Altersstarrheit Von Konrad Pauli

Bis zuletzt bleibt der Mensch er selbst. Selbst wenn die Lücken seiner Erinnerungen wachsen. Was übrig bleibt, kommt immer aus ihm heraus. Einzelne Sequenzen seines Wesens leuchten und wirken in den weiteren Alltag. Ihrer mögen es zusehends weniger sein – ganz ein anderer wird keiner.

Wer zeitlebens ein Jäger war, legt die Flinte so schnell nicht weg. Selbst wenn sie ihn bloss an vergangene, halbwegs verblasste Beutezüge erinnert. Das Gewehr ist wie eine Leitplanke, ein sicherer Halt – ohne ihn ginge es kaum. Zudem erinnert die Waffe Freunde und Bekannte an frühere Heldentaten, wie auch immer. Seht her, ich könnte es immer noch. Falls es nottut, gehe ich sogar auf Krähenjagd. Viele im Quartier leiden an ihrem Geschrei. Doch die Stadt geht die Sache behutsam an. Schliesslich ist man kein Unmensch. Und der Krähenvogel ist intelligent.

Wer in der Backstube gelebt und gearbeitet hat, produziert auch später gerne eine Torte, einen Zopf. Bringt er ihn in den Freundeskreis, nimmt er die Anerkennung, das Lob mit nach Hause. Er kann das noch, er war früher doch mal …

Wer zeitlebens Pädagoge war, streift das Belehrende zumeist auch im Alter nicht ab. Man klammert sich an Gewissheiten. Einsichten sind wie zementiert – und bei Gelegenheit werden sie mit ernsthafter Miene vorgetragen. Hurtig prallen Einwände ab an der unerschütterlichen Meinung und Weltsicht des Alten. Lang hat er schliesslich gelebt, hat sich das zum Weltverständnis Notwendige angehäuft. Wenn einer also die Welt verstanden hat und sich nichts mehr vormachen lässt … Anständigerweise nicken die Anwesenden, denn Widerspruch erzeugt rote Köpfe. Argumente zählen nicht, Egozentrik wischt sie alle weg.

Seine Selbständigkeit, seinen Trotz will man sich bewahren, Hilflosigkeit ist keine schöne Eigenschaft. Hilfe annehmen können scheint eine grosse Leistung zu sein. Viel lieber hält man sich mit Fantasielosigkeit, Verbissenheit am Eingeübten und also einzig Gewohnten fest.

An der Tramstation steht die Tür offen, ein alter Mann mit Rollator – kein hässliches Bild – will eintreten. Drei Passgiere sind hilfsbereit. Denn der Mann schafft das Hereinschieben oder -fahren nicht in kurzer Zeit. Einer drückt also den Knopf, die andere Person greift nach dem Rollator, denn der Mann bringt ihn nicht über die Schwelle – so könnte er steckenbleiben, gar stürzen. Alle wollen das verhindern. Nicht aus Übereile; einfach so.

Endlich ist der Mann mit seinem Rollator drinnen, die Strassenbahn ruckt an, der Mann aber gerät in Schieflage. Alle drei sind hilfreich zur Stelle, verhindern so den Sturz. Endlich ist der Mann in seiner Ecke gesichert, doch nun eröffnet er ein rhetorisches Feuerwerk gegen alle Zumutungen, die das Leben bereithält. Er verflucht alle Handgriffe, die an ihm vollzogen wurden, ihn bedrängten, ihm die Autonomie wegstehlen wollten. Die Tram fährt, aber der Alte flucht und kann sich lange nicht erholen von der unerwünschten, vermeintlich notwendigen Hilfeleistung. Ein Unrecht hat man ihm angetan. Daran hält er fest.


Konrad Pauli, geboren 1944 in Aarberg, schrieb schon in jungen Jahren und hat zeitlebens geschrieben, auch journalistische Texte wie Ausstellungsbesprechungen im In- und Ausland. Er hat zehn Bücher publiziert, zwei weitere werden erscheinen. Das Schreiben ist für Konrad Pauli sowohl Freude als auch ein Muss. Zurzeit ist Pauli unterwegs in «Das grosse Gehege». Das ist weit genug und noch lange nicht ausgeschritten …


«Voll im Wind»

Geschichten von A wie Altersheim bis Z wie Zwetschgenschnaps

Grossvater riecht nach Schnaps und Grossmutter lacht nicht mehr. Was ist passiert? «Älterwerden ist kein Spaziergang», erzählen Betroffene – und die Jüngeren nehmen es irritiert zur Kenntnis. Ruth und Fritz haben es doch schön in der Alterswohnung, und Trudi wird im Pflegeheim rund um die Uhr verwöhnt. Was ist daran so schlimm?

Es sind dies die Übergänge und Brüche; vermehrt gilt es, Abschied zu nehmen: vom Haus, vom Partner, vom Velofahren. Das Gehen verändert sich weg von der Selbstverständlichkeit hin zur Übung und Pflicht; das Autofahren ist ohnehin ein Tabu, so will‘s die Tochter. Ist es da so abwegig, den Kopf hängen zu lassen? Sich Pillen verschreiben zu lassen oder ein Glas über den Genuss hinaus zu trinken? Ja, es ist abwegig, weil es auf Abwege führt und nicht auf einen grünen Zweig.

22 Schweizer Autorinnen und Autoren erzählen Geschichten über ältere Menschen, denen der Wind derzeit mit voller Wucht entgegenbläst. Ein Anhang mit einfachen Infos und Tipps sowie weiterführenden Adressen bietet den nötigen Windschutz.

  • «Voll im Wind – Geschichten von A wie Altersheim bis Z wie Zwetschgenschnaps», Hrsg. Blaues Kreuz Schweiz, © 2020 by Blaukreuz-Verlag Bern, ISDN 978-3-85580-549-5
  • Cover-Illustration: Tom Künzli, TOMZ Cartoon & Illustration, Bern. Lektorat: Cristina Jensen, Blaukreuz-Verlag. Satz und Gestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld. Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
  • Das Projekt wird vom Nationalen Alkoholpräventionsfonds finanziell unterstützt. Für Begleitpersonen stehen unter www.blaueskreuz.info/gesundheit-im-alter weitere Fachinformationen zu den Themen des Buches bereit.

Beitrag vom 17.04.2022

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