Ein perfekter Abend 23. August 2021
Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (69) erzählt seit Beginn der Corona-Krise jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von einem Konzertbesuch, einem Mondspaziergang und der Himmelsleiter.
Jeder Platz in der Klosterruine Rüeggisberg ist besetzt, auf den umliegenden Steinblöcken und Mauerresten sitzen Zaungäste. Corona-Regeln sind keine auszumachen, aber ich habe ohnehin den Überblick über das geltende Maskenregime verloren. So mache ich es wie die grosse Mehrheit und ziehe auch unter freiem Himmel den Mundschutz über. Für meinen Mann und mich ist es ein besonderer Abend: der erste gemeinsame Konzertbesuch seit Ausbruch der Pandemie. Sechs Lieder von Felix Mendelssohn und Volkslieder aus allen Sprachregionen der Schweiz stehen auf dem Programm.
Ich freue mich auf die Musik. Ich freue mich über den lauen Abend – ein seltenes Geschenk in diesem Sommer. Wie ein Scherenschnitt hebt sich der Wald vom Himmel ab, dunkel präsentiert sich die markante Gantrischkette am Horizont. Der fast volle Mond hält sich noch hinter einer grossen Wolke versteckt. Von der nahen Kirche schlägt es neun Uhr. Die Umrisse der Häuser verschmelzen mit der Dunkelheit. Als der Chor «Lueget, vo Bärge und Tal» anstimmt, wird mir ganz wehmütig. Kindheitserinnerungen werden wach. Auf der nächtlichen Heimfahrt verschwinden die letzten Wolken. Die Landschaft scheint verzaubert im silbernen Mondlicht.
Als wir zu Hause ankommen, fährt gleichzeitig die junge Familie vor. Sie hat eine Nachtwanderung im Sternenpark Gantrisch gemacht, wo zur nächtlichen Dunkelheit besondere Sorge getragen wird. Die Kleine springt mir entgegen, erzählt vom Aufstieg über den «Gäggersteg», und wie rot der Mond aufgegangen sei. Sie darf mich mit Hund und Katze noch auf den «Guet-Nacht-Spaziergang» ins «Bodewägli» begleiten. Die Katze macht Bocksprünge von der einen auf die andere Seite des Weges, der Hund erschnüffelt die neusten Spuren seiner Dörfli-Kollegen. Die Kleine hüpft voraus, ich folge am Schluss. Ich fühle mich beschenkt vom Leben.
Später sitzen mein Mann und ich mit einem Glas Rotwein auf dem Balkon unter dem Dach. Nur das Plätschern des Brunnens ist hören. Der Mond steht hoch am Himmel. Die Lichter auf dem Stockhorn und Niesen, dem Schilthorn und dem Jungfraujoch leuchten verlässlich wie jede Nacht. Ich weiss nicht, liegt es an der Musik, an der Heimfahrt durch die stille Landschaft, dem Mondspaziergang mit der Kleinen und den Tieren, oder am nächtlichen Zusammensein mit meinem Mann auf dem Balkon – aber alles scheint leicht und durchsichtig zu sein. Mir kommt eine Textzeile aus einem Gedicht der deutschen Lyrikerin Mascha Kaléko in den Sinn: «An solchem Tag erklettert man die Leiter, die von der Erde in den Himmel führt.»
- Haben sie in letzter Zeit einen ähnlich perfekten Abend erlebt wie unsere Kolumnistin? Dann erzählen Sie uns doch im Kommentarfeld davon. Wir würden uns freuen!
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Danke liebe Usch Vollenwyder
für diese schönen, wohltuenden Bilder
von Ihrem wunderwundervollen Erleben
in der August SommerNacht!
Eveline Elina Frey