm vertraute Unterland kam, sah er in der Ferne die Wälder und Berge schon winterlich verschneit.» (Meister Sebastian)

Dieser Künstler entfaltet eine zusätzliche Sinndimension in seinem Leben. Seine Stimme und sein Bild schweben indem grossen Raum seines Denkens. Er sucht neben der Kunst nach einem weiteren Sinn in einer Fantasiewelt. Ich weiss nicht, warum ich während der Lektüre dieser Geschichte an einen Satz, den mein Grossvater einmal sagte, erinnert wurde:« Es gibt Erfahrungen im Leben, die eine gewisse Schärfe in uns verursachen, einmalig und spürbar, wie wenn du einen Löffel Olivenöl direkt von der Presse probierst. Es wird auf deiner Zunge brennen, und diesen Geschmack wirst du nichtvergessen, egal, welche Art von Olivenöl du danach verzehrst.»

Der Künstler bewegt sich in dieser Geschichte klar und fantasievoll, aber auch ein bisschen traurig. Die Erzählung fasziniert mich, und ich denke, das Geheimnis dieser Faszination liegt in der unverwechselbaren Art, widersprüchliche Welten miteinander zu verweben, die den Leser manchmal verwirren und ihn fragen lassen, ob etwa diese Geschichte eine überlieferte ist oder eine Erfindung des Autors. Und die Poesie von Inglins Sprache im Hintergrund ist die wahre Kunst dieses Künstlers, die die verschiedenen Ebenen seiner Geschichte leuchten lässt.

Der Meister rüstete sieben gleiche Blöcke vom besten Lindenholz und ging an die Arbeit. Er schnitzte zuerst die Figur des Edelmanns und spürte schon bald, dass ihn einer anfeuerte. Diesmal war ihm der glühende kleine Mann willkommen, und er gehorchte seiner Stimme, ohne zu fragen oder nach ihm hinzusehen. Als er prüfend den fertigen Edelmann betrachtete und nicht recht zufrieden war, sagte die Stimme: «Ein wenig fehlt ihm noch, aber das kannst du nachholen, jetzt kommt der Bürger dran.» (Meister Sebastian)

Zum Autor

Meinrad Inglin (1893–1971) Sohn eines Goldschmieds, Uhrmachers und Jägers, wurde mit siebzehn Jahren Vollwaise. Uhrmacher- und Kellnerausbildung, trotz fehlender Matura Studium der Literaturgeschichte und Psychologie in Bern, Genf und Neuenburg. Tätigkeit als Zeitungsredaktor, während des Ersten und Zweiten Weltkriegs Offizier im Grenzdienst. 1922 als Journalist in Berlin, danach als freier Schriftsteller in Schwyz. Für sein Werk (vor allem Romane und Erzählungen, einzelne Aufsätze, Notizen und eine Komödie) wurde Inglin vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Grossen Schillerpreis und dem Gottfried-Keller-Preis.

Auch in Erzählungen über schwierige Ereignisse und Zustände trägt Inglins Sprache den Leser – wie beispielsweise in «Drei Männer im Schneesturm» und «Missglückte Reise nach Deutschland». Diese zwei Geschichten werden oft als Berichte bezeichnet, für mich sind sie aber mehr als das, weil ihre Sprache und ihre Form mehr als eine konkrete journalistische Gattung sind. Inglin schildert das Geschehen in einer literarischen Sprache, und vor allem berichtet er nicht nur detaillierte Informationen und Ereignisse, sondern taucht in sie hinein. Und die Krisen nehmen seine Sprache nicht gefangen in irgendeinem dunklen Raum, Inglins Sprache verstummt nicht und wird auch nicht machtlos. In «Missglückte Reise nach Deutschland» begegnet der Leser einem Schweizer, der in einer schwierigen Zeit in Deutschland unterwegs ist – einem sich zur Neutralität verpflichtet fühlenden Schweizer.

