24. Stich ins Wespennest Aus «Politiker wider Willen»
Am 7. Dezember 1925 tritt das neue Parlament zusammen. In seinen viel gelesenen Lettres parlementaires skizziert der Berichterstatter der Gazette de Lausanne Pierre Greller mit spitzer Feder einige auffällige Figuren im Rund – den Genfer Kronjuristen Logoz, «distanziert und hieratisch wie ein Bild von Velázquez»; den Schaffhauser Kommunisten Bringolf, «ein schwarzer Ephebe, langhaarig und romantisch, wie man es in der weit zurückliegenden Zeit der roten Gilets war» –, bevor sein Blick auf zwei aufgehende Sterne fällt:
Im Zentrum der welschen Deputation, gut umgeben von ihren Älteren, sitzen, getrennt durch einen dünnen Gang, die beiden dauphins der Waadtländer radikalen Deputation, M. Pilet-Golaz, der Bundesrat werden wird, und M. Vallotton-Warnery, der Minister werden wird.
Ist Grellet Hellseher? Es gibt in Bern keinen klügeren Beobachter des politischen Karussells als den gebürtigen Neuenburger und Wahlwaadtländer Pierre Grellet, der seit 1908 den Journalistenberuf ausübt. Mit seinen feuilletonistisch spritzigen parlamentarischen Briefen hat er die trockene Ratsberichterstattung aufgewirbelt.
Der Erfolg von Grellets parlamentarischer Chronik in der Gazette hat die radikale Waadtländer Parteizeitung La Revue veranlasst, eine ähnliche Rubrik einzuführen. In ihrem Lettre du Parlement kommentiert kein Journalist, sondern ein Ratsmitglied die Sitzungen. Dies tut im Ständerat le docteur Dind, der Familienarzt der Pilets, und im Nationalrat Paul Maillefer, Historiker, Ex-Stadtpräsident von Lausanne – und spektakulär gescheiterter Bundesratskandidat.
Auf die Wintersession 1925 hat Maillefer das Chronistenamt niedergelegt. Die Revue überträgt die Aufgabe dem Novizen Pilet. Kein Kinderspiel, sich mit dem brillanten Grellet, auch einem ehemaligen Bellettrien, zu messen. Pilet fehlt die journalistische Erfahrung und er kennt die politischen Gepflogenheiten in Bern nicht, die so anders sind als diejenigen in Lausanne.
Nach Ende der ersten Sessionswoche, am Freitag, 11. Dezember 1925, verfasst er seinen ersten «Brief aus dem Parlament.» Er beginnt, harmlos genug, mit einem impressionistischen Aperçu à la Grellet:
Die erste Sessionswoche geht zu Ende. Die Koffer werden hastig gepackt. Die Abgeordneten eilen zum Bahnhof. In einigen kurzen Sätzen tauschen sie ihre Eindrücke aus, die für die «Neulinge» durchmischt sind. Sie haben, wohl oder übel, Wasser in ihren Wein tun müssen; als guten Waadtländern ist ihnen das Wasser im Hals stecken geblieben.
Und dann kommt er gleich zum politischen Thema der Woche, der Wahl von Robert Grimm zum Vizepräsidenten des Nationalrats. Der Marxist Grimm glaubt immer noch, dass das Proletariat dereinst im Staat die Macht übernehmen werde. Aber als Direktor der bernischen industriellen Betriebe ist er jetzt für konstruktive Mitarbeit mit den bürgerlichen Partien. Der scharfe Beobachter Pierre Grellet staunte nicht wenig, als er nach einem Parlamentarierausflug eine von Grimm gesteuerte Limousine vor dem Portal des Bundespalastes auffahren sieht. Der leidenschaftliche und oft halsbrecherische Autofahrer Grimm hatte in der bernischen Staatskarosse «eine ganze Gesellschaft von grand bourgeois» bei sich, unter ihnen
M. Sulzer (Winterthur), einer der schwarzen Prinzen der Schwerindustrie, und einige dicke Agrarier, die ihre kostbare und ansehnliche Person dem Steuer des kommandierenden Generals des Generalstreiks anvertraut hatten. Das Schauspiel entbehrte nicht der Würze: tempora mutantur.
