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Vo Züri uf Bärn (1) 4. April 2022

Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (70) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Jede Woche erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom Wandern hinaus aus dem Beruf, hinein in die Pensionierung

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Ich hatte meine Pensionierung nicht herbeigesehnt. Sie war aufgrund meines Alters gekommen, und ich musste mich mit ihr arrangieren. Lang hatte ich überlegt, wie ich diesen ungeliebten Übergang gestalten wollte. Ich würde Distanz – räumliche und zeitliche – zwischen mein Züri-Team und den definitiven heimatlichen Ruhestand legen müssen. Längst vor Corona hatte ich deshalb beschlossen, meinen Arbeitsweg, den ich in wohl mehrere tausendmal mit dem Zug gefahren war, ein letztes Mal zu Fuss zurückzulegen. Auf schweizmobil zeichnete ich mir die verschiedenen Wanderetappen auf – möglichst in der Nähe der Geleise, aber doch auf Natur- und Wanderwegen.

Am 1. März war es soweit. Mein Redaktionsteam hatte nach dem verordneten Corona-Homeoffice zum ersten Mal wieder eine «richtige» Sitzung. Ich brachte eine Berner Züpfe, wir tranken zusammen ein letztes Glas Prosecco – danach machte ich mich auf die Wanderschaft Richtung Bern. Am Abend würde ich jeweils nach Hause zurückkehren, wo das heimische Hotel auf mich wartete, am nächsten Morgen zurück an den Ausgangspunkt fahren und weiterwandern. Insgesamt ergaben sich neunzehn kürzere oder längere Etappen, siebzehn habe ich gemacht, zwei stehen noch aus. Manchmal wanderte ich in Begleitung, manchmal war ich allein unterwegs. Immer mit dabei war der Hund. Bis auf die letzten Tage meinte es der Wettergott gut mit uns. 

Heiter wanderte ich meiner Zukunft entgegen. Auch wehmütige Momente kamen und gingen. Erinnerungen holten mich ein. Im Kloster Fahr besuchte ich das Grab der Lyrikerin Silja Walter. Nichts unterscheidet es von den Gräbern der anderen Benediktinerschwestern. «Sr. M. Hedwig» steht auf dem schlichten Grabstein. Silja Walters Gedichte haben mich mein Leben lang begleitet. Auf der Habsburg machte ich mit dem Hund ein Selfie – die Burg hatte ich bis anhin nur aus der Geschichte gekannt. Unterwegs von Schönenwerd nach Olten war der Kühlturm von Gösgen mit der gewaltigen Wasserdampfsäule mein ständiger Begleiter. Ich erinnerte mich, wie ich 1977 an der Demo gegen das AKW mitgelaufen war– brennend überzeugt, für das Gute und Richtige einzustehen. 

In Herzogenbuchsee ist vom armseligen Bauernhäuschen meiner Grosseltern nichts mehr zu sehen. Ein weisser Neubauklotz drängt sich zwischen die Häuserzeile. Im Nachbardorf das Schulhaus, in dem ich als Neunzehnjährige die erste Stelle angetreten habe. Es stand am Anfang meines langen, glücklichen Berufslebens. An diesem Tag schwelgte ich in Erinnerungen … Zum ersten Mal überhaupt sah ich auch das Denkmal im Grauholz, das an die verlorene Schlacht der Berner gegen die Franzosen vom 5. März 1798 erinnert. Ich dachte daran, wie meine Mama jeweils das Grauholz-Lied angestimmt hatte. Wenn der angeschossene Soldat seinen Kameraden bat «Noch eine Bitt, gewähre mir, grüss mir mein Weib und Kind …» musste ich immer gegen die Tränen kämpfen.

Mit jedem Wandertag lag Zürich weiter zurück – und die Freude am neuen Lebensabschnitt war zum Greifen nah.


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Beitrag vom 04.04.2022

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