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Hans im Glück 19. Juni 2023

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom Alter, in dem alles immer weniger wird.

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Ich blicke von unserer Terrasse hinunter in den Garten, wo die Kleine und ihr Grosätte Federball spielen. Die Kleine wirbelt herum und springt in die Höhe, doch sie trifft längst nicht alle Bälle und der Schläger saust ins Leere. Mein Mann macht seine mangelnde Wendigkeit mit einer grösseren Treffsicherheit gut, sodass die beiden annähernd auf gleichem Niveau spielen. Mit immer noch leichtem Vorteil für meinen Mann, der in seinem Leben weit mehr Federball gespielt hat als sie, die das Spiel erst gerade entdeckt hat. Hin und wieder müssen sie die Leiter holen, um einen Ball aus dem Dachkännel zu fischen. Manchmal landet einer im Gebüsch, dann beginnt meist eine lange Suche. Gelächter und Jubelrufe der Kleinen tönen zu mir hoch.

Ich schaue meinem Mann zu. Sein weisses Haar glänzt in der Abendsonne. Ich weiss noch, wie er mit unseren Kindern gespielt hat. Da war er nicht zu schlagen. Als unsere Tochter einmal hoch oben auf einer Kletterstange sass und sich nicht mehr hinuntergetraute, war er in wenigen schnellen Zügen bei ihr und holte sie herunter. Das Frisbee warf er so in die Weite, dass es als Bumerang zu ihm zurückkehrte. Im Winter wedelte er über die Skipisten, im Sommer sah er mit seinen schwarzen Haaren, dem schwarzen Schnauz und der gebräunten Haut jeweils wie ein Südländer aus. Wenn ich ihn zu Rock und Pop tanzen sah, war ich immer begeistert von seinen Hüftbewegungen. Jetzt ist er ein richtiger «Grosätte» geworden.

Trauere ich da gerade vergangenen Zeiten nach? Auch meine jungen Jahre liegen ja weit zurück. Als ich vor kurzem unbeholfen auf meinem Handy herumfingerte, rutsche aus Versehen ein Foto von mir auf den Status. Ich erinnere mich genau, wo es aufgenommen wurde: Vor etwa vierzig Jahren, als wir in den Ferien auf Zypern einen Ausflug ins Landesinnere machten. Ich lehne über der Autotür, die sonnengebleichten lockigen Haare sind vom Wind verstrubbelt, das rosa Blümchenkleid hatte Spaghettiträger. Bevor ich das Bild wieder löschen konnte – ich musste erst nachfragen, wie man das macht – trafen schon die ersten Reaktionen ein. Herzchen und Küsschen schickte eine Cousine meines Mannes, eine andere fragte «Yesterday?!» und meine «Basi» aus dem Wallis schrieb spöttisch: «Nu nid so lang zrug».

Die jugendliche Attraktivität gehört definitiv der Vergangenheit an. Ich werde alt. Ich habe zwei Kniegelenke aus Edelstahl und eine kaputte Schulter. Die einstige Trittsicherheit in den Bergen ist mir abhandengekommen. Die digitale Welt hat mich abgehängt. Ich bin in allem langsamer geworden. Konnte ich früher ganze Balladen in kürzester Zeit auswendig, mühe ich mich über Tage mit den Liedtexten aus unserem Kammerchor ab. Meine Programme in der Mucki-Bude drehen sich um Sicherheit im Alltag statt um Kraft und Ausdauer. Ich kann es drehen und wenden wie ich will: Im Alter wird zurückbuchstabiert.

Vor der Bäckerei im Nachbardorf treffe ich auf einen alten Lehrerkollegen. Wir setzen uns auf eine Bank, plaudern von früher und erzählen uns von heute. Er wird demnächst aus dem eigenen Haus in eine kleinere Wohnung ziehen. «Eigentlich», sagt er, «ist das Alter wie das Märchen vom Hans im Glück. Alles wird immer weniger.»

Ich muss lachen: Hans tauscht seinen Klumpen Gold gegen ein Pferd, das Pferd gegen eine Kuh, die Kuh gegen ein Schwein, das Schwein gegen eine Gans und die Gans gegen zwei Wetzsteine. Als er aus einem Brunnen Wasser trinken will, fallen ihm diese ins Wasser, und Hans fühlt sich als glücklichster Mensch unter der Sonne. Das Grimm-Märchen endet mit den Worten: «Mit leichtem Herzen und frei von aller Last sprang er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter war.» Was für ein schönes Happyend!


  • Fühlen Sie sich manchmal auch wie Hans im Glück? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon erzählen oder die Kolumne mit anderen teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
  • Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»

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Beitrag vom 19.06.2023
  • Liebe Usch, das ist soooo berührend geschrieben. Vieles liest sich zwischen den Zeilen und lässt ein Gefühl der Sehnsucht nach einst entstehen, das Du dann mit Deinem «Hans im Glück» gekonnt auffängst. Danke vielmal und liebe Grüsse 😘 Annemarie

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