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Alles ist relativ 16. April 2020

Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder ist 69 Jahre alt. Als Angehörige der Risikogruppe erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von grosser Ungerechtigkeit und kleinem Glück.

«Schreib doch mal was Erfreulicheres», sagt mir meine langjährige Redaktionsfreundin. Etwas Erfreulicheres? Ich frage nach. «Ja, zum Beispiel, dass es uns in der Schweiz, im Vergleich zu fast überall auf der Welt, doch gut geht». Diesen Satz könnte ich jeden Tag ans Ende meiner Corona-Notizen stellen. Ich weiss natürlich, dass ich von einer privilegierten Warte heraus von meiner kleinen Dörfliwelt berichte. Die Leute rundum bestätigen es mir ständig: «Wir haben es doch gut.» 

Selbstverständlich bin ich mir bewusst, dass auch in unserem Land nicht alle Menschen auf gleich vielen Rosen gebettet sind. Doch selbst in Corona-Zeiten haben wir ein Dach über dem Kopf, müssen nicht frieren und hungern, profitieren von einem funktionierenden Sozial- und Gesundheitssystem und haben eine Regierung, der das Wohl des Landes am Herzen liegt. Die andere Welt kennen wir aus dem Fernsehen: Überfüllte Spitäler in Italien, erschöpftes Pflegepersonal in Spanien, strenge Ausgangssperre in Frankreich, und einen amerikanischen Präsidenten, der täglich seine Hände in Unschuld wäscht. 

Hinzu kommen die Tragödien, die sich im Schatten von Corona abspielen und von den Medien kaum noch zur Kenntnis genommen werden: Die Heuschreckenschwärme in Ostafrika, die nach wie vor ganze Landstriche kahlfressen. Die Rettungsschiffe im Mittelmeer, die mit ihren in Seenot geratenen Flüchtlingen nirgends mehr anlanden können. Die Bilder der indischen Wanderarbeiter, die sich zu Zehntausenden zu Fuss in ihre Heimatdörfer aufmachen. Die syrische Stadt Idlib in Trümmern. Die dramatische Situation an der türkisch-griechischen Grenze. All die Einzelschicksale, die damit verbunden sind. Mir wird schwindlig.

Meine Hunderunde führt mich auf den Belpberg, den Hügelzug zwischen Gürbe- und Aaretal, mit Blick auf die Alpenkette und die Hügellandschaft des Emmentals. Der Biswind zerzaust meinen Haarschopf und lüftet meinen Kopf. Unterwegs begegne ich einem alten Mann. Er geht an einem Stock, auf dem Kopf trägt er eine Zipfelmütze. Er streichelt den Hund, der ihn neugierig beschnüffelt. Ich frage ihn, wie es ihm so gehe in dieser nicht einfachen Zeit. Er lächelt mich an und sagt bedächtig: «Haben Sie die Berge gesehen? Sie sind so schön! Das andere? Daran können wir doch nichts ändern.» 

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Beitrag vom 16.04.2020
Usch Vollenwyder

Zeitlupe-Redaktorin

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