König des kalten Wassers
Waten im Wasser, eiskalte Aufgüsse: Vor genau 200 Jahren kam der deutsche Heilpraktiker Sebastian Anton Kneipp zur Welt. Er war Vor- und Querdenker, ein überzeugter Verfechter der Naturheilkunde. Kneipps Gesundheitslehren kommen bis heute zur Anwendung – gerade werden sie neu entdeckt.
Von Roland Grüter
Zwar liegt Sebastian Anton Kneipp seit 124 Jahren im Grab, seine Lehren sind aber noch immer brandaktuell. Der Pfarrer aus dem Allgäu schrieb Mitte des 19. Jahrhundert, als wolle er vor Burnouts warnen: «Die Lebensweise unserer Tage ist ein fieberhaftes Hasten und Drängen aller im Kampf um Erwerb und sichere Existenz». Kneipp sprach sich überdies gegen Zucker und Weissmehl aus, plädierte für eine Ernährung mit wenig Fleisch und Fett. Das klingt nach modernem Ramadan, veganer Küche und nach Empfehlungen der Weltgesundheitsbehörde. Mit diesen Thesen lassen sich noch immer Bücher in Bestseller-Auflage verkaufen.
Günstiges Allzweckmittel
Auch die von Sebastian Kneipp propagierten Wassertherapien sind noch immer hochaktuell – und kommen unverändert weltweit zum Einsatz. Heute weiss man, vielfach durch Studien belegt, wie gut kalte und warme Wechselbäder den Gefässen tun, wie man damit den Bluthochdruck normalisieren kann, sich Herzinsuffizienz behandeln lässt und das Immunsystem gestärkt wird. Neben dem Wasser legte Kneipp den Fokus in seinen Lehren auf vier andere Faktoren: gesunde Ernährung, regelmässiger Sport, die Heilkraft von Kräutern und die Ordnungstherapie, die Lehre des seelischen Gleichgewichts. Sein Gesamtkonzept nannte er «Die fünf Säulen». Diese haben den Jubilaren zum Vorreiter der ganzheitlichen europäischen Naturheilkunde gemacht. Die fünf Säulen sind auch nach heutigem Verständnis zentrale Punkte eines gesunden Lebensstils.
Kneipp wird am 17. Mai 1821 in Stephansried im Unterallgäu (D) geboren und wächst mit vier Geschwistern in ärmlichen Verhältnissen auf. Sein Vater ist Landweber, schon früh muss sich Klein-Sebastian an den Webstuhl setzen und mithelfen. Die Schule darf er nur bis zum zwölften Lebensjahr besuchen, denn die Heimarbeit ist dringlicher. Weil er aber unbedingt Priester werden will, lässt er sich von einem befreundeten Kaplan in Latein unterrichten. Im Alter von 23 Jahren schafft er es tatsächlich an ein Gymnasium. Ein Jahr später erkrankt er schwer – vermutlich leidet er wie viele andere Zeitgenossen dieser Tage an Tuberkulose. Er aber schreibt seine Leiden dem ständigen Sitzen und Studieren zu.
Zum Wasser kommt Sebastian Kneipp durch Zufall. Ihm fällt ein unscheinbares Büchlein in die Hand. Darin ist der «Unterricht von Krafft und Würckung des frischen Wassers in die Leiber der Menschen» beschrieben. Verfasst hatte das Werk 1833 Johann Siegmund Hahn, Doktor der Philosophie und Arzt. Kneipp findet in dessen Ausführungen die Lösung für seine Leiden: «Das passte, das stimmte, das war fast bis aufs Haar getroffen! Welche Freude, welcher Trost! Neue Hoffnungen elektrisierten den welken Leib.» Nach der Lektüre startet er sogleich einen Selbstversuch und geht im November 1849 zwei-, dreimal pro Woche in der kalten Donau baden. Auch zu Hause übergiesst er sich allenthalben mit Wasser, was ihn schnell genesen lässt: «Schaden brachte diese kalte Übung nie.»
Ärztegesellschaft macht mobil
Im Gegenteil: Das Hantieren mit kaltem Wasser macht ihn landesweit bekannt. Im Jahr 1855 kommt er nach Bad Wörishofen, das heutige Zentrum des Kneipp-Kosmos. Er probiert neue Entwässerungsverfahren aus und behandelt damit die Ordensschwestern und Bedienstete des dortigen Klosters. Damit bringt er die Mediziner gegen sich auf. Die Ärzteschaft will sich rigoros vom Pfaffen abgrenzen, der ohne naturwissenschaftliche Ausbildung Krankheiten kurieren will. Es hagelt Anzeigen gegen Kneipps Kurpfuschereien.
Das bringt den Mann nicht nur in Verruf, sondern beschert ihm auch enorme Popularität. Den Trubel weiss der gebürtige Bauernbub geschickt für sich zu nutzen: Schon früh begründet Kneipp einen Schulterschluss mit auserwählten Medizinern und initiiert den «Internationalen Verein Kneipp’scher Ärzte», heute Kneippärztebund genannt. Und als es Kneipp 1894 sogar schafft, Papst Leo XIII. von seinen Wassergüssen und seiner Ernährungsumstellung zu überzeugen («S’ Herrle könnt leicht noch zehn Jahre leben»), gelingt ihm der internationale Durchbruch.
