Einmal ein Büsi sein
Die Hauptfigur des herausragenden Abenteuerspiels «Stray» ist eine Katze. Genauer gesagt ein obdachloses Tigerli, ein Streuner.
Text: Marc Bodmer
Nun, Games mit Tieren gibt es haufenweise: Solche mit pinken Ponys, die schielen, mit Hundewelpen, die geknuddelt sein wollen, mit Hirschen, die zum Abschuss freigegeben sind und natürlich unzählige mit Fantasy-Viechern wie Drachen und anderen Chimären. Aber Katzen, vor allem solche, die sich realistisch auf vier Pfoten bewegen, hat es bis dato kaum gegeben.
Von Beginn weg macht «Stray» so ziemlich alles richtig. Man lernt eine kleine Gruppe Katzen kennen, die in einem Schacht Zuflucht vor einem Gewitter gefunden hat. Während es draussen blitzt und donnert, pflegen sie sich. Es wird geschnurrt und geschlafen. Dann geht es auf Erkundungstour. Dabei verliert ein Tigerli nach einem Sprung den Halt, blickt seine Familie mit weit aufgerissenen Augen an und stürzt in die Tiefe. Hinkend rafft es sich auf, bricht zusammen, schläft. Ohnmächtig schaut man zu. Die emotionalen Bande sind in den ersten Minuten geknüpft.
Nun gilt es, mit dem namenlosen Büsi die Familie wiederzufinden, aber auch das Geheimnis dieser bizarren, zerfallenden Stadt zu lüften, in der vornehmlich havarierte Roboter hausen. Inspiriert wurde die dystopische Metropole von der legendären Walled City, die es einst in Hong Kongs Stadtteil Kowloon gab. Die beiden Künstler Vivien Mermet-Guyenet und Colas Koola, die das Blue Twelve Studio für die Entwicklung von «Stray» gründeten, waren fasziniert von dieser rechtlosen Enklave, in der zu Beginn der Neunzigerjahre auf 2,6 Hektaren rund 50 000 Menschen hausten. Es war der am dichtesten besiedelte Ort der Welt.
In «Stray» jedoch bekommt man es nicht mit Menschen, sondern Maschinen zu tun. So bleibt der Kontrast zwischen Jö-Büsi und der kalten Endzeitstimmung erhalten. Aber das Abenteuerspiel (bei dem Neugier belohnt wird, aber auch gelegentlich – wie es für Katzen üblich ist – mit dem Tod endet) baut nicht nur Stress auf. Immer wieder werden Szenen eingeflochten, die Entspannung bieten. Hier kann man einen Kübel von der Kante stossen, dort genüsslich einen Teppich mit den Krallen traktieren – gesteuert wird das über die rechten und linken Vordertasten an der Fernsteuerung.
Es sind denn auch diese «kätzischen» Momente, die «Stray» und dessen dichte Atmosphäre auszeichnen. In einem Interview sagte Produzent Swann Martin-Raget: «Rund 80 Prozent der Mitarbeitenden haben eine Katze oder lieben sie.» Zum Studio gehören auch zwei Büsi, deren Verhalten eingehend studiert wurde. Besonders die Nacktkatze Oscar half den Animatoren bei den Bewegungsabläufen. Laufend erstellten sie Videos von Oscars Sprüngen und sonstigen Sperenzien und waren dankbar, dass kein Fell den Bewegungsappart verdeckte.
So dehnt sich die Cyberkatze wie eine richtige Katze, macht einen Satz zurück, wenn sie erschrickt. Diese Bewegungen sind so erfrischend anders als die der Hünen, Amazonen, Krieger und Athletinnen, die man in den letzten Jahrzehnten während tausenden von Stunden gesteuert hat. Übrigens: Das eigentliche Vorbild der Game-Katze heisst Murtaugh und ist ein Tigerli, das vor sieben Jahren von den Studiogründern auf den Strassen von Montpellier gefunden wurde.
«Stray» ist eine Liebeserkärung an Büsis. Das Game ist erfrischend und lässt die Spielenden eine dystopische Stadt aus der Perspektive einer Katze erkunden. Natürlich wird man gelegentlich Opfer der eigenen Neugier.
Stray, Blue Twelve Studio / Annapurna, PS 4/5 & PC