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Die Goldenen Ringe (Kapitel 5) Aus «Schneesturm im Sommer»

Ein wohlgeratener, wissensdurstiger Jüngling stieg mit seiner Braut im Nebel einen Berg hinan. In seinem goldenen Fingerring war ihr Name Laura, in ihrem Ring sein Name Luzian eingeschnitten. Sie liebten sich lauteren Herzens und waren rein an Leib und Seele. Als sie zu den obersten Schneehalden kamen, sahen sie über sich schon Himmelsbläue durch den Nebel schimmern, aber der Aufstieg wurde schwieriger, und in den steilen Felsen unter dem Gipfel versagten dem Mädchen die Kräfte. Luzian blieb eine Weile bei ihr und schwankte zwischen dem herzlichen Wunsch, sie nicht zu verlassen, und dem leidenschaftlichen Drang, den nahen, ins klare Licht aufragenden Gipfel zu ersteigen. Laura merkte es und sagte: «Steig nur hinauf! Ich kann nicht mehr, ich warte dir hier.» 

Da stieg er weiter, und sie sah ihm zu. Er klomm hastig empor und kam über den Nebel hinaus, er richtete sich auf, wie trunken vom strahlenden Lichte, taumelte und stürzte lautlos in die Tiefe. Sie sah es mit einem Schrei, und sie schrie nach ihm, doch er hörte sie nicht mehr. Sie rief um Hilfe und versuchte abzusteigen, aber sie wagte es nicht. An die schräge Wand gekauert, mit den Armen einen Felskopf umklammernd, brach sie verzweifelt in Tränen aus. Der graue Stein unter ihren Augen wurde dunkel und feucht. Am Ende wünschte sie nichts anderes, als auch abzustürzen. 

Der Nebel stieg und hüllte sie dichter ein, sie spürte seine feuchte Kühle im Nacken und blickte fröstelnd auf. Da wehte ihr etwas mit grauen Schleiern in das verweinte Gesicht, es nahm die Gestalt eines menschlichen Schattens an, und wie aus einem halb erblindeten alten Spiegel blickte ihr aus dem Schatten ein graues Mädchengesicht entgegen. «Komm mit!», flüsterte es. 

Schaudernd starrte sie es an. 

«Komm mit!», wiederholte es. «Fürchte dich nicht, ich will dir helfen.»

«Wer bist du?», fragte sie. «Was willst du von mir?» 

«Ich bin Suhl, eine Nebeltochter», flüsterte das geisterhafte Wesen. «Ich musste diesen Berg mit feuchten Schleiern verhängen, da fand ich den Stein unter deinen Augen von Tränen schon feucht, darum kann ich mit dir reden. Du hast deinen Freund verloren, weine nur und komm mit mir, wir werden dich trösten.» 

«Wo ist er? Weisst du das?», fragte sie.

«Ich weiss es nicht, aber andere bei uns wissen mehr als ich. Komm nur mit, und alles wird gut für dich.»

«Wie kann ich denn mitkommen?»

«Lass den Stein los, den du umklammert hast!»

«So hilf mir!», flehte sie, liess den Stein los und sank leicht wie ein Schatten hinab. Suhl führte sie durch Meere von Nebel zu einem dampfenden Sumpfe, der sich mit schimmerlosen Wassertümpeln und graugrünen Inseln unabsehbar unter ihnen ausbreitete. Einige von Suhls Schwestern waren auch dahin unterwegs, andere stiegen aus dem Sumpfe herauf und flogen mit langen Nebelschleppen an ihnen vorbei. «Wundere dich nicht!», sagte Suhl. «Das Gebirgsland, aus dem du kommst, musste verschleiert werden, weil die Alpweiden unter der brennenden Sonne fast verdorrten.»

«Wer befiehlt das?», fragte Laura.

«Unsere Mutter. Du wirst sie bald sehen. Vorher aber muss ich noch einmal fort, obwohl ich lieber ruhen möchte. Du hast mir Mühe gemacht. Dir haftet noch ein unverwandelter irdischer Rest an, doch weiss ich nicht, was es ist. Jetzt kommen wir zu meiner Insel.»

