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Stier und Schützin 11. Juli 2022

Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (70) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Jede Woche erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Kompromissen im Pensionierten-Ehealltag.

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Ein Jahr habe ich mir gegeben, um mein Berufsleben hinter mir zu lassen, aufzuräumen und in der Pensionierung anzukommen. Dann erst will ich schauen, wohin mich Herz und Interesse führen, und was ich gerne noch anpacken möchte. Die Hälfte dieser Zeit ist um – und die Pensionierung fühlt sich gut an. Meine Befürchtungen sind nicht eingetreten: dass mir langweilig wird und ich mit der Zeit und mit mir nichts anzufangen weiss. Im Gegenteil! Zwar stehen deutlich mehr sogenannte Instandhaltungstermine wie Physio-, Arzt-, Dentalhygiene- oder Fusspflege-Besuche als früher in meiner Agenda. Aber ohne Termine, Sitzungen und Redaktionsschluss im Nacken hat die Zeit eine neue Qualität bekommen.

Ich kann frei über sie verfügen: Ich packe am Morgen den Rucksack und mache mich mit dem Hund auf Wanderschaft. Ich treffe meine Freundinnen, ohne immer auf die Uhr schauen zu müssen. Wenn mich die Schreiblust packt, setze ich mich an den Computer und schreibe Texte oder verschicke Mails. Ruft mich die Kleine zu einem Spiel – was mit zunehmendem Alter immer seltener vorkommt – lasse ich alles stehen und liegen und setze mich zu ihr. Ich geniesse es, Tablar um Tablar in meinem geräumigen Büro aufzuräumen und die über die Jahre angesammelten und nicht mehr benötigten Dinge zu sortieren: Brockenstube, Papiersammlung, Abfallcontainer.

Auch die Kurve in die eheliche Zweisamkeit habe ich ganz gut gekriegt. Zwar hatte mir mein frühpensionierter Mann schon vor Monaten angedroht, mit dem neuen Lebensabschnitt würden «die Karten neu gemischt»: Einkaufen, Kochen und Putzen sei dann nicht mehr ausschliesslich Männersache. Jetzt gibt er den Kochlöffel doch nicht aus der Hand. Und traut mir auch nicht zu, dass ich festkochende von mehlig kochenden Kartoffeln unterscheiden, die richtigen Chilisorten einkaufen oder den passenden Wein auswählen kann. Selbst das Putzen bleibt an ihm hängen: Er fürchtet um das Material, wenn ich mir von der Schwiegertochter ein Putzgerät ausleihe, das wie von selbst über den Holz- und Feinsteinboden gleitet. Also bleiben mir nach der Pensionierung weiterhin nur meine Hausarbeiten von früher: Badezimmer und Wäsche. 

Trotzdem gibt es in unserem Rentnerdasein Optimierungspotenzial. Ich gehe am Abend ins Bett und male mir schon aus, was ich am nächsten Tag alles unternehmen will. Mein Mann geht schlafen und freut sich auf einen ruhigen nächsten Tag. Manchmal streiten wir uns – erdverbundener Stier und begeisterungsfähige Schützin, zwei Sternzeichen, die in der Astrologie nicht so recht zusammenpassen wollen: Er behauptet von sich, er sei gelassen und ruhe in sich, ich nenne ihn bequem und unflexibel. Ich meine, ich sei spontan und interessiert, er schimpft mich rastlos und auf der Flucht vor mir selbst. Ein Berufsleben lang kamen sich unsere unterschiedlichen Charaktere nicht in die Quere. Jetzt sollen wir sie für den Rest unserer Tage unter einen Hut bringen. Gar nicht so einfach.

Wir haben einen vorläufigen Kompromiss gefunden: Anfangs Woche legen wir die gemeinsamen Aktivitäten fest. Daneben können beide über ihre Zeit verfügen. Mein Mann verspricht, nicht mehr zu spötteln, wenn ich – für ihn unverständlich – so oft unterwegs bin. Und ich gelobe, sein Bedürfnis nach Ruhe zu respektieren. Auch wenn ich mir kaum vorstellen kann, dass Lesen, in der Sonne liegen und Kochen ein tagefüllendes Programm ist.


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Beitrag vom 11.07.2022

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