Wo man auch hinkam und sich als Schweizer zu erkennen gab, hatte man die begierige Frage zu beantworten: «Was sagt man denn in derSchweiz dazu?» (Missglückte Reise durch Deutschland)

Der Autor in dieser Geschichte ist mehr als ein beauftragter Kurier im Land der Diktatur. Er stellt sich selbst im besten Licht dar, so wie er seine Erfahrungen und Beobachtungen inszeniert – aus politischen wie gesellschaftlichen Motiven heraus.

Ich versuchte den Standpunkt der Heimat so gut zu formulieren, wie es mir möglich war, und wies vor allem auf die schwierige und heikle Notwendigkeit hin, einerseits die Neutralität zu wahren, anderseits aber im Nationalsozialismus den möglichen Angreifer zu erkennen und eine Gesinnung zu stärken, die es unter keinen Umständen erlaube, mit ihm zu paktieren. (Missglückte Reise durch Deutschland)

Der Autor schildert keinen neutralen Alltag in einem Deutschland unter den Nationalsozialisten. Dieser literarisch geformte Bericht schildert die angespannte militärische Situation in der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs. Eine zentrale Frage, die zwischen den Zeilen zu finden ist, lautet: Wie wurde der Krieg in der Schweiz wahrgenommen? War es wirklich möglich, die Augen davor zu verschliessen? Die paradoxe Frage, ob man als Einzelperson oder Staat vermeintlich objektiv auf einen Krieg schauen oder ihm gegenüber tatenlos bleiben kann, steht im Zentrum dieser Erzählung. Sie macht deutlich, dass die «neutrale Haltung» der Schweizer Bevölkerung gegenüber diesem Krieg in Tat und Wahrheit ein Krieg gegen sich selbst war. Und so verursacht diese Reise beim Autor eine Krankheit; sie lässt ihn das Übel des Krieges an seinem eigenen Körper spüren. Er wird krank, und je tiefer im Land er ist, desto schlimmer wird seine Krankheit. Er bricht seine Reise ab. 

Indessen war mein Fieber noch gestiegen, ich mass wiederholt 40 und mehr Grade, und die nächste Untersuchung durch den Arzt ergab, dass ich Lungenentzündung hatte. (…) Ich versuchte einen klaren Kopf zu behalten, aber langsam ging nun eine Änderung mit mir vor, die sich meiner Einwirkung entzog. Ich mass mir nach Vorschrift noch einmal das Fieber und las 40,7 ab, dann geriet ich, von gewohnten Gedanken und Gefühlen, auch körperlichen Gefühlen, nicht mehr behelligt, in einen Zustand ruhiger Sammlung. Mir schien, ich sei in eine durchsichtige, glühende roteKugel eingeschlossen, die alles Unwesentliche, Störende von mir abhielt, ich fühlte mich darin tief geborgen und war bereit, ohne Widerstreben nun so zu erlöschen. (Missglückte Reise durch Deutschland)

Die Reaktion seines Körpers erinnerte mich an die irakischen Kriege, die ich mal als Schüler, mal als Student erleben musste. Die Beschreibungen, wie die Strassen verdunkelt wurden und alles stickig wurde, erinnern mich an mein damaliges Verhältnis zwischen den irakischen Kriegsnachrichten und meinem Körper. Wie oft war ich krank, so wie viele Menschen meiner Generation. Uns war unwohl. Den einzigen Widerstand, der uns möglich war, hat unser Körper durch Ohnmacht und Fieber geleistet. Das Gift des Krieges, seine Sprache und seine Farbe haben unsere Körper angesteckt und unsere Abwehrkräfte geschwächt. So wie der Autor in dieser Geschichte in Deutschland haben auch wir das Fremdsein gespürt. Der einzige Unterschied zwischen dem irakischen Fall und Inglins Geschichte ist, dass wir in unserem eigenen Land waren.

Was mir an dieser Geschichte, aber auch in den vielen anderen Stimmen dieser Sammlung so gefällt, ist die hoffnungsvolle Haltung, die darin immer wieder auftaucht, mal leise, mal laut. Auch in Geschichten, in denen eine dunkle Farbe dominiert wie in «Drei Männer im Schneesturm», geht diese Stimme nie verloren. 