Die Zeiten hatten sich insoweit geändert, als neben den Sozialdemokraten auch die Bauern und einige bürgerliche Abweichler für Grimm stimmten, so dass dieser mit 77 zu 37 Stimmen gegen den Waadtländer Liberalen de Meuron obsiegte. Die Gazette und das Journal de Genève sind empört über die Niederlage ihres Kandidaten. Horace Micheli, parlamentarischer Korrespondent des Journal und selbst Nationalrat, behauptet, kein Einziger der Waadtländer Radikalen habe für ihren Landsmann gestimmt, den hervorragend qualifizierten Liberalen de Meuron. Micheli vermutet dahinter den «unendlich schäbigen Geist der Eifersucht des Chefs der Waadtländer radikalen Abordnung, M. Gaudard».
Pilet kann als loyaler Parteisoldat die gepfefferten Angriffe der Liberalen auf seine Fraktionskollegen nicht einfach stehen lassen. Keine dankbare Aufgabe für den journalistischen Novizen, sich mit den beiden angesehensten Blättern der Roman die anzulegen. Pilets Artikel beginnt ruhig: Niemand bestreite den Sozialisten das Recht auf den Präsidentensessel. Wenn sie einen gemässigten Romand portiert hätten, wäre dieser anstandslos gewählt worden. Aber nicht einen Deutschschweizer, wenn doch die Reihe an einem Welschen war, und nicht den «Mann des Streiks, den Nacheiferer Lenins, den Revolutionär Grimm».
Die Waadtländer Radikalen – nous autres – seien entsetzt gewesen und am Vorabend der Wahl hätten die Kollegen Pitton und Gaudard in der Fraktion energisch protestiert. Aber, hélas, weil ein Teil der Bauernvertretung – «ja, ihr lest richtig, die Bauern, genauer die Agrarier, diese angeblich geborenen Verteidiger der sozialen Ordnung» – für den «Diktator von Olten» gestimmt hätten, sei dieser gewählt worden. Es sei nichts anderes übriggeblieben, als nachzugeben: «Il a fallu s’incliner.»
Eine schmerzliche Niederlage, fährt Pilet fort, die durch die Bösartigkeit von Journalisten, die von ihm nicht namentlich genannten Micheli im Journal und Grellet in der Gazette, noch schmerzhafter gemacht worden sei:
Insinuieren sie nicht, dass gewisse Waadtländer Radikale die Waffen niedergelegt und für M. Grimm gestimmt hätten? Als ob nicht schon beim alleinigen Gedanken das Blut in unseren Adern gefriert.
Gaudard hätte aus Neid gehandelt? Wissen diese Journalisten nicht, dass man Gaudard schon mehrfach den Präsidentensessel angetragen hat? Ausserdem wüssten diese Journalisten «besser als wir selber», dass die Deutschschweizer nicht bereit waren, die Präsidentschaft zwei Jahre nacheinander einer kleinen Fraktion [den Liberalen] zu überlassen. Es sei nichts zu machen gewesen. «Das Entscheidende ist, dass man persönlich ein ruhiges Gewissen hat.»
Zum Autor
Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».
Pilets erster parlamentarischer Beitrag erscheint in der Revue am Montag. Tags darauf kommt in der Gazette die Retourkutsche.
«Il a fallu s’incliner» ist der Titel von Grellets Artikel. Er schreibt, die Radikalen hätten Mühe gehabt, die Wahl Grimms zu entschuldigen, und fährt dann fort:
Glücklicherweise ist ein deus ex machina aufgetaucht, in Form des künftigen Waadtländer Bundesrats, der mit «erhabener Einfachheit» bereits Pilet-Golaz signiert, wie Jordan-Martin, Venosti-Venostu oder Waldeck-Rousseau [ein französischer Ministerpräsident]. Der designierte Nachfolger von M. Chuard gibt sein Début in der Revue, die früher ihre Spalten, gleich einer Säulenhalle des Ruhms, schon anderen hoffnungsvollen Triumphatoren wie M. Maillefer geöffnet hat. Absit omen!
Grellet spielt auf die 1919 danebengegangene Bundesratskandidatur von Paul Maillefer an und spricht den ironischen Wunsch aus, dass dies für dessen Nachfolger als Revue-Chronist kein böses Omen sein möge.
