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Selbstverantwortung 16. November 2020

Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (69) erzählt seit Beginn der Corona-Krise jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: Von der Suche nach der richtigen Nähe und Distanz. 

Lange hatte die junge Familie in unserem Dreigenerationenhaus für ihre Island-Ferien gespart. Der Flug war gebucht, ein kleines Wohnmobil gemietet, die Fotoausrüstung stand parat. Dann kam Corona. Also planten Sohn und Schwiegertochter Ferien in den Schweizer Bergen. Am Wochenende davor wurde ihre weisse Katze von einem Auto angefahren. Die Tage gingen vorbei mit Tierarztbesuchen und Katzenpflege, das Feriengeld landete in der Tierklinik. So beschlossen wir Grosseltern, mit der Kleinen wenigstens einen Ausflug zu machen. Natürlich führte er ins Reich der Dinosaurier – in den prähistorischen Park im jurassischen Réclère nahe der französischen Grenze.  

Auf einem rund zwei Kilometer langen Rundweg durch den Wald begegnet man 45 Urwesen – in Originalgrösse und nach neustem paläontologischem Wissen rekonstruiert. Die Kleine rennt voraus und bleibt zurück, sie kennt sie alle, den Oviraptor und den Deinonychus, den Protoceratops und den Parasaurolophus. Den Rundgang machen wir gleich zwei Mal, wir steigen auf den Beobachtungsturm mit Blick auf das Doubstal und schaukeln auf der Hängebrücke, die den Teich mit dem Elasmosaurier überspannt. Corona ist weit weg und der Tag mit der Kleinen unbeschwert und glücklich. 

Wären wir ängstlicher, wären wir vielleicht zu Hause geblieben. Doch die Begeisterung der Kleinen überwog mögliche Bedenken und das Risiko schien uns tragbar. Nur einen Monat später realisiere ich: Es ist einfach, selbstverantwortlich zu handeln, wenn es am Corona-Horizont ruhig ist. Und es wird schwierig, wenn die Fallzahlen steigen, düstere Szenarien heraufbeschworen werden und ein unberechenbarer Corona-Winter droht. 

Kein Herr Koch rät uns Grosseltern mehr zu Distanz zu den Enkelkindern. Kein BAG, das mich aufgrund meines Alters zur Risikogruppe zählt. Mit der zweiten Welle muss ich meine Risiken selber abwägen, muss auch die Nähe zur Kleinen selber definieren. Wir sind froh, überlassen Sohn und Schwiegertochter die Entscheidung uns – von vielen Seiten höre ich, dass erwachsene Söhne und Töchter ihren Eltern aus Angst vor einer möglichen Ansteckung nicht nur die Enkelbetreuung, sondern auch einen Coiffeurbesuch oder die Stunde beim Physiotherapeuten vorenthalten. Ich staune, wie viele Gleichaltrige die Verdikte ihrer Jungen akzeptieren und frage mich, wo die ehemals aufmüpfigen 68er geblieben sind. Ich jedenfalls mag das Wort «Selbstverantwortung»: Es gibt mir ein Gefühl von Freiheit. 

Beitrag vom 16.11.2020
Usch Vollenwyder

Zeitlupe-Redaktorin

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