Familienvergangenheit 26. August 2024
Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von einer Dorfchronik, Vorfahren und ihrem alten Haus.
Am 23. Juli 1871 wurde Christian Vollenwyder vor den Gemeinderat zitiert. Im damaligen Protokoll steht zu lesen: «Zufolge Aufforderung vor dem Gemeinderath ist erschienen: Christian Vollenwyder, Sägenfeiler. Demselben wird die Order ertheilt sein Haus doch in bessern Zustand zu stellen bevor der Schaden sich zu stark verdopple und zugleich die Mahnung gegeben: haushälterischer zu sein und sich nicht so oft zu betrinken.»
Als Pensionierungsprojekt haben unsere Nachbar-Freunde unter dem Titel «Der Gemeinderath erkennt durch einhelliges Mehr …» Dorfgeschichten und Fakten aus dem 19. Jahrhundert festgehalten und sie in den kantonalbernischen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhang von anno dazumal gestellt. Sie kämpften sich durch Protokolle und Register, durchstöberten das Gemeindearchiv und lasen sich in Dutzende von Quellen ein. Entstanden ist eine 160-seitige bebilderte Broschüre, die von Armut und Auswanderung, von wenigen reichen Bauern und spärlichen Gemeindefinanzen, von «bevogteten» Frauen und verdingten Kindern erzählt.
Mit Gipsfuss und Armschlinge im Rollstuhl sitzend tauche ich ein in die Chronik unseres Dorfes und die Geschichte meines Mannes: Im Kanton Bern herrschte bittere Armut. Der Ausbruch des Vulkans Tamburo 1815 in Java hatte weltweit zu Missernten und Hungersnöten geführt. Die Kartoffelfäule Mitte und die Weltwirtschaftskrise Ende des Jahrhunderts trieben grosse Teile der Bevölkerung in die Massenarmut und zwangen viele zur Auswanderung. Auch Vollenwyders litten Not: Am 29. Juni 1832 bekam Peter Vollenwyder vom Gemeinderat «2 Brod» wöchentlich bewilligt. Die Kinder der Witwe des Daniel Vollenwyder wurden – wie viele andere – verdingt. In der Regel gab es dafür eine öffentliche «Mindersteigerung»: Erwerbsunfähige, Frauen und Kinder wurden für ein Jahr demjenigen übergeben, der am wenigsten Kostgeld für sie verlangte.
Ich brauche keine 2000-seitige Neuseeland-Saga zu lesen – mein Gipsfuss-Projekt – wenn ich die gleichen Geschichten gleich um die Ecke finde. Jedenfalls lege ich Sarah Larks Kauri-Trilogie weg und vertiefe mich in die Familienvergangenheit. Ich möchte wissen, wer von den vielen Vollenwyders – Barbara oder Christina, Bendicht oder Simon – schon in unserem Haus gelebt hat. Ganz sicher der Trunkenbold und Hallodri Christian Vollenwyder, Sägenschleifer. Das ist in den Gemeindeprotokollen verbürgt. Aber vorher? Unser Haus stammt aus dem Jahr 1678. Die von der einstigen Rauchküche geschwärzte Dachkonstruktion und alte Wände zeugen davon. Ich wohne in einem Haus, in dem über fast vier Jahrhunderte hinweg gelitten und geliebt, gestritten und gestorben, gearbeitet und gefestet wurde. Ich mag es, wenn es in diesem Haus wispert, knarrt und flüstert. Es ist ein Haus voller Geschichten, Ahnungen und Erinnerungen.
Gleichzeitig denke ich an einen Ausspruch meines Papas, den er immer und immer wieder gesagt hat: «Höret mer uf, vo der guete alte Zyt zrede. Guet isch si nämlech nid gsy.»
- Wohnen Sie auch in einem altehrwürdigen Haus? Wissen Sie, wer vor Ihnen darin gewohnt hat? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon berichten oder die Kolumne teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
- Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»
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