© shutterstock

Ostermundigen 11. November 2024

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Gospelchor-Proben in ihrer alten Heimat. 

Mein Schulter-Gstältli ist weg! Bei der Kontrolluntersuchung warf es der Chirurg gleich in den Müll: Jetzt müsse ich Beweglichkeit und Muskelkraft trainieren, sonst sei er mit seiner Arbeit nicht zufrieden. Also gehe ich in die Physio und mache fünfmal am Tag die vorgeschriebenen Übungen. Daneben geniesse ich die täglichen Hunde-Runden und fühle mich glücklich wie seit Wochen und Monaten nicht mehr. Ich überlege mir, welche meiner früheren Tätigkeiten ich langsam wieder aufnehmen könnte: An der Uni lassen sich nicht alle Vorlesungen nachholen. Meine Freiwilligentätigkeit im Demenzheim liegt noch weit weg. Schreiben kann ich erst begrenzt. Fürs Adventskonzert mit meinem Chor habe ich viel zu lange gefehlt. Was könnte ich nur anpacken?

Unter den vielen Mails, die ich abarbeiten sollte, findet sich eine Einladung zum jährlichen Mitsingen im Gospelchor Ostermundigen, mit Probeabenden im November und Auftritten in der katholischen und reformierten Kirche während der Adventszeit. Als meine Eltern noch lebten, habe ich den Singabend jeweils mit einem Besuch bei ihnen verbunden. Seit dem Tod meines Vaters vor fünf Jahren bin ich nie mehr hingegangen. Da hatte ich gedacht, ich würde diese Agglo-Stadt vor den Toren Berns für immer hinter mir lassen. Obwohl ich in Ostermundigen aufgewachsen bin, sich meine Eltern später ihren Traum vom Terrassenhäuschen in einem Aussenquartier erfüllt und ihre letzten Lebensjahre im dortigen Wohn- und Pflegezentrum verbracht haben, bedeutet mir Ostermundigen nichts.

Spontan beschliesse ich, mich trotzdem für den Gospelchor anzumelden. Da das Autofahren mit meinem handicapierten Arm immer noch tabu ist, nehme ich den Zug und gehe vom Bahnhof aus zu Fuss ins Pfarreizentrum der katholischen Kirche, wo die Proben stattfinden. Wie anders sieht die Bahnhofstrasse aus, die ich als Kind und Jugendliche Tausende Male gegangen bin! Statt der ehemaligen Papeterie steht an der Ecke eine Pizzeria. Das Haus unseres alten Arztes Doktor Bommeli ist längst abgerissen. Den Coiffeur Niederer gibt es auch nicht mehr. Die neue Guthirt-Kirche ist mir fremd, beheimatet war ich noch in der alten. 

Nach der Probe gehe ich zur Bushaltestelle, vorbei am gesichtslosen Block, in dem ich aufgewachsen bin. Die Teppichstange vor dem Haus, an der wir als Kinder geturnt haben, ist weg. Der Platz vor der reformierten Kirche vis-à-vis ist viel kleiner, als ich ihn in Erinnerung habe. Wo einst die Gärtnerei Dürig und der Milchhändler Stettler waren, stehen jetzt Mehrfamilienhäuser. Zwischen den Häusern hindurch erhasche ich einen Blick auf die Wohnung, die meine Eltern im Alters- und Pflegezentrum zuletzt bewohnt hatten. Sie ist hell erleuchtet. Und plötzlich, ganz unerwartet, spüre ich ein leises Ziehen im Herzen. 

Das Herzweh bleibt, auch als ich bei der Bushaltestelle bei der «Dreieckanlage» ankomme – einer dreieckigen Grünfläche mitten im Strassengewirr. Der Brunnen sprudelt wie in meiner Kindheit. Es gibt ein Foto von uns drei Kindern, wie wir daneben posieren – in weissen Pullis mit blauen Pompons, die uns unsere Mama auf ihrer neuen Strickmaschine gestrickt hatte. Neben dem Brunnen steht wie eh und je eine hohe Tanne. Meine Freundin Moni und ich standen jeweils verzaubert vor dem Baum, wenn er zur Adventszeit mit Lichterketten geschmückt und seine Äste mit Schnee beladen waren. Jetzt kommen mir doch tatsächlich die Tränen… 

Zu Hause liegt die Coopzeitung. Die Titelgeschichte ist dem Thema Heimat gewidmet. Der Wohnort präge, lese ich, und es komme gar nicht so selten vor, dass Menschen im Alter zu ihren Wurzeln zurückkehren. 

Auch wenn ich sicher nie nach Ostermundigen heimfinden werde: Ganz so gleichgültig, wie ich meinte, scheint mir der Ort meiner Kindheit und Jugend doch nicht zu sein. 


  • Wie eng sind Sie noch mit dem Ort Ihrer Kindheit verbunden? Hätten Sie Lust, davon erzählen? Wir freuen uns, wenn Sie uns an Ihren Gedanken teilhaben lassen oder die Kolumne teilen. Herzlichen Dank im Voraus.
  • Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»

Sie besitzen noch kein Abonnement der Zeitlupe?

Abonnieren Sie die Zeitlupe und lesen Sie alle unsere Artikel auch online.

Ich möchte die Zeitlupe abonnieren
Beitrag vom 11.11.2024
Usch Vollenwyder

Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Das könnte sie auch interessieren

Uschs Notizen

Adventssonntag

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von einer rockenden Kirche und einem Friedhofsbesuch.

Uschs Notizen

Hundert Tage

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom strapazierten Geduldsfaden und einem Lob auf Mitmenschen.

 

Uschs Notizen

Das unverlässliche Leben

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Feriengrüssen und einer geplanten Reise nach Amerika.

 

Uschs Notizen

Was trägt?

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Hildegard Knef und der Suche nach dem Fundament.