Die Umarmung des Zaren Zar Alexander I.
Aus dem Buchband «Blaues Blut. Royale Geschichten aus der Schweiz» von Michael van Orsouw. Erschienen im Verlag Hier und Jetzt.
Vorwort von Beat Gugger und Bruno Meier
Die Suworow-Kadetten der russischen Militärmusikakademie schmettern einen dumpfen Marsch, singen dazu, pfeifen und paradieren im Takt, danach wirbeln die Basler Tambouren ihre Schläger übers Trommelfell.
Eine Szene aus grauer Vorzeit? Mitnichten. Das Ganze spielt sich am 26. September 2012 ab – beim Haus Seidenhof in Basel hängt seit diesem Tag ein Geschenk der russischen Föderation. Oder genauer: ein Geschenk der Suworow-Stiftung und des russischen Energiekonzerns Gazprom, überreicht vom russischen Botschafter Alexander Golovin. Basels Regierungspräsident Guy Morin schüttelt dazu Hände und lächelt in die Kameras. Und die Suworow-Kadetten umrahmen die feierliche Zeremonie mit ihren martialischen Klängen. Begleitet von Basler Trommlern.
Das Geschenk ist eine Gedenktafel, die den Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi mit dem russischen Zaren Alexander I. zeigt und an deren gemeinsames Treffen von 1814 in Basel erinnert. Gestaltet hat die Tafel in Bronze der russische Bildhauer Vladimir Surowzew, der schon öfters Kriegsdenkmäler entworfen hat. Freundlicherweise beschränkte sich der Künstler auf die Darstellung der Köpfe von Pestalozzi und des Zaren und hat diese gleich gross abgebildet, sodass sie auf der Gedenktafel ebenbürtig wirken.
Tatsächlich hatten sich Johann Heinrich Pestalozzi und Zar Alexander I. 198 Jahre vor der Gedenktafelenthüllung in Basel getroffen. Aber wer aufgrund der Darstellung an ein Treffen zweier ebenbürtiger Heroen jener Zeit glaubt, liegt ziemlich falsch; es war kein Treffen auf Augenhöhe. Zar Alexander I. war einer der wichtigsten Politiker der Epoche, er weilte 1814 im Vorfeld des Wiener Kongresses in Basel. Er bereitete nichts weniger als die komplette Neuordnung Europas vor; nun wollte er vorgängig die Vertretungen Frankreichs, Österreichs und Preussens treffen, um die Verhandlungsspielräume geschickt auszuloten.
Johann Heinrich Pestalozzi, der damals berühmte Schweizer Reformpädagoge, hörte, dass der hohe Besuch in Basel weilte. Schnurstracks machte er sich von Yverdon aus auf den Weg und drängte sich regelrecht zum Zaren vor. Im Gegensatz zu seinen zwei Begleitern wurde Pestalozzi tatsächlich eine Audienz beim Zaren gewährt, wahrscheinlich aufgrund seines hohen Bekanntheitsgrads.
Auf der einen Seite stand nun also der Heisssporn Pestalozzi, mittlerweile von 68 Jahren Pionierarbeit gezeichnet, mit etwas eingefallenen Wangen, leicht vornübergebeugt sich bewegend, mit langen, meist ungekämmten Haaren und einem staubigen Rock, kurz: ein etwas verschrobener Typ. Auf der anderen Seite steht der ihn empfangende stolze Zar Alexander I. in tadelloser Paradeuniform, der Herrscher eines Weltreichs, in ganz Europa gefragt, 37-jährig, mit rundem, freundlichem Gesicht, gross gewachsen, eine stolze Erscheinung mit Spannung im Körper, ein Magistrat mit Ausstrahlung, wie man ihn heute für einen Heldenfilm casten würde.
Zerstritten und knapp bei Kasse
Der Schweizer Pädagoge soll Zar Alexander I. angefleht haben, doch bitte dafür zu sorgen, dass sein Erziehungsinstitut in Yverdon-les-Bains nicht weiterhin von vagabundierenden Truppen der Alliierten behelligt würde – zu den Alliierten zählten damals auch die Russen, die sich gegen Napoleon verbündet hatten. Pestalozzi befürchtete, dass sein Institut als Lazarett für typhuskranke Soldaten eingesetzt würde, von 300 Notbetten war die Rede. Pestalozzi publizierte damals viel und bekam dadurch Anerkennung, doch im Erziehungsinstitut lief es überhaupt nicht rund, er hatte sich mit seinen Institutskollegen zerstritten, war schlecht organisiert und hatte ständig mit Geldproblemen zu kämpfen, sodass sich eine erneute Heimsuchung durch fremde Truppen verheerend ausgewirkt hätte.
Die deutsche Schriftstellerin Luise Rinser (1911–2002) berichtete über das Treffen von Pestalozzi und Alexander, als wäre sie persönlich dabei gewesen: «Während Pestalozzi den Zaren ohne alle Umschweife für seine Idee der Volksbildung zu gewinnen sucht, rückt er ihm in leidenschaftlichem Eifer immer dichter auf den Leib. Der Zar weicht langsam zurück bis zur Wand. Schliesslich will Pestalozzi ihn am Rockknopf fassen, besinnt sich aber erschrocken und will die Bewegung in einen Handkuss wandeln. Aber der Zar kommt ihm zuvor und umarmt ihn herzlich und schenkt ihm den Wladimirorden, den er später bisweilen auf dem staubigen Rock trägt.»
Gut zu wissen
- Wer: Zar Alexander I. Geboren als Alexander Pawlowitsch Romanow.
- Wann: Geboren am 23. Dezember 1777 in St. Petersburg, gestorben am 1. Dezember 1825 in Taganrog in Südrussland.
- Was: Er war Kaiser von Russland (1801–1825), König von Polen (1815–1825), erster russischer Grossfürst von Finnland (1809–1825) und Herr von Jever (1801–1807 und 1813–1818).
- Wie: Während seiner Regierungszeit vergrösserte er den Einflussbereich Russlands deutlich.
- Bezug zur Schweiz: Zar Alexander wurde von einem Schweizer Erzieher grossgezogen und geprägt, bereiste 1814 die Schweiz und blieb ihr freundschaftlich verbunden.
Schriftstellerische Fantasie oder Wirklichkeit? Wir wissen es nicht. Aber das Bild der Zusammenkunft, dargestellt in einem wohl ausgeschmückten Aquarell von Karl Jauslin (der selbst nicht dabei gewesen sein kann, weil er erst 1842 zur Welt kam), stellt kein intimes Treffen in einer Zimmerecke dar, sondern zeigt die Zusammenkunft des russischen Zaren und des Schweizer Pädagogen in einem herrschaftlichen Saal mit Wandbildern und üppigen Vorhängen, im Beisein einer Vielzahl von Gästen, die den Protagonisten voller Spannung zusehen.
Einer anderen Quelle zufolge habe Pestalozzi den Kaiser Russlands gebeten, in Russland die Leibeigenschaft aufzuheben. Zum Abschied soll der Kaiser Pestalozzi sogar geküsst haben, sodass dieser nach dem Treffen «wie ein Narr vor Freuden» gewesen sei. Auf dem Heimweg nach Yverdon sei Pestalozzi dermassen übermütig gewesen, berichtet sein Biograf, dass der Pädagoge den finanziell, aber auch gesellschaftlich sehr wertvollen russischen Orden einem Bettler geschenkt haben soll.
Später machte der Besuch Pestalozzis derart Furore, dass dieser sogar in ein Gedicht mündete, das Kinder in der Schule auswendig zu lernen hatten:
«Ein edler Mann uns wohl bekannt
Hat einst gelebt im Schweizerland.
Er war des Edlen Lebenszeit
Der Menschenbildung ganz geweiht.
Einst wanderte er, müd und matt,
Zum Kaiser hin, gen Baselstadt.
[…]
Dann bindet er mit Stroh die Schuh
Und wandert Basels Toren zu.
Er wollte lieber schmucklos geh’n,
Als einen Armen leiden seh’n.»
Nochmals kam das Treffen von Pestalozzi und dem Zaren 1939 zu Ehren, im Zeichen der Schweizer Landi-Stimmung vor dem Zweiten Weltkrieg. Der Dramatiker und Anthroposoph Albert Steffen (1884–1963) liess in seinem Theaterstück «Pestalozzi» neben den beiden auch noch Napoleon Bonaparte auftreten. Das etwas krude, religiös geprägte und ganz im Zeichen der Geistigen Landesverteidigung stehende Werk sollte die Schweiz aufrütteln und daran erinnern, was sie für die «kommende Menschheitskultur leisten» sollte. Das Theater wurde nur ein einziges Mal aufgeführt.
All diese verschiedenen Überlieferungen des Treffens zwischen Pestalozzi und dem Zaren zeigen deutlich: So verschieden zuweilen die Geschichte daherkommt, gerade wenn es um Prominente geht – sie regt die Fantasie von Dichtern, Künstlern und Dramatikern an, bringt verschiedene Versionen hervor und bewegt so sehr, dass man sich auch nach 198 Jahren noch an das kurze Zusammentreffen erinnert.
Von einem Schweizer erzogen
Wie auch immer: Der russische Zar Alexander I. (1777–1825) hatte vielfältige Beziehungen zur Schweiz, wie sich nicht nur im erwähnten Treffen mit Pestalozzi zeigt. Prägend für sein Verhältnis zur Schweiz war etwa, dass Thronfolger Alexander von einem Schweizer erzogen worden war, von Frédéric-César de la Harpe (1754–1838). Der Waadtländer unterrichtete und erzog Alexander nämlich in der wichtigen Zeit zwischen dessen sechstem und achtzehntem Lebensjahr. Er stützte sich dabei auf die Ideale des Schweizer Pädagogen Jean-Jacques Rousseau und wollte keinen Spezialisten heranbilden, sondern einen «citoyen éclairé», einen aufgeklärten Staatsbürger. Gut möglich ist, dass Alexander in dieser Zeit wertemässig und auch praktisch helvetisch geprägt wurde.
1801 fiel Alexanders Vater, Kaiser Paul I., einem Mord zum Opfer, und Alexander rutschte unerwartet rasch als Zar nach. Damit wurde der 24-Jährige unsanft mitten in die wechselhafte Zeit von Kriegen, Bündnissen und Allianzwechseln hineinkatapultiert. Es würde hier zu weit führen, alle die sich verändernden Konstellationen dieser Ära aufzuzählen. Wichtig ist: Zar Alexander I. war zeit seines Lebens an der Schweiz interessiert und mit ihr verbunden. Und er pflegte weiterhin den Kontakt mit seinem einstigen Erzieher und Mentor De la Harpe, mit gelegentlichen Treffen und vor allem mit Briefen.
«Der Zar hat immer Recht.»
Russische Redewendung
Alexander I. kam also, wie erwähnt, 1814 nach Basel und bezog hier vorübergehend Quartier. Der Zar und sein Gefolge stiegen im Seegerhof am Blumenrain ab (das Haus fiel in den 1950er-Jahren der Verbreiterung der Strasse zum Opfer). Sein Stab quartierte sich im Erdgeschoss ein, der Zar selbst aber bezog die Stube im ersten Stock, die er zu einem kaiserlichen Schlafgemach umfunktionieren liess. Eine alte Dame – die Grossmutter des damaligen Hausbesitzers Christoph Burckhardt – musste deshalb ins Dachgeschoss ausweichen. Der Zar wusste um die Umstände, die er der alten Frau zumutete. Er zeigte sich deshalb sehr dankbar und schenkte ihr eine kostbare Brosche: 198 Diamantrosen umrahmen einen grossen, quadratischen Smaragd. Das wertvolle Stück zählt heute zur Sammlung des Historischen Museums Basel.
Zur Zeit seines Besuchs soll der Zar mehrfach russisch-orthodoxe Messen in Basel abgehalten haben. Zu den Messen kamen auch neugierige Damen der besseren Basler Gesellschaft und anderen Glaubens, um den prominenten Russen einmal leibhaftig in Augenschein zu nehmen. Schon im Zeitalter vor «Gala» und «Glückspost» faszinierten die gekrönten Häupter der weiten Welt. Die Basler Damen, kann man bei Zeitgenossen nachlesen, sollen vom Zaren und seiner edlen Erscheinung sehr angetan gewesen sein.
Nachtruhe in Schaffhausen respektiert
Zuvor war der russische Zar in Begleitung seiner vorausgereisten Schwester Katharina Pawlowna bereits in Frauenfeld und in Schaffhausen abgestiegen. Warum die Berühmtheiten gerade diese Städtchen (Frauenfeld zählt etwa 3000 Personen, Schaffhausen 6000) als Station wählten, ist nicht überliefert. Die Vertreter des Schaffhauser Rats hofften, der prominente Besuch sorge dafür, dass Schaffhausen weniger von herumziehenden Truppen geplündert werde; sie hofften auf Alexanders Einfluss wie schon zuvor Pestalozzi. Doch die Antwort der Russen fiel lakonisch knapp aus: Die Truppen «viendront, mais ils passeront» («… kommen, aber sie werden auch wieder gehen»).
Der Zar erreichte am Abend des 7. Januar 1814 Schaffhausen. Um die Nachtruhe in der Kleinstadt dennoch zu gewährleisten, erhielt der hohe Besuch erst am Folgetag den standesgemässen Empfang: Zu Ehren des Zaren läuteten am 8. Januar in ganz Schaffhausen während einer halben Stunde die Glocken, daraufhin feuerte man vom Munot 101 Salutschüsse ab – man hätte meinen können, Schaffhausen sei im Krieg.
Beim nachfolgenden Diner soll der Russe dem Schaffhauser Stadtrat versichert haben, ein grosser Freund der Schweiz zu sein: «Ich liebe neben den Russen niemanden so sehr wie die Schweizer», wird er zitiert, er soll ausserdem die Freundschaft mit seinem einstigen Erzieher De la Harpe hervorgehoben haben. Noch zwei weitere Tage blieb der Zar in Schaffhausen, besuchte zwei Mal den Rheinfall, der schon damals eine bekannte Touristenattraktion war, überdies das Schloss Laufen und das Schlössli Wörth.
Bei der Überfahrt des Rheins kam es zu einem Zwischenfall: Der Zar wollte das Naturschauspiel des Rheinfalls genau beobachten und stand im Ruderboot auf, um eine bessere Sicht zu haben, was das Boot unglücklicherweise gefährlich zum Schwanken brachte. Der Neuhauser Schiffer Heinrich Gelzer fürchtete, das Boot würde kentern, konnte aber weder russisch noch französisch sprechen. Um ein Unglück zu verhindern, blaffte der Schiffer den Magistraten an: «Hocked ab, Majestät!» Der Zar verstand augenblicklich. Und setzte sich hin.
Zar Alexander I., seit seinem Amtsantritt eigentlich ständig mit Krieg und militärischen Manövern konfrontiert, interessierte sich sehr für Waffen und Waffentechnik, weshalb er auch die kleine Stahlgiesserei von Johann Conrad Fischer im Mühlental ausserhalb der Schaffhauser Stadtmauer besichtigte. Fischer war vom hohen Besuch «in meiner armseligen Schmelzhütte» so sehr angetan, dass er aus dem Stahl, den der Zar gesehen hatte, ein besonderes Gewehr herstellte und diesem später schenkte. Der Zar wusste dies zu schätzen und bedankte sich seinerseits mit einem kostbaren Ring «mit drey Reihen Brillanten und einem orientalischen Amethyst in der Mitte», wie Zeitgenossen bewundernd berichteten.
Überhaupt zeigte sich der russische Herrscher in Schaffhausen sehr freigiebig: Der Wirt des Schlosses Laufen bekam eine Tabakdose aus Gold, der Besitzer des Hotels Kronenhof erhielt hundert Dukaten für sich und weitere fünfzig Dukaten für die Angestellten, dem Schaffhauser Blindeninstitut spendete die Zarenfamilie siebzig Gulden, Kutscher Schalch bekam fünfzig Dukaten und Schiffer Gelzer ebenso viel. Ein Nachkomme Gelzers soll versucht haben, die Schiffsplanke, auf welcher der Zar gesessen hatte, in den 1920er-Jahren nach Russland zu verkaufen.
Doch im revolutionären Russland interessierte sich niemand für Zaren-Memorabilien. Stattdessen fand der Schaffhauser Zarenbesuch eine literarische Würdigung: Der Zar und seine Schwester stiegen auch kurz beim einfachen Küfer Johann Jakob Rich in Neuhausen ab – der Dichter Georg von Gaal (1783–1855) machte aus der Begegnung des Zaren mit einfachen Gewerbeleuten ein schwärmerisches Epos mit nicht weniger als zwölf Gesängen unter dem Titel «Die nordischen Gäste – oder der neunte Januar des Jahres 1814».
Genferin sorgt für gute Laune
Zuweilen sind es ja die kleinen Begebenheiten, die Geschichte schreiben. Eine solche ist überliefert, die das Zusammentreffen von Zar Alexander I. nochmals mit etwas Schweizerischem dokumentiert. Am grossen und folgenreichen Wiener Kongress von 1815 war Zar Alexander omnipräsent, schliesslich hatte er den Vorsitz; in der Fachliteratur nannte man ihn «Schiedsrichter Europas». Das ist zwar ein schönes Bild, aber dennoch falsch, denn der Zar sorgte gleichzeitig – um in der Sportsprache zu bleiben – für die Einhaltung der Spielregeln und für das Schiessen der Tore. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Wiener Kongress waren peinlichst darauf bedacht, in den Verhandlungen um die neuen Grenzen in Europa möglichst viel für ihr Heimatland herauszuholen, das war auch bei Alexander nicht anders.
Eine etwas andere Rolle hatte die Genferin Anna Eynard-Lullin, die 21-jährige Gattin von Bankier Jean-Gabriel Eynard, dem Sekretär der Genfer Delegation am Wiener Kongress. Die lebenslustige Anna war bei diesem epochalen Ereignis für gute Stimmung zuständig: Sie trank in Wien Tee mit Prinzessinnen und begutachtete dabei deren Diamantenschmuck mit sicherem Auge für dessen Wert. Sie zeigte sich überrascht, wie zugänglich die in Wien verhandelnden Herrscher Europas waren.
Eines Abends war sie zum Ball des russischen Botschafters eingeladen und traf niemand Geringeren als den russischen Zaren Alexander I. höchstpersönlich. Die junge Anna blieb bis morgens um vier Uhr am rauschenden Ball, tanzte Arm in Arm mit Herzögen und sogar gleich zwei Mal mit dem Zaren selbst – wie es exakt rapportiert wurde. Sie soll gegenüber dem Zaren, ganz beiläufig, einige nette Worte über Genf fallen gelassen haben. Ob sie wie andere Tanzpartnerinnen mit dem notorischen Schürzenjäger im Bett landete, ist dagegen nicht überliefert. Auch nicht, ob das Zusammentreffen mit der Genferin politische Folgen hatte.
Aber bezeugte Tatsache ist: Zar Alexander I. war der Schweiz sehr gewogen. Wir erinnern uns an seine Liebesbekundung in Schaffhausen sowie an seinen Schweizer Erzieher Frédéric-César de la Harpe. Dieser hatte seinerzeit als Waadtländer unter der Herrschaft der Berner gelitten und wollte jetzt verhindern, dass die Schweiz auseinandergerissen wurde. De la Harpe hatte vor dem Kongress mehrfach bei seinem einstigen Schüler Zar Alexander I. interveniert und war nun als Vertreter der Waadt und des Tessins am Wiener Kongress sehr aktiv. Im Gegensatz zu Gustav IV. Adolf, dem gestürzten Schwedenkönig und Schwager von Alexander I., wurde dem überzeugten Waadtländer De la Harpe Gehör geschenkt.
Die Folge: Alexander I. stellte sich am Wiener Kongress, als es auch für die Schweiz ums Eingemachte ging, gegen eine Aufteilung der Schweiz und gegen eine Eingliederung in den Deutschen Bund. Der Zar war ausserdem gegen die erneute Unterjochung der Waadt und des Aargaus und band damit die Berner Ansprüche zurück. Als Zugeständnis erhielten die Berner den Jura. Auf diese Weise wurde die Eidgenossenschaft am Wiener Kongress um Neuenburg, Genf und das Wallis erweitert und damit insgesamt gestärkt.
Es gibt sogar Stimmen, die sagen, dass die Schweiz ihre Neutralität alleine Zar Alexanders Wirken in Wien verdankt. Das ist wohl zu weit gegriffen und zu stark vereinfacht. Aber was zutrifft: Der Wiener Kongress war ein Tohuwabohu von Ansprüchen und Zurückweisungen, von Versprechungen und Betrügereien, von Verhandlungsspielchen und Taktiken, von ausgelassenen Bällen und sexuellen Ausschweifungen, von Rivalitäten und Gebietsschachern.
Die Schweiz schaffte es in dieser konfusen Konstellation dank geschickter Diplomatie und dank persönlicher Beziehungen, die «Acte portant reconnaissance et garantie de la neutralité perpétuelle de la Suisse et de l’inviolabilité de son territoire» auszuhandeln und unterzeichnen zu lassen. Diese «acte» ist die erste völkerrechtliche Anerkennung der fortwährenden Schweizer Neutralität. Ohne Alexanders persönliches Wohlwollen der Schweiz gegenüber wäre die Neutralität wohl nicht durchzusetzen gewesen. Die Tänzchen mit der Genferin Anna Eynard haben dabei sicher nicht geschadet …
Rubel für verwahrloste Knaben
Zar Alexander I. konnte am Wiener Kongress – nach Kriegen und weiteren Verhandlungen – Russlands Einflussbereich erheblich vergrössern: Russland wurde um Polen, Podlachien, Georgien, Aserbeidschan, Moldawien, Finnland und Bessarabien erweitert, und der Zar stand einer Bevölkerung von rund zehn Millionen Menschen vor. Er war beliebt und geachtet, in Russland war er äusserst populär.
Trotz seiner vielen Aktivitäten im Zarenreich blieb Alexander I. der Schweiz zugetan und fand auch Zeit, dies zu zeigen. Als er im Winter 1816/17 von Hungersnöten in der Schweiz hörte, lieferte er Getreide und spendete umgehend 100’000 Rubel; ein Teil davon ging an die Linthkolonie, eine landwirtschaftliche Erziehungsanstalt für «verwahrloste Knaben». Zar Alexander I. rang der Schweiz im Gegenzug aber zwei Zugeständnisse ab: Er brachte sie dazu, das erste Konsulat in St. Petersburg zu eröffnen und der heiligen Allianz beizutreten, einem ersten System kollektiver Sicherheit in Europa.
So bleibt die Frage, warum ein russischer Energiekonzern wie Gazprom im 21. Jahrhundert eine Gedenktafel in Basel sponsert? Die Antwort ist einfach. Das gigantische Energiekonglomerat hat rund ein Dutzend Tochterfirmen in der Schweiz, die Pipelines und Rohstoffhandel betreiben.
Die russisch-schweizerischen Beziehungen wurden dereinst von Zar Alexander I. freundlich aufgenommen, dann durch den Austausch von Menschen und Gütern vertieft, aber sie waren im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts zwischenzeitlich getrübt – nun sollen sie eine positiv besetzte Fortsetzung erfahren.
Und in diesem Sinne kommt ein – wenn auch auf gleiche Augenhöhe gerücktes – Erinnern an das Treffen zweier Helden der Geschichte beider Länder höchst gelegen.
Blaues Blut. Royale Geschichten aus der Schweiz», Michael van Orsouw, Verlag Hier und Jetzt, 2019, CHF 39.–. www.hierundjetzt.ch