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Die entzauberte Insel (Kapitel 1.2) Aus «Schneesturm im Hochsommer»

Eines Nachmittags aber, als sie geduldig hinter ihren Angelruten standen, kam Xaver dahergerudert, und auf dem vorderen Rand des kleinen Bootes sass ein Mädchen im Badekleid, Ilse, seine Base. Sie kannten sie nicht, hatten aber von ihr gehört und wussten, dass sie aus der Stadt, wo sie wohnte, zu Xavers Eltern in die Ferien gekommen war. Xaver hatte ihnen angekündigt, dass er sie auf die Insel mitbringen werde, und das tat er nun also. Es war seine Sache, es ging sie nichts an, die Insel war gross genug, um auch einem Mädchen noch Platz zu bieten. Sie sahen dem Besuche kühl entgegen und wollten sich nicht stören lassen.

Vetter und Base kehrten einander den Rücken. Die Base liess ihre nackten Beine über den vorderen Bootsrand hinabhängen und schleifte die Zehen durch das laue Wasser. In der Nähe der Insel wandte sie sich nach Xaver um, schaute dann lächelnd auf die Fischer am Hechtekap, schwang die Beine ins Boot, zog Badeschuhe an und setzte sich ordentlich hin. Sie war fünfzehn Jahre alt.

Die Fischer, Robert und Anselm, standen ruhig da und schienen nichts anderes zu beachten als den Korkschwimmer. Sie fanden es immerhin ungewöhnlich, dass sie im Badekleid kam; sie hatten noch kein badendes Mädchen in der Nähe gesehen, da in der hiesigen Badeanstalt die Geschlechter streng getrennt waren. In der Stadt aber gab es natürlich Strandbäder, wo alles kunterbunt durcheinander badete, das war ganz natürlich, und sie brauchten kein Wort darüber zu verlieren.

Zum Autor

Meinrad Inglin (1893–1971) Sohn eines Goldschmieds, Uhrmachers und Jägers, wurde mit siebzehn Jahren Vollwaise. Uhrmacher- und Kellnerausbildung, trotz fehlender Matura Studium der Literaturgeschichte und Psychologie in Bern, Genf und Neuenburg. Tätigkeit als Zeitungsredaktor, während des Ersten und Zweiten Weltkriegs Offizier im Grenzdienst. 1922 als Journalist in Berlin, danach als freier Schriftsteller in Schwyz. Für sein Werk (vor allem Romane und Erzählungen, einzelne Aufsätze, Notizen und eine Komödie) wurde Inglin vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Grossen Schillerpreis und dem Gottfried-Keller-Preis.

Xaver ruderte in einem wohl bedachten Abstand am Kap vorbei zur Schifflände, legte an, liess die Base aussteigen und machte das Boot fest. Niemand war zum Empfang da.

«Du, das ist aber reizend hier», sagte Ilse.

«Hab ich dir ja gesagt. Geh nur ein bisschen herum und schau alles an! Ich mache jetzt die Fischrute bereit.»

Ilse ging leise ins Gehölz hinein, sah sich neugierig lächelnd um und stieg drüben auf eine Uferklippe der Eglibucht, wo sie verblüfft mit der Hand zum Munde fuhr, um einen Laut zu unterdrücken. Unter ihr kletterte ein Junge in einer verwaschenen rötlichen Badehose auf den Steinen herum, er hatte ein Haselrütchen in der Hand und blickte an verschiedenen Stellen aufmerksam ins Wasser hinein. Sie schaute ihm erheitert zu, gespannt und jeden Augenblick gewärtig, entdeckt zu werden.

Sebastian, der hier kleinen Barschen nachstellte, sah sie denn auch plötzlich, verharrte wie gebannt in seiner kauernden Haltung und staunte zu ihr hinauf. Er hatte gewusst, dass Xaver mit der Base dahergerudert kam, aber nun sah er ein schönes Mädchen in einem leuchtend blauen Stoff, der den leicht gebeugten schlanken Körper nicht verhehlte, mit nackten Beinen, Armen und Schultern, mit einem braungelockten Kopf und heiteren Augen. Er sah sie wie eine märchenhafte Erscheinung im blättergrün gedämpften Sonnenlicht dort oben stehen und zu ihm hinab lächeln, und sein empfängliches Herz begann heftig zu schlagen.

