Spuren der Erinnerung
Regelmässig erreichen uns Geschichten, Texte und Zuschriften unserer Leserinnen und Leser. Diese wollen wir Ihnen nicht vorenthalten. Heute: Erinnerungen an eine ganz besondere Reise von M.W.
Es klingelte an der Haustüre; kurz, lange und nochmals kurz. Ich wusste, draussen stand meine Freundin Monika. Es war Adventszeit und als sie mich mit dem Backpinsel in der Hand sah, entschuldigte sie sich, dass sie mich beim Backen störe. «Komm rein, ich bin nicht beim Backen, sondern entstaube wieder einmal meine orientalischen Glasfläschchen. Und deine Bemerkung, ich solle mir endlich eine Glasvitrine anschaffen, kannst du dir sparen», entgegnete ich spöttisch.
Die einzigen Gegenstände in meiner Wohnung, die ich gerne entstaube, sind diese Fläschchen. Jedes einzelne Stück in den Händen bedeutet für mich eine Spur zurück in die Vergangenheit, verbunden mit eindrücklichen Erlebnissen. Sorgfältig nehme ich zwei Exemplare aus der Sammlung, ein dunkelblaues, filigran mit Silber verziertes, und ein rotes, teilweise marmoriertes. Diese beiden Gläschen sind der Grundstock meiner Sammlung, die Spuren erinnern an eine nervenaufreibende Woche.
Das kam so: Ende Mai 1967 flogen mein Mann und ich in die Flitterwochen nach Tunesien. Es sollten nach einer strengen Zeit, die Hochzeitsvorbereitungen nun mal mit sich bringen, zwei unbeschwerte Wochen am Strand werden. Vor 50 Jahren war das Reisen noch nicht so komfortabel. Die Flüge waren turbulenter, was nebst uns auch noch andere Erstflieger zu spüren bekamen, denn die Maschine sackte oft ab.
Gegen Abend in Tunesien angekommen, schlug uns eine brütende Hitze entgegen, das Abenteuer begann. Ein VW Bus holte uns ab, um uns in das ungefähr zwei Stunden entfernte Hotel zu fahren. Nach einer Stunde Fahrt über holprige Strassen erschreckte uns ein lauter Knall – eine Reifenpanne. Der Chauffeur bat uns, auszusteigen, die Koffer vom Dach zu nehmen, um darauf zu sitzen. Und mit viel Charme erklärte er: «Pas de problème». Zum Glück wussten wir noch nicht, wie lange wir da sitzen würden und was «pas de problème» wirklich heissen sollte. Nämlich, dass kein Reserverad vorhanden war und wir vier Stunden am Rande der Wüste ausharren mussten.
Es wurde stockdunkel und kalt – und die ungewohnten Tierlaute trugen auch nicht zur Gemütlichkeit bei. Ich stellte mir vor, wie Schlangen um uns herumschleichen. Mein Mann beruhigte mich, da kämen keine Schlangen. Aber damals wusste er genau so wenig über Tunesien Bescheid wie ich. Eine frisch verheiratete Frau verlor die Nerven und schrie ihren Mann an: «Wären wir doch ins Tessin gefahren, wie ich es wollte, aber nein, für die Hochzeitsreise musste es etwas Besonderes sein, jetzt haben wir das Besondere, mit dir gehe ich nie mehr auf eine Reise.» Dieses Intermezzo heiterte uns ein wenig auf. Das junge Paar war noch keine zwei Tage ein verheiratet. Das waren ja rosige Aussichten! Nachts um ein Uhr hielt ein Lastwagen an, der Chauffeur lud unsere Koffer auf und bat uns, aufzusteigen. Wir fühlten uns alle derart müde, dass es eine Weile dauerte, bis wir bemerkten, dass wir inmitten von Hühnerkäfigen sassen… So hatten wir uns unsere Hochzeitsreise nicht vorgestellt!