Sie landeten auf einer der kleinen Inseln und schauten einander neugierig an. «Ach, jetzt seh ich, was es ist», rief Suhl. «Du trägst ja noch einen Ring am Finger. Aber der wird auch bald vergehen.»

«Er ist von Gold», sagte Laura.

«Hier löst sich alles, auch Gold», erwiderte Suhl. «Aber jetzt warte mir hier!» Sie stand mitten auf dem leicht gewölbten kleinen Eiland, begann zu tanzen und drehte sich immer schneller. Da stiegen ringsum zarte Nebel aus dem Sumpf, sie hüllte sich ein, tanzte in die Höhe und entschwand in der wallenden Schleppe, die sie hinter sich herzog.

Laura hatte ausser ihrem Geliebten schon alles andere vergessen und fühlte sich so unbeschwert wie nie in ihrem früheren Leben. Das Sumpfland lag ohne Sonnenstrahl und Himmelsblau in der immer gleichen Dämmerung eines dichtbewölkten frühen Morgens, aber das gefiel ihr nun. Sie schaute den Nebeltöchtern zu, die auf Nachbarinseln tanzten und mit Nebelschleppen wegflogen oder entschleiert zurückkehrten. Sie bückte sich zu graugrünen Sumpf- und Wasserpflanzen hinab, die das Auge statt durch Farben durch anmutige Formen erfreuten, und fand Gefallen an seltsamen Muscheln, Krebsen, Fröschen und Larven.

Unversehens betrat mit leichten Füssen Suhl die Insel wieder und rief: «Jetzt komm mit mir! Aber fliege selber, du musst nur wollen!»

Laura stiess neben ihr ab und war entzückt, dass sie auch ohne Hilfe fliegen konnte, doch bald begann sie zu sinken. Suhl stützte sie bis zum nächsten Eiland, dann flogen sie nur noch von einem Inselchen zum anderen, bis sie die grösste Insel des Sumpfes erreichten. Schlammige Wege führten hier durch das Schilf ins Innere und endeten vor einem Thron aus Muscheln, der mit dunkelgrünem Tang überzogen war. Auf dem Throne sass, von Sumpf- und Wassertieren, Nebeltöchtern und grau verhüllten Gestalten umgeben, in einem Gewand aus Silberschleiern die Mutter. Suhl und Laura nahten ihr zögernd und blieben ehrfürchtig stehen.

Die Mutter aber winkte sie heran. Mit tiefgründigen grauen Augen schaute sie Laura bald auf die Hand, bald ins Gesicht, und fragte: «Kind, wo kommst du her?»

Beide erzählten abwechselnd, warum und wie sie einander gefunden hatten.

Da schüttelte die Mutter das Haupt und sagte: «Suhl, du hast voreilig gehandelt. Mit diesem Ring hätte sie nicht zu uns kommen dürfen. Ich will es verzeihen, du konntest nicht voraussehen, dass sie ihn hier behalten würde, aber was soll nun geschehen?» Sie ergriff Lauras Hand, berührte den Ring und murmelte: «Was ist das für ein sonderbares Gold, das hier nicht vergeht! Denkst du etwa noch immer an deinen Freund?»

«Ja», antwortete Laura, «ich denke an ihn und möchte wissen, ob ich ihn da unten suchen soll, oder ob er droben im Lichte ist, nach dem er hungerte.»

«Was wissen die Menschen vom Lichte!», erwiderte die Frau. «Unsere Urmutter hat mich und ihre anderen Töchter ausgesandt, die Erde und ihre Geschöpfe vor ihm zu schützen. Wo unsere Macht nicht hinreicht, erlischt das Leben unter seinen Strahlen. Wie können Menschen gegen uns wirken, statt uns zu helfen? Da schlagen sie Wälder, zwängen fliessende Wasser in starre Betten und trocknen Sümpfe aus! Wenn sie uns verdrängen, wird das Licht sie töten.»

«Das Licht ist ihnen auch ein Gleichnis», erwiderte Laura schüchtern.

