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Gottesgabe

Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (69) erzählt seit Beginn der Corona-Krise jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: Von Post-Heidis Pfeifen und Singen vor dem PC.

Eigentlich hat mich unsere Post-Heidi auf die simple Idee gebracht: Ich könnte ja auch für mich ganz alleine singen. Bei schönem Wetter kommt Heidi auf dem gelben Roller mit Anhänger, bei schlechtem mit dem Auto – meist erst lange nach dem Mittagessen. Sie lässt ihr Gefährt am Strassenrand stehen, kramt die Post für die umliegenden vier Häuser hervor und verteilt sie in die Briefkästen. Dazu pfeift sie. Sie pfeift immer! Von den schlechten Nachrichten, die sie zurzeit in die Häuser bringt, lasse sie sich nicht niederdrücken. «Ich bin halt eine Frohnatur», meint sie. Einmal habe eine Kundin zu ihr gesagt, Pfeifen sei aber keine Gottesgabe. «Dann hören Sie doch einfach nicht hin», lautete ihre Antwort.  

Monatelang habe ich nicht mehr gesungen. Dabei mag ich es, in einem grossen Chor mitzusingen. Ich lasse mich gern von der Person am Dirigierpult in die Welt der Melodien und Harmonien führen. Ob Oper, Volksmusik, geistliche Werke oder Gospel: Beim Singen fühle ich mich dem Himmel nah. Singen ist Balsam für die Seele. «Wo man singt, da lass dich ruhig nieder …», sagt der Volksmund. Jetzt bin ich verstummt, verstummt wie die zahlreichen Laienchöre und -orchester landauf und landab. Mein Bruder erzählt, wie bei seinem letzten Konzertbesuch der Dirigent nach dem Schlussapplaus den Dirigierstab weinend zur Seite legte.

Was hindert mich eigentlich daran, allein zu singen? Im Auto zum Beispiel, anstatt die immer gleichen tristen Nachrichten zu hören. Ich versuche es. Meine Stimme ist eingerostet, krächzend und alt fühlt sie sich an. Ich hole mein querbeetes Repertoire hervor – es hört mir ja niemand zu. Freddy Quinns «Junge komm bald wieder» kommt mir als Erstes in den Sinn. Der Schlager «Ein bisschen Frieden», der Gefangenenchor aus Nabucco, das Lumpeliedli «Dür ds Gürbetal uf, dür ds Gürbetal ab». Dann versuche ich es auch auf meinen Hunderunden. Nicht immer, aber hin und wieder und nur, wenn ich weitherum allein bin: Das Jodellied «Bärnbiet, du mi liebi Heimat». 

Zu Hause setze ich mich an den PC. Ich gebe irgendein Lied ein: «Im stillen Hirtentale», das meine Mama oft gesungen hat. Zwei Klicks, und ich kann es hören und sehe die Sängerin vor mir. Ich tippe «Polo Hofer» ein und alle seine Songs sind vor mir aufgelistet – ich brauche sie nur noch anzuklicken. Beim «Land ob de Wolke», das ich kürzlich an einer Beerdigung gehört habe, bekomme ich eine Gänsehaut, Leonard Cohens «Hallelujah» summe ich leise mit. Nein, alleine singen und Singen am PC sind kein Chorersatz – aber doch ein kleines bisschen Seelenbalsam. 

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Beitrag vom 02.11.2020
Usch Vollenwyder

Zeitlupe-Redaktorin

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