«Da unten auf der Alp ist doch ein Stall, nicht?», fragte ich. «Ja, aber wie willst du den finden!», erwiderte Otto dumpf. «Er steht irgendwo mitten auf der Alp … Aber du würdest ihn nicht finden, auch wenn du wüsstest, wo er wäre … man sieht ja nichts.» – «Aber ich kann ihn suchen, verdammt noch mal! Und dann schleppe ich euch beide hinab.» – «Hinab wären es etwa zwei Stunden und hier hinauf drei … bis dahin …» – «Aber es wäre doch eine Möglichkeit!», warf Karl ein. «Jawohl!», rief ich. «Und solang es eine Möglichkeit gibt, hat es keinen Sinn, den Kopfhängen zu lassen, Otto. Der Stall wird gesucht. Und einen von euch nehme ich gleich mit … oder versuche es doch wenigstens.» (Drei Männer im Schneesturm)

Inglin liebt seine Figuren und lässt sie selten hoffnungslos zurück. Und die Hoffnung zeigt sich im gesamten Buch als eine innere Notwendigkeit und nicht als reine Zierde, die man weglassen könnte. Selten bin ich einem Erzählstil begegnet, bei dem die Hoffnung eine Einheit mit der Bewegung der Figuren, mit ihren Spuren, Gesprächen und Andeutungen auf das Ungesagte bildet.

Berührend empfand ich auch die lebenspraktische Weisheit, die Inglins Figuren oft auszeichnet, von denen die Leserschaft oft nicht weiss, warum sie abenteuerlich leben wollen. In der Geschichte «Die Lawine» steht die Hauptfigur, ein Soldat, auf einer Brücke, die als Symbol dafür gelesen werden kann, dass sie die zwei Realitäten im Leben dieser Figur miteinander verbindet. Die eine ist sein unglückliches Schicksal im Krieg und die andere sein hoffnungsvolles Liebesleben. Diese Spaltung bildet den doppelten Boden der Geschichte und bereichert ihre erzählerische wie ihre politische Ebene in Zeiten des Krieges. Begriffe wie «Glück» und «Unglück»,«Schicksal» und «Zufall», «Kraft der Natur» und «Gewalt des Krieges» holt Inglin in die Geschichte hinein und baut dadurch ein literarisches Panorama auf, in dem ein Wandel von einem katastrophalen zu einem glücklichen Zustand möglich ist. Dass Menschen vom Krieg verschluckt werden wie von einer Lawine, ist in dieser Geschichte eine Tatsache, aber kein Dauerzustand, und genau da nistet die Hoffnung: dass man nur diese eine Brücke überqueren muss, um ans andere Ufer zu gelangen.

Aber zweifellos richtet sich der Fokus in diesem Buch auf die Natur. Sie wird grandios gefeiert durch eine poetische Sprache, die den Blick auf die Realität erweitert und ein unendliches Feld von Zeit und Raum eröffnet. Inglins Leserschaft ist dauerhaft eingeladen, selbst am Text mitzuwirken und diese offenen Räume, die er lässt, zu füllen. Die Natur ist wie ein heiliges Buch für diesen Autor, sein erstes Abenteuer und sein erstes und letztes Lied.

Neben der Natur als Hauptthema kehrt auch der feine Humor immer wieder. Auch die Lebendigkeit von Inglins Figuren ist eines der wichtigen Kriterien seiner literarischen Qualität. Die Figuren ergänzen einander durch ihre Dialoge. Man spürt sie und reist mit ihren Gefühlen und Gedanken mit.

«Wohin führst du mich?» Der Engel oder Lichtgeist, den ich nicht genau anzuschauen wagte, antwortete: «Dorthin, wo du schon als Mensch hinwolltest. Du bist aber schwerer zu führen als andere, die ich vor dir geführt habe. Ein irdischer Rest ist noch an dir, das Zeichen dafür trägst du an deinem Finger. Wirf es weg, dann wird dir alles leichter fallen.» Laura, ich trug ja den goldenen Ring mit deinem Namen am Finger. Wie im Nebel unter dem Gipfel schwankte ich wieder zwischen zwei heftigen Wünschen, ich wollte dich nicht verlassen und wollte doch hinauf. Wenn ich aber droben wäre, wollte ich alles versuchen, dich zu mir ins Licht emporzuziehen.«Ich kann den Ring nicht wegwerfen», stöhnte ich. «So wird er von selber zerfallen», sagte der Engel. «Er ist von Gold und trägt einen Namen eingeschnitten», erwiderte ich. «Dort, wo wir hinfahren, vergeht alles Irdische, das lauterste Gold und jeder Menschenname», entgegnete er. Wir fuhren immer höher empor, Erde und Sonne blieben zurück, das strahlende Licht nahm ab, eine Dämmerung wie zwischen Tag und Nacht umgab uns. (Die goldenen Ringe)

