
Am Schattenhang 20. Januar 2025
Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von einer Einkaufstour ins winterlich-kalte Wallis.
«Gsottus» möchte mein Mann unseren Gästen – beide sind Fleischliebhaberinnen – vorsetzen. Aber wahrscheinlich bekommt man in der gesamten «Üsserschwiiz» kein «Gsottus». Dazu muss ich schon zu «meinem» Metzger ins Wallis fahren. Dank des Lötschberg Basistunnels bin ich in weniger als einer Stunde in Visp und habe gleich Anschluss ins nächste Dorf Rhonetal auswärts. Es ist eisig kalt, als ich am Bahnhof aussteige. Raureif hängt an den Bäumen, und obwohl keine Wolke am Himmel steht, fällt noch kein Sonnenstrahl in die Talebene. In dieser Gegend ist meine Mutter aufgewachsen, am Schattenhang, in einem kleinen Weiler mit einem halben Dutzend Häuser und einer kleinen Kapelle.
Oft hat sie uns erzählt, wie Anfang November die Sonne hinter der hohen Bergkette verschwand und erst zu Mariä Lichtmess am 2. Februar wieder auftauchte. Während der drei Wintermonate blieb der Weiler im Schatten. Ihr Zuhause war Schnee, Kälte und eisigem Wind ausgesetzt. Der Kachelofen in der Stube wurde von der Küche aus eingeheizt, doch behaglich warm wurde das Häuschen nie. Keine Wand stand im rechten Winkel, der Fussboden war schräg, die Holzwände und die kleinen Fenster hielten den Wind nur wenig ab. Schule gab es nur im Winterhalbjahr. Der Schulweg war lang, über fünf Kilometer. Lag zu viel Schnee, konnten meine Mama und ihre Geschwister nicht hingehen.
Ein Leben ohne Sonne, Licht und Wärme kann ich mir nicht vorstellen. Während ich den Kragen meiner Daunenjacke hochschlage und den zehnminütigen Weg zum Metzger unter die Füsse nehme, spüre ich eine grosse Wertschätzung meinen Grosseltern gegenüber, die widrigsten Verhältnissen getrotzt und sieben Kinder grossgezogen haben. Unter ihnen meine Mama, die ein so grosses Herz und ein solch fröhliches Lachen hatte. Und für die ihr armseliges Zuhause bis zuletzt der schönste Ort auf der ganzen Welt geblieben war.
Der Metzger freut sich, kommt jemand von ennet dem Lötschberg zum Einkaufen in seinen Laden. Grosszügig stellt er mir «Gsottus» zusammen – es ist nichts für Vegetarier: Luftgetrocknete Brustkerne und Brustspitzen, gesalzenen Speck, grüne Würste, angetrockneten Rohschinken, getrocknetes Schafsiedfleisch. Wahrlich keine edlen Stücke. «Gsottus» ist die Walliser Variante zur Berner Platte, zu der auch Rippli, Schüfeli und Zunge, geräucherter Speck, Gnagi und Zungenwurst gehören. Meine Tasche ist schwer, als ich aus dem Laden wieder an die Kälte komme und Richtung Bahnhof laufe. Mit meinen Gedanken bin ich immer noch im Haus meiner Grosseltern. Ein Spruch aus einer Todesanzeige kommt mir in den Sinn: «Erinnerungen sind wie ein Schatz, der für immer im Herzen aufbewahrt wird.» Mein Herz ist gefüllt mit kostbaren Schätzen.
Übrigens: Zu den Erzählungen meiner Mutter gehörte auch, wie sehnsüchtig im kleinen Weiler der zweite Februar und mit ihm die Sonne erwartet wurde. Meine Schwester hat ein Bild vor Augen: wie unser Grossvater an Mariä Lichtmess noch in der Dämmerung aufstand, vors Haus trat und wartete, bis die Sonne aufging. Und wenn sie über der Bergkette aufleuchtete, breitete er die Arme aus, als wollte er sie umarmen. Eine archaische Geste: Er, der Patriarch, begrüsste jedes Jahr wieder neu die Sonne.
- Welche Erinnerungen haben Sie an das Haus, in dem Ihre Mutter aufgewachsen ist? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon berichten oder die Kolumne teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
- Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»


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