«Der Herr der Welt hat die Erde und die Sonne geschaffen, Licht und Dunkelheit, Tag und Nacht, Wasser und Feuer. In seine Hände kehrt alles zurück, auch der Mensch, der im Lichte wohnen möchte. Suche deinen Freund auf dem Wege der Abgeschiedenen, und ich will dir dazu die Erlaubnis erwirken, wenn du willst.»

Laura bat darum und sah auf den Wink der Frau ein schlankes graues Wesen herantreten, das sie für einen Engel hielt.

Suhl zog Laura beiseite und flüsterte: «Das ist der Bote, der dich führen wird. Bitte die Mutter, dass ich als deine Freundin mit dir kommen darf!»

Laura bat darum, und die Mutter gewährte es.

Der Bote schaute die Freundinnen fragend an, und da er sie Hand in Hand bereit sah, flog er auf. Sie folgten und flogen lange hinter ihm her, während unter ihnen der Sumpf allmählich in das nasse Hügelland eines Vorgebirges überging. Der Bote begann zu steigen, und nun hatten sie Mühe, ihm zu folgen, da Suhl die Freundin stützen musste. Sie flogen über Hügel, Birkenwälder und Weidengehölze hinauf und immer steiler über Mattenhänge einem hohen Felskamm zu. Schon wollten sie verzagen, als der Bote einen kahlen Sattel betrat und wartete, da schwangen sie sich an seine Seite. Vor ihnen lag unter den unruhig flimmernden Sternen eines wolkenlosen Nachthimmels eine Einöde aus nackten Felsklüften und Karrenfeldern.

Zum Autor

Meinrad Inglin (1893–1971) Sohn eines Goldschmieds, Uhrmachers und Jägers, wurde mit siebzehn Jahren Vollwaise. Uhrmacher- und Kellnerausbildung, trotz fehlender Matura Studium der Literaturgeschichte und Psychologie in Bern, Genf und Neuenburg. Tätigkeit als Zeitungsredaktor, während des Ersten und Zweiten Weltkriegs Offizier im Grenzdienst. 1922 als Journalist in Berlin, danach als freier Schriftsteller in Schwyz. Für sein Werk (vor allem Romane und Erzählungen, einzelne Aufsätze, Notizen und eine Komödie) wurde Inglin vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Grossen Schillerpreis und dem Gottfried-Keller-Preis.

Während sie rasteten, stand der Bote hoch aufgerichtet da und spähte horchend über die silbergraue Wüste hin, dann fasste er Laura nach einem scheuen Blick auf ihre linke Hand an der Rechten, Suhl an der Linken, und stiess mit ihnen ab. Eilig und lautlos flogen sie dahin, erhielten aber unvermutet einen Stoss von hinten und blickten zurück. Sie sahen einen durchsichtigen blauen Wirbel, der sich leise heulend hinabstürzte und unter ihnen weit voraus über die Felsen hin jagte; ein zweiter fuhr aus einer Kluft, und beide sprangen nebeneinanderhoch empor. «Es sind junge Föhnwinde, seid nur unbesorgt, ich halte euch fest», sagte der Bote. Kaum hatte er das gesagt, da wurden seine zarten Schützlinge wieder angepackt und flatterten in seinen Händen wie Schleier. Suhl wimmerte: «Ich fürchte mich, wir alle fürchten uns vor ihnen und fliehen sie.» Der Bote erwiderte: «Wenn die zwei widrigen Wirbelköpfe allein wären, hätten wir nichts zu befürchten, aber da vorn tauchen noch mehr auf. Oft schlafen sie, wenn ich diese Zone durchfliege. Jetzt aber kehren wir um und versuchen es von einer anderen Seite.» Sie kehrten um, ausgepfiffen, gestossen, überfallen, und hörten das Hohngeheul noch, als sie auf dem kahlen Sattel wieder rasteten.