Ilse sah das gutmütige Jungengesicht mit der Stumpfnase, das schweigend zu ihr hinauf staunte, und fand auch ihrerseits kein passendes Wort, sie lachte nur in leisen, hohen Tönenauf, belustigt von der Überraschung des regungslos Kauernden, und trat zurück.

Sebastian setzte sich offenen Mundes auf einen Stein, und sein Herz schlug heftig weiter. Er sah sie noch greifbar vor sich, und sie war ganz anders, als man sich die Base eines Kameraden vorstellt, sie stand ihm vielmehr vor Augen wie im Traum eine heitere junge Halbgöttin, von der man augenblicklich bezaubert wird, ohne sie im Einzelnen genau zusehen und den Grund des Zaubers zu erkennen. Sie war süss und vollkommen, schöner als jedes andere Wunder dieser geliebten kleinen Insel. Langsam erhob er sich und schaute auf der Uferklippe die Stelle an, wo sie gestanden hatte, dann blickte er vorsichtig herum, ob niemand zusehe, und legte seine Hände auf die Stelle. Von einer ihm unbekannten verwirrenden Wärme durchhaucht, stieg er auf die Klippe und schlich spähend in das Gehölz hinein, bis er Stimmen hörte. Er sah gegen das Hechtekap hin die Halbgöttin in Begleitung ihres Vetters aus dem Grünen schimmern und erkannte Roberts brennend rote Keilhose, die sich ihr vom Kap her zögernd näherte. Scheu blieb er im Gebüsche stehen und sah zu.

Xaver stellte dort den Kameraden seine Base vor. «Das ist nun also meine Kusine, Fräulein Ilse», sagte er und nannte darauf die Namen der jungen Herren. Anselm nickte nur errötend, ohne ihre Hand zu ergreifen, trat einen Schritt zurück und blieb mit einem scheuen, ungläubigen Blick auf das halbnackte Fräulein befangen stehen. Robert errötete ebenfalls und griff mit der Rechten vor Verlegenheit oder Aufregung zuerst fehl, aber dann erwischte er die schmale Hand und umschloss sie fest wie einen Fisch. Karl, der auch hinzugekommen war, benahm sich auffallend gewandt, obwohl er als der kleinste Mann hier wenig vorstellte, er rückte stramm die Fussballen zusammen, verbeugte sich leicht und sagte, dass er sich freue, Fräulein Ilse als Gast auf dieser Insel begrüssen zu dürfen; darauf trat er ein wenig zurück und schwieg.

Ilse selber blieb unbefangen und lächelte jeden der Herren mit derselben freundlichen Neugier an.

Xaver, der die Befangenheit seiner Kameraden erkannte und ihnen darüber hinweghelfen wollte, schloss die Vorstellung scherzhaft, aber offenbar ganz unangebracht: «Bei uns zu Hause hat das Fräulein natürlich einen Rock an.»

Ilse stiess einen schnippisch missbilligenden Laut aus und schüttelte den Kopf gegen ihren Vetter, dann fragte sie: «Habt ihr schon etwas gefangen?»

Karl trat vor und erklärte: «Heute noch nicht. Das Wetter ist nicht besonders günstig zum Fischen. Es kommt nämlich sehr auf das Wetter an. Vielleicht wird es gegen Abend besser. Aber es ist noch nicht lange her, da habe ich zum Beispiel nacheinander zwei halbpfündige Barsche herausgezogen. Und kürzlich haben wir einen grossen Hecht gefangen. Dann gibt es hier noch Brachsen, Haseln, Rotteln …»

Anselm liess Karl reden und kehrte an seinen Fangplatz zurück. Robert folgte ihm, statt seinen eigenen Platz aufzusuchen, sah sich mehrmals nach Ilse um und sagte leise: «Verdammt noch mal! So hab ich sie mir nicht vorgestellt.»

Anselm nahm schweigend die Hechtrute auf und begann zu fischen.

«Hast du gesehen, was für Beine sie hat?», fuhr Robert fort.«Klassische Beine, kann ich dir sagen. Überhaupt, wie sie gewachsen ist! Und ein Badkleid hat sie, so etwas gibt’s bei uns nicht. Es liegt ganz eng an, hast du das gesehen?»

Anselm hatte es nicht geradezu übersehen, doch er hatte vor allem den unländlichen schmalen Schnitt ihres kindlich beseelten Gesichtes bemerkt und einen so freundlichen, klugen und offenen Blick auf sich gefühlt, wie ihn die einheimischen Mädchen in ihrer spröden Befangenheit nicht besassen. Er zuckte über Roberts Wahrnehmungen die Achsel.

Robert merkte das kaum, er hatte auf seine Art Feuer gefangen und musste reden. «Sie ist ein Jahr jünger als wir, aber du, sie hat schon ganz reizende kleine Brüste, ist dir das nicht aufgefallen?»

«Sieh du lieber einmal nach, wie’s mit deiner Fischrute steht!»

Robert winkte ab, als ob ihm das Fischen gleichgültig geworden wäre, er hatte dagegen noch dies und jenes zu erwähnen und ging erst, als er durchaus kein Gehör dafür fand; leicht befremdet und nun seinerseits die Achseln zuckend, begann er vor sich hin zu pfeifen, ging und strich dem Mädchen nach.

Ilse blieb nicht lange, sie wollte noch ein wenig herumfahren, und Xaver ruderte sie weg. Sie kehrte der Insel den Rücken, aber dann wandte sie sich auf ihrem Sitz anmutig um und winkte. Karl und Robert standen auf dem Hechtekap und winkten auch, Anselm stand, ohne zu winken, hinter ihnen im Gebüsch, und noch weiter hinten schaute Sebastian aus dem Schatten der Bäume mit traumverlorener Miene dem ruhig fortgleitenden Boote nach.

  • Jeweils sonntags wird der Roman «Schneesturm im Hochsommer» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
    Teil 3 des Kapitels «Die entzauberte Insel» folgt am 24. Juli 2022.
  • Weitere Kapitel können Sie hier lesen.

«Schneesturm im Hochsommer»

Meinrad Inglin ist einer der bekanntesten Unbekannten, seinen Namen kennen fast alle, seine Werke die wenigsten. Dabei ist er ein grosser Könner in einem grossen Spektrum unterschiedlicher literarischer Genres, stilistisch abwechslungsreich und sprachlich wohlkomponiert. «Schneesturm im Hochsommer» versucht, sein vielfältiges Schaffen abzubilden und damit einen literarisch hochinteressanten und oft überraschend aktuellen Schweizer Klassiker wieder breiter bekanntzumachen.

«Inglin ist seit Jahren genau der, von dem viele sagen, man hätte ihn ‹nicht auf dem Schirm› und der deshalb allen so präsent ist. Die Frage ist doch vielmehr: Was macht den Kerl so interessant, dass er nicht verschwindet? Er hat nie auf Effekt geschrieben. Er hat versucht, Verhältnisse zu beschreiben, wie sie sind. Eine Haltung, die nach dem ganzen postmodernen Klimbim auf eine neue Art interessant ist.»
Peter von Matt

Meinrad Inglin, «Schneesturm im Hochsommer».
Herausgegeben von Ulrich Niederer, Nachwort von Usama Al Shahmani, 256 Seiten, Leinenband, CHF 28.– (UVP), Limmat Verlag, Zürich

Umschlagfotografie: Dino Reichmuth, Unsplash
Typografie und Umschlaggestaltung: Trix Krebs
Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg
ISBN 978‑3‑03926‑021-8
© 2021 by Limmat Verlag, Zürich www.limmatverlag.ch

Beitrag vom 17.07.2022

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