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Das Kreuz des Südens 25. August 2025

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Aufbruch und Abschied. 

Der Umschlag mit der goldenen Aufschrift «Photo Album» ist mit ausgebleichtem rotgeblümtem Stoff überzogen, die Kartonseiten sind vergilbt, die Klarsichtfolie darüber blättert ab, und die Spiralbindung ist rostig. Das Fotoalbum ist mehr als fünfzig Jahre alt. «Die grosse Reise auf die Seychellen» steht auf der ersten Seite. Dazu habe ich aus einem Prospekt von anno dazumal das Foto einer KLM eingeklebt. Ich war zweiundzwanzig Jahre alt, es war meine erste Flugreise überhaupt – und entsprechend habe ich jedes Ticket, jede Boarding-Karte, jeden Gepäckschein aufbewahrt. Ich betrachte das Reiseprogramm, ausgestellt vom Reisebüro Baumeler: «o7.4o: Späteste Einfindungszeit im Flughafen Zürich-Kloten. o8.1o: Abflug mit SWISSAIR. Frühstück an Bord.»

In München hiess es umsteigen, mit der KLM ging es weiter nach Nairobi. Zwischenlandungen in «Cairo und Entebbe» steht auf dem Reiseprogramm. Nach einer Übernachtung in Nairobi flog British Caledonian auf die Seychellen – nur zweimal pro Woche konnten damals, kurz nach der Eröffnung des Flughafens, die Inseln erreicht werden. Mein Name auf dem durchgepausten dünnen Flugticket ist falsch geschrieben, dafür gab es eine Speisekarte: «Russian Egg Salad», «Chicken Sauté Alexander or Rump Steak à la Bourguignonne», dazu Broccoli und Kartoffeln, ein Schokoladenmousse und kenianischen Käse. Der Hinflug allein kostete für eine Person 2144 Franken.

Jetzt fliegen wir zum letzten Mal in meine alte Wahlheimat. Wie sehr haben sich die Zeiten geändert! Für zwei Personen kostet heute der Hin- und Rückflug nicht mehr als damals ein einfaches Billett. Spätestens vier Tage vor der Abreise musste der Antrag für die Einreise auf die Seychellen gestellt werden, mit Unterkunftsbescheinigung und einer Kopie der Pässe und Flugtickets. Zudem mussten wir ein Selfie hochladen. Wir als digitale Tiefflieger kamen an unsere Grenzen, aber wir schafften es! So wie auch das Online-Boarding. Es gelang uns sogar, Sitzplätze nach unserer Wahl zu reservieren – wir sind richtig stolz! Jetzt muss nur noch gepackt werden. Die Vorfreude ist gross.

Mein erster Flug – im «Photo Album» datiert vom 17. Januar 1974 – war ein Aufbruch. Ich betrat Neuland. Das Leben war aufregend und voller Abenteuer. Kein Hindernis schien mir zu gross, als dass es nicht überwunden werden könnte. Von der damaligen Reise weiss ich nicht mehr viel, aber ein Bild ist mir in Erinnerung geblieben: Irgendwann in der Nacht, südlich des Äquators, blickte ich aus dem kleinen Flugzeugfenster und sah das Kreuz des Südens. Der Anblick des Sternbilds war magisch, ein Versprechen für eine Zukunft in einer neuen Welt. Die nächsten Jahre begleitete es mich. Immer stand es am Nachthimmel, beständig und treu.

Auch in diesen letzten Ferien werde ich es wieder suchen. Nur verbinde ich es jetzt nicht mehr mit Aufbruch, sondern mit Erinnerungen und Abschied. Meine beste Freundin ist kurz nach Weihnachten gestorben, mein Herzensfreund vor einem Monat. Ich werde ihre Gräber besuchen. Ich werde aber auch noch einmal in die tropischen Gerüche, Farben und die Musik eintauchen. Ich werde meine ehemaligen Schülerinnen sehen und mit ihnen in Erinnerungen schwelgen. Ich werde die Zeit mit meinem Mann geniessen und ihm auch noch andere Inseln zeigen können. Freude und Dankbarkeit werden grösser sein als Wehmut und Traurigkeit – auch wenn beides zum Leben gehört.


  • Haben Sie auch einen Ort, zu dem sie noch ein letztes Mal reisen möchten? Und wie gehen Sie mit Abschied und Erinnerungen um? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon berichten oder die Kolumne teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
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Beitrag vom 25.08.2025
Usch Vollenwyder

Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

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