In diesen Jahren wird Bad Wörishofen zum internationalen Kurort. Die Zahl der Badehäuser wächst, die Zahl der herbeiströmenden Kneipp-Fans noch mehr. 1897 zählt der kleine schwäbische Ort bereits mehr als 3000 Fremdenbetten. Heute gibt es weltweit Kneipp-Vereine, ja sogar Kneipp-Kindergärten und Kitas, in denen schon die Kleinen spielerisch das Prinzip der fünf Säulen erlernen. Am 4. Dezember 2015 kommt schliesslich der grosse Adelsschlag, die Anerkennung, die ihm zeitlebens nur zögerlich zugestanden wurde: Die Deutsche UNESCO-Kommission gibt bekannt, dass das «Kneippen als traditionelles Wissen und Praxis nach der Lehre Sebastian Kneipps» in das bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen wird.
Gerade wieder wird Kneipp neu entdeckt. Das Thema Prävention spielt in der Medizin eine zusehends wichtigere Rolle. Und Therapien wie die Kneipp-Kur, die einst als trivial galten, weil sie ohne Firlefanz auskommen und günstig sind, kommen dadurch neu zum Tragen. Vor allem die Balneologie, die Lehre therapeutischer Anwendungen und Heilwirkungen des Wassers, listet eine Vielzahl von Vorteilen der Hydrotherapien auf. Wasser sei das Medium, das Wärme und Kälte am besten transportiere – es wirke entspannend, schmerzlindernd und entzündungshemmend, aktiviere Abwehrzellen und schütte Hormone und andere Botenstoffe aus.
Spitzensportler auf Kneipps Spuren
Balneologen setzen kalte Güsse und Wickel beispielsweise als ergänzende Behandlungen bei Schlafstörungen, Rheuma, Bluthochdruck und Depressionen, nach Chemo-Therapien, ja sogar nach Covid-19-Erkrankungen ein. Und folgen in den Anwendungen oft Kneipps Lehre. Anlässlich des 200. Geburtstags wurden dieses Jahr landauf, landab Anlässe zu Ehren des Pioniers abgehalten – oft virtuell, denn Corona kennt auch bei verstorbenen Jubilaren keine Gnade.
Nicht der Erste, aber der Beste
Sebastian Kneipp war nicht der Erste, der sich mit der Wirkung von Wasser auseinandersetzte. Bereits im 5. Jh. v. Chr. schrieb beispielsweise der griechische Dichter Pindar: «Das Beste aber ist das Wasser». Auch Hippokrates schwärmt von den therapeutischen Anwendungen mit diesem Element. Mitte des 18. Jahrhunderts erlebt das kalte Wasser erneut Beachtung. So empfehlen beispielsweise Siegmund Hahn und sein Sohn Johann, beide deutsche Mediziner, in ihrem Buch kalte Güsse – eben genau das Werk, das Kneipp später begeistern wird. Im Jahre 1829 baute überdies Landwirt Vincenz Priessnitz seine erste Wasserheilanstalt im deutschen Bad Gräfenberg (heute das tschechische Jeseník). Er propagiert lange Bäder und Umschläge bis zum Einsetzen sogenannter «Krisen» – denn Hautausschläge oder Fieber deutet er als Beginn des Heilprozesses des Körpers. Auf diese Vorgänger bezieht sich Kneipp jedoch nie, vielmehr führt er den Ursprung seiner Methodik auf seine bäuerliche Herkunft zurück. Und auf die alten Römer.
Heute passten die fünf Säulen gut in die Zeit, erklären Expertinnen und Experten den Kneipp-Revivial, denn darin würden Patienten wieder in die Eigenverantwortung genommen – was von Modernisten stark wertgeschätzt werde. Zudem hätten Aktionen wie die «Ice-Bucket»-Challenge, in denen sich Menschen einen Eimer mit Eiswasser über den Kopf schütten, oder die Bilder von Profisportlern, die sich nach den Wettkämpfen zur Regeneration in eiskalte Bassins setzen, Kneipp-Kuren vom Staub der Historie befreit. Aus der Lehre hat sich denn auch ein brummender Industriezweig entwickelt. Produkte der Marke Kneipp werden heute in 18 Ländern verkauft, darunter auch in den USA und in Japan. Eine Entwicklung, die Kräuterpfarrer Sebastian Kneipp, der an der Gründung der Marke beteiligt war, selbst wohl nie so erwartet hätte.
Der Playmobil-Pionier
«Gesund bleiben und lang leben will jedermann, aber die wenigsten tun etwas dafür», schrieb einst der Wasserdoktor. Er selber hat viel dafür getan, das Leben anderer zu verlängern. Er starb am 17. Juni 1897 in Bad Wörishofen im Alter von 76 Jahren, vermutlich an einem Tumor. An sein Schaffen erinnert unter anderem eine Playmobilfigur, die im Jubiläumsjahr aufgelegt wurde – samt weissem Spitz, dem Lieblingshund von Kneipp.
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