Ruhig flogen sie darauf der Felsenwüste entlang über Kuppen und Kämme und sahen schon von weitem ein kochendes Morgengrauen, das sie bald erreichten und als steigendes Gewölk erkannten. Zu ihrer Rechten war ein Abgrund, daraus rauchte das Gewölk wie aus einem unermesslichen siedenden Krater senkrecht in die Höhe. Sie flogen weiter über den Gratrücken, zwischen dem rauchenden Abgrund und der Felsenwüste hin, doch spähte der Bote scharf nach rechts und liess sich mit seinen Schutzbefohlenen plötzlich auf dem Grate nieder. «Hier warten wir», sagte er.

Im unablässig steigenden Gewölk tauchten Wesen auf, die den Nebeltöchtern glichen, doch waren es Wolkentöchter. Sie fassten immer wieder mit beiden Händen ihr graues Hemd am unteren Saum, zogen es anmutig über den Kopf empor und liessen es fliegen, aber immer enthüllten sie nur ein neues Hemd. Dunkelgraue Läufer mit flatternden Haaren jagten sie und bliesen die Hemden fauchend vor sich her, die Hemden glichen geblähten Segeln, zerfetzten Fächern, taumelnden Vögeln, und der Grat verschwand fast unter dem wilden Geflatter.

«Fürchtet euch nicht!», sagte der Bote zu Laura und Suhl, die sich an ihm festhielten. 

«Die dunkelgrauen Jäger sind junge Westwinde.»

Jetzt drang ein Brausen aus der Wolkenferne, und die ganze aufrauchende Flut begann zu schwanken.

«Macht euch bereit!», rief der Bote, fasste Laura wieder an der rechten, Suhl an der linken Hand und lockerte wie vor einem grossen Sprung schon ungeduldig die Füsse. Das Brausen kam rasch näher, schwoll an und stürmte, tosend wie ein Wasserfall, als riesenhaft geflügeltes, dunkelgraues Wesen mit der waagrecht über den Grat hinschäumenden Wolkenflut auf die Felsenwüste hinaus. «Der Vater West!», rief der Bote. «Auf, ihm folgen wir!»

Sie stiessen ab und fuhren leicht dahin, doch mitten über den nackten Klüften staute sich das Gewölk und brandete hoch auf wie das sturmgepeitschte Meer an den Klippen einer Felsenküste. Sie sahen in der Brandung junge Westwinde im Kampfe mit den heulenden Söhnen des Föhns und wurden auf einmal zurückgeworfen. Der zürnende Vater Föhn selber stürzte mit blauen Schwingen raubvogelhaft aus dem offenen Nachthimmel und schlug eine breite Bresche in die Wolkenbrandung. Der graue Vater West aber packte ihn von oben, rang ihn mit gewaltigen Flügelschlägen zu Boden und stürmte mit allem Gewölke sausend weiter.

«Gepriesen sei der starke und beharrliche Vater West!», rief der Bote und liess sich mit seinen Schutzbefohlenen von der Strömung tragen. Grosse silbergraue Vögel flogen mit ihnen dahin, unter ihren weit ausgreifenden Schwingen schäumte die Wolkenflut von sprühenden Tropfen, und die Schwingen troffen wie aus dem Wasser tauchende Ruderschaufeln. «Die Regenvögel!», rief Suhl.

Eine Weile blieben sie noch in den fahrenden nassen Wolken, dann sanken sie durch den niederstürzenden Regenschräg hinab und landeten sachte zwischen mächtigen Felsblöcken. Hier schlüpften sie hintereinander durch eine enge Spalte, die sich bald zum Höhlengang erweiterte. Sie glitten an gurgelnden Löchern vorbei in die Tiefe und kamen durchseltsame, von weissen Krusten und Kristallen schimmernde Grotten. Am Gewölbe hingen tropfende Euter aus Stein, die Tropfen fielen auf Zapfen hinab, die aus dem Boden wuchsen, oder in schwarze Wassertümpel, und überall gluckste es wie von gezupften Geigensaiten.

In einer weiten Halle, wo noch andere Höhlengänge mündeten, hielt der Bote endlich an. «Hier wartet auf mich!», sagte er und trat vor ein hohes Tor, das ein gepanzerter Wächtermit glühenden Blicken bewachte. Der Wächter liess ihn eintreten, und aus dem geöffneten Tore drang ein Schein von Erzen und Edelsteinen. Kleinere Tore öffneten und schlossen sich noch da und dort in den Felswänden, und aus jedem schimmerte es anders in die Halle, so dass hier feuerrote, meerblaue, grasgrüne und goldbraune Dämmerungen verwirrend wechselten. Die Hintergründe verloren sich im Dunkel. Aus offenen Höhlenmündungen glitten schattenhafte Wesen und wurden von einer silberfahlen Gestalt, die dem Boten glich, bald durch eines der Tore, bald in den dunklen Hintergrund gewiesen.

Laura hielt den Silberfahlen für den Engel des Todes, die Schatten für die Seelen Abgeschiedener, und hoffte, hier ihrem Geliebten zu begegnen. Sie dachte an den Rat der Nebelfrau und wollte noch die Freundin fragen, aber da kam schon der Bote durch das hohe Tor zurück und trat vor sie hin.

«Suhl, verschleiere ihr Gesicht!», befahl er, und Suhl wob ihr einen dichten Schleier vor die Augen. «Jetzt führe sie hinter mir her!», befahl er weiter, und Suhl führte sie.

«Wohin gehen wir?», fragte Laura, die nichts mehr sehen konnte. «Durch das hohe Tor», flüsterte Suhl. Sie gingen nebeneinander hinter ihm her, und Laura dachte jetzt so stark an ihren Geliebten, dass sie ganz von ihm erfüllt war und daran erkannt zu werden hoffte. «Dein Ring fängt an zu funkeln wie ein Stern», rief Suhl verwundert.

«Schweig!», befahl der Bote.

Sie gingen immer langsamer, als ob sie sich fürchteten, dann hielten sie mit versagenden Knien an. Laura spürte, dass Suhls Hand an ihrem Arm zitterte. Sie horchte in die Stille hinein und vernahm keinen Laut, aber sie fühlte, dass ein ungeheuerer Blick auf ihr ruhte.

Endlich sagte eine geisterhaft dunkle, volle mütterliche Stimme: «Der, den sie sucht, ist nicht unter den Abgeschiedenen. Führt sie dorthin zurück, wo sie hergekommen ist!»

Laura wandte sich, von Suhl geführt, erschauernd ab, und von nun an wusste sie nicht mehr recht, was mit ihr geschah. Sie erwartete, dass man ihr draussen in der Halle den Schleier abnehmen würde, aber stattdessen wurde sie schräg emporgezogen und spürte, dass sie durch den langen Höhlengang hinaufglitt. «Suhl, nimm mir doch den Schleier ab!», bat sie, aber zu ihrer Verwunderung gab die Freundin keine Antwort. Nach einer Weile wiederholte sie die Bitte, aber Suhl schwieg, und dieses Schweigen erfüllte sie fast mit derselben Angst wie ihre erste Begegnung mit der Nebeltochter auf dem Berge. Als sie zur Höhle hinaus in eine andere Luft emporgerissen wurde, nahm sie noch einmal ihren ganzen Mut zusammen. «Suhl, was bedeutet das alles?», fragte sie flehend. Sie fragte umsonst, sie sah und hörte nichts mehr, sie flog wie auf dem flaumigen Rücken eines mächtig beschwingten Vogels rastlos dahin und spürte am Ende nur, dass sie sank und hinfiel.

Eine Weile blieb sie mit schmerzenden Gliedern liegen, dann blickte sie verwundert um sich. Sie lag auf einer Schneehalde unter der schrägen Wand, von der sie abgestürzt war. In ihrer Nähe lag Luzian, halb begraben im tiefen, weichen Schnee, der ihn am Steilhang aufgefangen hatte. Rufe einer Rettungsmannschaft, die nach ihnen suchte, drangen zu ihr herauf, sie schwang, um Hilfe rufend, ihr rotes Kopftuch und erhielt Antwort. Mühsam kroch sie zu Luzian hinüber, nahm seinen Kopf in beide Hände und rief ihn beim Namen. Er bewegte den Mund, er lebte. «Wo sind wir?», fragte er flüsternd.

Sie gab Auskunft, und er schien darüber nachzudenken, dann begann er mit geschlossenen Augen gesammelt vor sich hinzureden: «Laura, ich habe etwas erlebt, das ist wie ein Traum und ist vielleicht doch mehr. Als ich dich verliess und allein emporstieg, wusste ich, dass ich bei dir hätte warten und dir weiterhelfen müssen. Aber es zog mich so stark empor, und das Licht war so nahe! Ich hasse den Nebel wie all das Trübe auf Erden. Hastig stieg ich hinauf in die immer reinere Luft. Als mich das strahlende Licht überfiel, war ich wie trunken davon und achtete nicht mehr auf meine Schritte. Ein Schwindelgefühl packte mich, ich meinte abzustürzen, aber mit aller Kraft erzwang ich den Gipfel und stieg über den Gipfel hinaus. Eine Gestalt wie ein Erzengel streckte mir die Hand entgegen und zog mich empor. In der leuchtenden Luft und klaren Bläue war mir so erlöst und erhoben zumute wie nie in meinem Leben. Ich ahnte, wohin ich nun geführt wurde, aber ich wollte es auch wissen und fragte: ‹Wohin führst du mich?› Der Engel oder Lichtgeist, den ich nicht genau anzuschauen wagte, antwortete: ‹Dorthin, wo du schon als Mensch hinwolltest. Du bist aber schwerer zu führen als andere, die ich vor dir geführt habe. Ein irdischer Rest ist noch an dir, das Zeichen dafür trägst du an deinem Finger. Wirf es weg, dann wird dir alles leichter fallen.› Laura, ich trug ja den goldenen Ring mit deinem Namen am Finger. Wie im Nebel unter dem Gipfel schwankte ich wieder zwischen zwei heftigen Wünschen, ich wollte dich nicht verlassen und wollte doch hinauf. Wenn ich aber droben wäre, wollte ich alles versuchen, dich zu mir ins Licht emporzuziehen. ‹Ich kann den Ring nicht wegwerfen›, stöhnte ich. ‹So wird er von selber zerfallen›, sagte der Engel. ‹Er ist von Gold und trägt einen Namen eingeschnitten›, erwiderte ich. ‹Dort, wo wir hinfahren, vergeht alles Irdische, das lauterste Gold und jeder Menschenname›, entgegnete er.

Wir fuhren immer höher empor, Erde und Sonne blieben zurück, das strahlende Licht nahm ab, eine Dämmerung wie zwischen Tag und Nacht umgab uns. Dann kam die Nacht, aber was für eine unbeschreibliche Nacht! Da war ringsum ein solches Gleissen und Funkeln von nahen Sternen, wie man es auf Erden nie erlebt. Mir war, ich könne in weite Fernen schauen, aber ich sah auch immer grössere, immer kräftiger brennende Sterne, und bald konnte ich zu meinem Schrecken ihr loderndes Feuer nicht mehr ertragen. ‹Ich ertrage es nicht mehr›, rief ich. Der Engel entgegnete: ‹Du bist nicht bereit dafür, solang du den Ring trägst, und du wirst mir auch immer beschwerlicher. Das Gold wird aber nichtmehr lang standhalten, und bis dahin will ich dir helfen, das wachsende Licht zu ertragen.›

Er fuhr mir mit einer Hand über die Augen, da brach der ganze furchtbare Glanz vor mir in alle Farben des Regenbogens auseinander, und die Sterne schienen in zahllose riesige Diamanten verwandelt. Ich schwebte im Innern einer Weltkugel, die aus kreisenden feuerigen Regenbogen bestand. Rote, orangefarbene, gelbe, grüne, blaue und violette Feuerblitzten von allen Seiten durcheinander. In diesem Lichtgetümmel drehten sich ruhige goldene Monde, und Sternschnuppen schwärmten wie silberne Fische vorüber. Ich war verwirrt und noch immer geblendet, mir brausten die Ohren, aber schon glaubte ich Orgeln zu hören und das innerste Weltgetriebe zu erkennen. Da rief der Erzengel: ‹Wirf denRing fort, oder ich kann dich nicht mehr tragen!› Ein Schwindelgefühl packte mich, nah vor dem Urgrund aller Dinge, und eine furchtbare Stimme verkündete: ‹Wir stürzen ab, du musst zurück!›

Mir schwanden die Sinne, ich spürte nichts vom Absturz, und ich weiss nicht, wie lang ich ohne Besinnung war. Aber jetzt habe ich Schmerzen, als ob ich Arm und Bein gebrochen hätte. Laura, wo sind wir?»