Die Geschichten in diesem Band zeigen aber auch, wie Inglin das kollektive Gedächtnis bewahrt und um eine weitere Perspektive ergänzt. Die politische Wahrnehmung, die auf verschiedene Weise immer wieder durchschimmert, ermöglicht es, die Gegenwart mit der Geschichte zu verknüpfen und vielleicht eine Vorstellung von Zukunft zu bekommen. Das Bild der Schweiz ist dabei nicht nur «das Land für reife Leute», wie Inglin in seinem Roman «Schweizerspiegel» schreibt, sondern auch das Land der verschonten Leute, die ihren Reifungsprozess durchlaufen durften, und das vielleicht auch deswegen ein Land der Naturliebhaber ist. Der Mensch in Inglins Geschichte ist nur Mensch durch diese Liebe, und solange es Bäume, Wind, Wasser, Gebirge, Schnee, Sonne und Wanderwege gibt, bleibt Inglins Literatur lebendig. Diese Verbundenheit mit der Natur erinnert mich an den sumerischen Held Gilgamesch in seiner Odyssee 2800 vor Christus. In dieser Odyssee verlässt Gilgamesch seine Stadt Uruk, in derer der König von Mesopotamien war, und geht in die Natur. Auch er sucht in der Natur nach dem Rätsel des Lebens, seinem Sinn und nach sich selbst zwischen Tälern, Bergen, Flüssen und Wäldern.

Ich bin diesem Buch dankbar. Es hat mich und meine Gedanken gelüftet und entstaubt. In manchen Passagen hat es mich aus viel Unangenehmem herausgerissen, es hat mich erfüllt und inspiriert. Es wäre schön, wenn es einen Weg in die arabische Sprache fände. So wären der «Schweizerspiegel» und die fünfzig Jahre, die zwischen uns liegen, voller Bilder und Gesichter.



«Schneesturm im Sommer»

Meinrad Inglin ist einer der bekanntesten Unbekannten, seinen Namen kennen fast alle, seine Werke die wenigsten. Dabei ist er ein grosser Könner in einem grossen Spektrum unterschiedlicher literarischer Genres, stilistisch abwechslungsreich und sprachlich wohlkomponiert. «Schneesturm im Hochsommer» versucht, sein vielfältiges Schaffen abzubilden und damit einen literarisch hochinteressanten und oft überraschend aktuellen Schweizer Klassiker wieder breiter bekanntzumachen.

«Inglin ist seit Jahren genau der, von dem viele sagen, man hätte ihn ‹nicht auf dem Schirm› und der deshalb allen so präsent ist. Die Frage ist doch vielmehr: Was macht den Kerl so interessant, dass er nicht verschwindet? Er hat nie auf Effekt geschrieben. Er hat versucht, Verhältnisse zu beschreiben, wie sie sind. Eine Haltung, die nach dem ganzen postmodernen Klimbim auf eine neue Art interessant ist.»
Peter von Matt

Meinrad Inglin, «Schneesturm im Hochsommer».
Herausgegeben von Ulrich Niederer, Nachwort von Usama Al Shahmani, 256 Seiten, Leinenband, CHF 28.– (UVP), Limmat Verlag, Zürich

Umschlagfotografie: Dino Reichmuth, Unsplash
Typografie und Umschlaggestaltung: Trix Krebs
Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg
ISBN 978‑3‑03926‑021-8
© 2021 by Limmat Verlag, Zürich www.limmatverlag.ch

Beitrag vom 15.01.2023

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