Die ersten beiden Tage im Hotel schliefen wir, dann begannen wir die herrliche Lage, den Strand, das Meer und den wohlverdienten Liegestuhl zu geniessen. Nach einer Woche stand unerwartet unsere Reiseleiterin neben uns. Das war eine Freude. Wir befanden uns das erste Mal in einem arabischen Land und wollten natürlich gerne so einiges von ihr wissen. Dazu kam es allerdings gar nicht, denn sehr gestresst und aufgeregt teilte sie uns mit, wir sollen unsere Koffer sofort packen. In zwei Stunden würden wir abgeholt. Wir glaubten an einen Irrtum, schliesslich hatten wir 14 Tage gebucht. Auf unsere Frage nach dem Warum erhielten wir keine Antwort. Auch sie wisse nichts Genaueres, bat uns aber eindringlich, bereitzustehen.
Angekommen am Flughafen in Tunis herrschte ein unglaubliches Chaos, es gab keine Anzeigetafeln, die Durchsagen wurden auf Arabisch gemacht. Niemand wusste, was los war. Es gab keine Reiseleiter, eine riesige Menschenmenge und kaum Luft zum Atmen. Mein Mann ging auf die Toilette, kam endlos lange nicht zurück. Ich stand da wie angewurzelt. Es befiel mich die Angst, ich könnte ihn in diesem Durcheinander verlieren. Einen schreienden Verkäufer fragte ich, was denn los sein. Er zuckte die Achseln und ich verstand nur das Wort «Guerre».
Dann tauchte mein Mann auf, in der Hand ein Päckchen umhüllt mit Zeitungspapier. Er wollte mir nicht erklären, was sich darin befand. Plötzlich entdeckten wir draussen durch die Fensterscheibe eine Swissairmaschine. Das Gefühl der Erleichterung in diesem Moment ist unbeschreiblich. In den über 40 Ländern, welche mein Mann und ich danach über die Jahre bereisten, empfanden wir nie wieder derartige Glücksgefühle, wenn wir ein Schweizerkreuz im Ausland entdeckten. Als wir nach sechs bangen Stunden ins Flugzeug einsteigen durften, kam es uns vor wie der Eintritt ins Paradies.
Auf dem Heimflug erklärte uns die Crew, warum sämtliche Bürger unverzüglich in die Schweiz heimgeholt wurden: Israel und Ägypten begannen zusammen mit anderen arabischen Ländern einen Krieg. Man befürchtete, Tunesien werde auch hineingezogen, zumal der damalige Präsident Bourguiba sich lautstark auf die Seite der Araber schlug. Dieser Krieg ging als Sechs-Tagekrieg in die Geschichte ein.
Im Flugzeug erhielt ich das Päckchen. Meine Überraschung war gross! Eingewickelt in Zeitungspapier befanden sich zwei wunderschöne Glasfläschchen. Jeden Tag, wenn ich im Hotel an der Vitrine vorbeiging, bewunderte ich sie und hatte mir vorgenommen, zur Erinnerung an unsere Flitterwochen am Ende der Ferien zwei davon zu kaufen. Meinem aufmerksamen Ehemann war dies nicht entgangen. Sie waren nicht ganz identisch, aber die Farben hatten Bedeutung: Rot, weil wir vor Stunden nur rot sahen und Blau, weil wir mit einem blauen Auge davongekommen waren. Ich freute mich, als hätte ich ein sündhaft teures Geschenk erhalten.
In Gedanken versunken stellte ich die für mich emotional wertvollen Stücke behutsam in die Sammlung zurück, welche inzwischen gegen zweihundert Exemplare beträgt. «Verstehst du mich nun, Monika? Jedes dieser Fläschchen führt zu einer Spur der Erinnerung.» Diese Spuren sind ganz vielfältig, sie reichen zurück zu einer armseligen Hütte eines Strandaufsehers bei Nacht, zu einem dubiosen Händler in einer Seitengasse eines Bazars, zu einem Gärtner im Sommerpalast des Präsidenten usw. Jedes Stück hat seine Geschichte. Es gibt Spuren im Sand und Spuren im Schnee, beide verwehen sehr rasch. Spuren der Erinnerung im Herzen eines Menschen verwehen nie. Monika umarmte mich und sagte lächelnd: «Ich werde nie mehr versuchen, dir eine Vitrine aufzuschwatzen.»
M.W.
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