85. «Dutti» schlägt die Tür zu Aus «Staatsmann im Sturm»

Nationalrat Duttweiler ist aus der Vollmachtenkommission ausgeschlossen worden. Er hat aus der Schule geplaudert, das heisst, Nachrichten veröffentlicht, die er nur als Mitglied dieser zur Geheimhaltung verpflichteten Kommission kennen konnte. An der Nationalratssitzung vom 10. Dezember verlangt der Unabhängige Walder im Namen seiner Fraktion die Aufhebung des am 4. Oktober vom Kommissionsbürogefassten Entscheids zum Ausschluss Duttweilers. Er beruft sich auf zwei juristische Gutachten, wonach das Parlament sich über geltendes Recht hinwegsetzt habe, «um unbequeme Mahner auszuschalten».

Was hat nun Herr Duttweiler getan? Er hat als Ratsmitglied gewisse Äusserungen des Herrn Bundespräsidenten Pilet über unsere Aussenpolitik bekannt gegeben, sowie sie Herr Pilet damals beurteilte, und wie Herr Duttweiler Herrn Pilet verstanden hatte. Niemals war es die Absicht des Herrn Duttweiler, diese Mitteilungen Aussenstehenden zukommen zu lassen.

Es sei beanstandet worden, Duttweiler habe eine Äusserung Pilets nicht richtig wiedergegeben. Pilet habe sich allgemein zur Lage geäussert und zu keinem bestimmten Vorkommnis. Jedes Ratsmitglied, sagt Walder, sollte «Anspruch darauf haben, wie unser Aussenminister diese Lage beurteilt, welches seine grundlegenden Auffassungen in dieser Sache sind». Als sich im Juli dieses Jahres «in manchen Kreisen ein politischer Defaitismus bemerkbar» gemacht habe, sei Duttweiler als Erster «mit einem gut schweizerischen» aktuellen Programm aufgetreten. «Ausgerechnet dieser Mann soll aus der Vollmachtenkommission entfernt werden!»

Der freisinnige Thurgauer Nationalrat Alfred Müller findet Duttweilers Ausplaudern von «streng vertraulichen» Mitteilungen Pilets rechtfertige den Ausschluss. Kein Mitglied der Komission habe Ratspräsident Nietlispachs Ermahnung zu «strengster Diskretion» widersprochen, auch Duttweiler nicht.

Walder erhält von unerwarteter Seite Schützenhilfe. Für den «Kronjuristen» der Sozialdemokraten, Johannes Huber, hat keine Kommission das Recht, ein Mitglied abzuberufen. Dies könne nur der Rat tun. Walder endet sein Schlussvotum mit einem Seitenhieb gegen den Bundespräsidenten:

Auf alle Fälle habe ich konstatiert, dass das, was Herr Pilet gesagt hat, mindestens so schwerwiegend war wie die Äusserungen, die Herr Duttweiler ihm in den Mund gelegt hat.

Kurz vor 13 Uhr hält der Rat – vor gelichteten Reihen – mit 59 zu 52 am Ausschluss des Chefs der Unabhängigen aus der Kommission fest. Unmittelbar darauf tritt Duttweiler aus dem Nationalrat zurück.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Am 12. Dezember, zwei Tage nachdem der im Volk populäre «Dutti» die Türe des Bundeshauses zugeschmettert hat, ist er noch einmal Gegenstand einer Debatte. Es geht um ein Postulat des freisinnigen Waadtländer Nationalrats Henri Cottier, eines Freunds Pilets. Cottier ist Sekretär des Verbands Schweizerischer Spezereihändler, der mit der Migros auf Kriegsfuss steht. Er habe sein Postulat eingereicht, sagt Cottier, als sich der «Obmann» der Unabhängigen noch nicht aus dem Staube gemacht habe. Er rede jetzt in seiner Abwesenheit, werde aber Duttweiler das Gleiche sagen, wenn er ihn «anderswo als in diesem Saal» persönlich wieder treffe. Cottier erinnert an die Angriffe Duttweilers gegen den verdienten, verstorbenen Bundesrat Obrecht:

Noch am Tag der Demission von M. Obrecht publizierte er einen hasserfüllten, aus Boshaftigkeiten und Verleumdungen gewobenen Artikel. Trois semaines plus tard, M. Obrecht n’était plus. Anscheinend trug M. Obrecht die gegen ihn gerichteten Angriffe avec philosophie. Nur seine Nächsten wissen, was er gelitten hat.

Dann habe Monsieur Stampfli, noch vor seiner Wahl als Nachfolger Obrechts, «die Prosa der Zeitung Die Tat kennengelernt. Und in welchen Ausdrücken!» Als nächster sei «unser Kollege M. Grimm» an die Reihe gekommen:

Monsieur Grimm, den ich hier nicht zu verteidigen habe und der einer gegnerischen politischen Gruppe angehört, hat – man muss dies anerkennen – mit seltener Kompetenz die ihm anvertraute Sektion geleitet. Herr Obrecht hat übrigens selber hier den Diensten und der Arbeit von M. Grimm eine glänzende Würdigung erwiesen. Bundesrat Stampfli hat gerade gestern dem beigepflichtet. Aber die Tatsachen hindern Die Tat nicht daran, eine Flut von Galle und Beleidigungen über M. Grimm zu schütten.

Cottier kämpft jetzt mit nackten Fäusten:

Der Egoismus diktiert die gesamte politische Tätigkeit von M. Duttweiler und seines Landesrings der Unabhängigen. Deshalb kann er heute schreiben: «Der deutsche Mensch ist unsere Hoffnung» und am nächsten Tag erklären, dass «Deutschland überhaupt keine Konzession gemacht werden darf». Deshalb verwandelt M. Duttweiler, zuvor ein fanatischer Anhänger des Liberalismus, seine Migros A. G. in eine Genossenschaft und präsentiert einen kollektivistischen Wirtschaftsplan. Dieser Wille zur Macht stellt eine grosse Gefahr für unser Land dar.

Der Waadtländer Freisinnige verlangt scharfe Massnahmen der Abteilung Presse und Funkspruch gegen die verleumderischen Pressekampagnen der Tat. Man dürfe die wertvolle Pressefreiheit, die es zu schätzen und zu schützen gelte, nicht mit der Freiheit zu verleumden und zu diffamieren verwechseln. Bundesrat Baumann nimmt das Postulat Cottier «ohne Präjudiz zur Prüfung entgegen». Eine Antwort wird später erfolgen – Baumann wird dann nicht mehr im Amt sein. Darauf schliesst der Ratspräsident um 10 Uhr 35 Sitzung und Session. Alle können schon am Donnerstagmittag getrost nach Hause gehen.


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne, 12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv 

Beitrag vom 01.09.2024

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