
Schule heute 24. März 2025
Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Hausaufgaben und Tells Geschoss.
Ich bringe die Post, welche die Briefträgerin einmal mehr versehentlich in unseren Kasten eingeworfen hat, in die untere Wohnung zu meiner Schwiegertochter. Die grosse Kleine sitzt am Küchentisch und macht Hausausgaben. Um sich herum hat sie einen Berg von Mäppchen, Computerausdrucken, losen Blättern, Heften und Büchern – sie hat Aufgaben in Deutsch, Mathematik, Musik und Englisch. Im Moment überfliegt sie ein Blatt, schreibt in Windeseile ein paar Wörter, kaut wieder am Bleistift. Ich schaue ihr über die Schulter: «Die Sätze müssen vom Präsens ins Präteritum», sagt sie. Präteritum? Ich lasse mir erklären lassen, was das ist. In meiner Schulzeit redete man von Gegenwart und Vergangenheit, als Lehrerin unterrichtete ich das Präsens und Imperfekt – und heute also Präteritum. Ich muss auch nachschauen, was das Partizip 1 ist. Oder das Futur 2.
Schnürchenschrift und Rechtschreibung, Schnellrechnen und das Einmaleins, Diktate, Aufsätze, Auswendiglernen und Abschreiben: Was früher wichtig schien, hat heute an Bedeutung verloren. Stattdessen werden Vorträge gehalten, Projekte erstellt und Teamarbeiten abgeliefert. Ganz abgehängt bin ich im Rechnen, da hilft mir nicht einmal das Handy weiter. Letztes Jahr kam die grosse Kleine einmal mit einem Arbeitsblatt hoch: ob ich ihr helfen könne? Es galt, irgendwelche Diagramme mit Zahlen zu ergänzen. Ich verstand nicht einmal die Fragestellung. Auch mein Mann – ehemaliger Gemeindeschreiber und Zahlenmensch – kam der Lösung nicht auf die Spur. Noch heute wurmt es ihn, dass er die Rechenaufgaben einer Zehnjährigen nicht lösen konnte.
Ich setze mich zu ihr an den Küchentisch und blättere durch die verschiedenen Schulhefte. Ich staune, was alles in die kleinen Köpfe rein muss. Fünf Lektionen haben sie Zeit, sich in eine Zeitungsreporterin zu verwandeln und eine beliebige Stelle aus einem beliebigen Buch in einen Artikel zu verwandeln. In einem anderen Heft müssen Gefühle beschrieben werden: «Das Toggeli kommt bei Heimweh. Es fühlt sich an, wie wen ein Berg auf der Brust läge.» Eine englische Grafik veranschaulicht die Ausbreitung der Waldbrände in Los Angeles innerhalb von vier Tagen. Vom Zukunftstag bei ihrem Papa schreibt sie: «Ich habe gelernt, dass Metal nach dem Mesen nicht mehr angefasst werden darf. Cool fand ich die vielen Roboter.» Auf einem anderen Blatt muss zu Länge, Gewicht, Tragezeit und Lebensdauer von Katta Lemuren und Orcas die richtige Masseinheit geschrieben werden.
«Wow, spannend, was ihr heute in der Schule alles lernen könnt», sage ich aufmunternd. Doch die grosse Kleine rümpft die Nase. Eigentlich würde es ihr Spass machen – wenn nur die doofen Jungs nicht wären. Und die Lehrer, die sie nicht zum Schweigen brächten. «Wenn Herr Lehner etwas sagt, lachen sie nur. Dann schreit Herr Lehner sie an und sie lachen noch mehr. Schliesslich muss Herr Lehner vor die Tür, um sich zu beruhigen.» Sie ist ganz aufgebracht.
In NMG – einst Geschichte, heute Natur-Mensch-Gesellschaft – geht es um das Thema «Sagenhafte Schweiz» und um Wilhelm Tell. Dazu musste sie einen «inneren Monolog» von Tell verfassen: «Mein Sohn ist so mutig. Ich bin stolz auf ihn. Wen ich nicht trefe, nehme ich den Landvogt ins Wisier» lässt sie Tell denken. Einmal mehr staune ich, wie sehr sich die Herangehensweise an den Schulstoff allein in den letzten zwanzig Jahren verändert hat. Weiter unten schreibt sie: «Es gibt viele Tellen. Die Tellgeschichten sind an vielen Orten pasirt. Sie zeigen uns, das man immer zusamen halten sol.»
Auch wenn mein Grosi-Journalistinnen-Herz bei der heutigen Rechtschreibung weh tut: Mir gefällt die Deutung der Tell-Geschichte in der Schulstube. Jetzt sollte die Botschaft nur noch in der Gesellschaft ankommen. Und bei den Mächtigen der Welt.
- Haben Sie sich auch schon gewundert, wie sehr sich der Schulstoff im Verlauf der Jahre verändert hat? Was halten Sie davon? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon berichten oder die Kolumne teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
- Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»


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