«Wir liegen auf einer Schneehalde unter dem Gipfel», antwortete Laura. «Es wird Abend, und der Nebel ist verschwunden. Wir sind beide verletzt, auch ich habe Schmerzen, aber wir leben, Gott sei Dank! Eine Rettungsmannschaft steigt zu uns herauf, ich habe um Hilfe gerufen und Antwort erhalten.»

«Warum hast du Schmerzen? Wie ist es denn dir ergangen?»

«Fast so wunderbar wie dir, Luzian, und gern möchte ich es dir sogleich erzählen, weil ich mich jetzt noch genau erinnere.»

Er bat darum, und sie erzählte ihm alles. Als sie geendet hatte, rief er: «Ja, wie wunderbar ist auch das! Am wunderbarsten aber scheint mir, wie sich unsere Ringe bewährt haben. Vielleicht waren wir beide in Vorhöfen der Ewigkeit, wo gewöhnliches Erdengold keinen Bestand mehr hat. Was uns verbindet, muss eine solche Kraft und Verheissung in sich haben, dass es nicht zerfallen kann, bevor es auf Erden in Erfüllung gegangen ist. Wie hätte sein goldenes Zeichen sonst dort unten und dort oben standgehalten! Der Herr der Welt hat, wie die graue Frau dir sagte, die Erde und die Sonne, Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit geschaffen. Das alles kann nur bedeuten, dass wir uns als Menschen hier auf Erden vollenden müssen.»

Er richtete sich mit Lauras Hilfe auf, sodass er sitzen konnte. Sie sahen in der Tiefe dunkelgrüne Täler, blaue Seen und fern die kleine Stadt, wo sie viele liebe Menschen kannten und einmal Hochzeit halten wollten, sie sahen Hügel und Berge mit Wäldern und Weiden, das rötlich leuchtende Hochgebirge und darüber den warmen goldenen Abendhimmel. Da staunten sie und fanden diese irdische Welt noch wunderbarer und verheissungsvoller als alles, was sie gesehen hatten.


«Schneesturm im Sommer»

Meinrad Inglin ist einer der bekanntesten Unbekannten, seinen Namen kennen fast alle, seine Werke die wenigsten. Dabei ist er ein grosser Könner in einem grossen Spektrum unterschiedlicher literarischer Genres, stilistisch abwechslungsreich und sprachlich wohlkomponiert. «Schneesturm im Hochsommer» versucht, sein vielfältiges Schaffen abzubilden und damit einen literarisch hochinteressanten und oft überraschend aktuellen Schweizer Klassiker wieder breiter bekanntzumachen.

«Inglin ist seit Jahren genau der, von dem viele sagen, man hätte ihn ‹nicht auf dem Schirm› und der deshalb allen so präsent ist. Die Frage ist doch vielmehr: Was macht den Kerl so interessant, dass er nicht verschwindet? Er hat nie auf Effekt geschrieben. Er hat versucht, Verhältnisse zu beschreiben, wie sie sind. Eine Haltung, die nach dem ganzen postmodernen Klimbim auf eine neue Art interessant ist.»
Peter von Matt

Meinrad Inglin, «Schneesturm im Hochsommer».
Herausgegeben von Ulrich Niederer, Nachwort von Usama Al Shahmani, 256 Seiten, Leinenband, CHF 28.– (UVP), Limmat Verlag, Zürich

Umschlagfotografie: Dino Reichmuth, Unsplash
Typografie und Umschlaggestaltung: Trix Krebs
Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg
ISBN 978‑3‑03926‑021-8
© 2021 by Limmat Verlag, Zürich www.limmatverlag.ch

Beitrag vom 18.09.2022

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