Zum Schluss dreht Grellet dem Revue-Chronisten noch das Messer in der Wunde um:
«Man hat sich beugen müssen», schreibt M. Pilet-Golaz, wobei er auf Anhieb und mit grossartiger Disziplin die natürliche Haltung derjenigen einnimmt, die sich «wir anderen» nennen. Sich verneigen ist sehr wohl das Alpha und Omega einer gewissen Politik: Der Politik, die wir zur Empörung all jener, die ein allzu biegsames Rückgrat haben, seit Langem anprangern. Wenn der Bundesratskandidat der Revue schon beim Betreten des eidgenössischen Vorzimmers eine gebeugte Haltung einnimmt, darf man dann hoffen, dass er sich aufrichtet, wenn er im Regierungssessel sitzt? Die Suisse romande jedenfalls verdient Besseres, als in Bern von Leuten vertreten zu werden, die ihr bloss sagen können: «Man hat sich beugen müssen.»
Harte Worte. Marcel Pilet-Golaz sitzt gerade eine Woche im Parlament und schon wirft ihm Starkommentator Grellet Rückgratlosigkeit vor. Kein verheissungsvoller Einstieg für den «Kronprinzen».
In seinem nächsten Brief aus dem Parlament weigert sich Pilet vornehm, den ihm von Grellet zugeworfenen Fehdehandschuh, aufzunehmen – oder er tut zumindest so:
Ihr werdet zweifellos nicht erwarten, dass ich auf die «Affäre Grimm» zurückkomme. Ihr wisst, dass ich sterile Polemiken nicht mag, und ich nehme nicht an, dass ich mir dies angewöhnen werde. Was auch immer gewisse Leute denken mögen, «wir anderen», die wir uns vor dem Unvermeidlichen beugten und uns nicht anmassen, die Welt in unserem Sinn neu zu erfinden, besitzen gleichwohl Willen und wir beabsichtigen, diesen Willen zu behalten. Journalisten mag es passen, sich in aller Bequemlichkeit mit unsereiner zu beschäftigen … wir hingegen verzichten darauf, ihnen Gleiches mit Gleichem zu vergelten.
Immerhin kann es sich Pilet nicht verkneifen, die Seitenhiebe Grellets auf ihn als «Dauphin» und auf seinen «Doppelnamen» zu parieren. Grellet hatte bezüglich «Pilet-Golaz» und «Vallotton-Warnery» genüsslich den Ausspruch eines Genfer Schriftstellers zitiert, wonach «in unserer egalitären Demokratie diejenigen besonders begünstigt sind, die darauf verfallen, zwei Namen zu tragen und nicht bloss einen». In einem Postskriptum schreibt Pilet:
Werden mir unsere Leser die Eigenwilligkeit verzeihen, dass ich «mit erhabener Einfachheit» mit dem Namen zeichne, den ich trage? Aus Bescheidenheit habe ich selber daran gedacht, mich ebenfalls mit meinen Initialen zu begnügen. [Grellet zeichnet mit P.G.] Aber trotz meines eifrigen Wunsches, denen zu gefallen, die mit stetiger und desinteressierter Sorge darüber wachen, was sie für mein politisches Schicksal halten, habe ich zu viel Hemmungen, ihnen auf diesem Weg zu folgen. Die perfekten Modelle lassen sich nicht imitieren.
Replik eines Bellettrien an einen andern Bellettrien. In kurzen zwei Wochen hat der neue Nationalrat in der welschen Schweiz einigen Staub aufgewirbelt. Pilet, der sich gerne als philosophe sieht – das heisst für ihn so viel wie Stoiker –, hat seinen Hang zur Rechthaberei nicht zügeln können. Er hat sich erdreistet, mit den einflussreichsten Journalisten der Romandie die Klingen zu kreuzen.
- Jeweils sonntags wird der Roman «Politiker wider Willen. Schöngeist und Pflichtmensch» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
- Fotos und Dokumente zum Buch
- Diese Kapitel sind bereits erschienen
«Politiker wider Willen»
Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen Wissens, seiner militärischen Kenntnisse und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.
«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.
Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch
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Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany