Ein Schweinchen namens Brigitte
Wie sich der heute 82-jährige Franzose Daniel Pestel im Algerienkrieg mit einem Wildschwein anfreundete und es zum Maskottchen des gesamten Regiments machte.
Aufgezeichnet von Claudia Senn
«Der junge Mann auf dem Bild bin ich. Damals war ich 19 Jahre alt. Ein Jahr später, 1959, schickte mich die französische Armee in den Krieg nach Algerien. Algerien war damals eine französische Kolonie und wollte sich vom Mutterland unabhängig machen, was in einen über sechs Jahre dauernden blutigen Krieg mündete. Ich gehörte zu einem Fallschirmjäger-Regiment und hatte keine Ahnung, was auf mich zukommt. Angst hatte ich keine. In meiner Naivität empfand ich die Einberufung vielmehr als eine Art Abenteuer.
Zweieinhalb Jahre sollte mein Einsatz dauern. In dieser Zeit habe ich viel Schreckliches erlebt, sah Kameraden neben mir sterben, rettete andere Kameraden und bekam dafür vom Staat einen Orden. Viel lieber erinnere ich mich jedoch an Brigitte.
Brigitte und ich begegneten uns im Oarsenis, einem wilden Bergmassiv, in dem sich viele algerische Rebellen verschanzt hatten. Einige Wochen vor Ende meines Einsatzes wurden wir dort in ein Gefecht mit dem Gegner verwickelt. Der Kommandant befahl uns vorzurücken. Da stob plötzlich eine ganze Rotte Wildschweine davon. Ein winziger Frischling, vielleicht eine Woche alt, fiel in ein Loch, aus dem er sich nicht mehr befreien konnte. Ich nahm das Tierchen in meine Hand. Sein Fell fühlte sich rau an. Mir schien, es sei ein Weibchen, ich fand es wunderschön. Inmitten des Krieges übermannte mich grosse Zärtlichkeit.
Ich nannte das Schweinchen Brigitte, nach Brigitte Bardot. In unserem Quartier bot ich ihm mit Wasser angerührte Pulvermilch an. Brigitte war begeistert. Als wir Soldaten später zu Abend assen, setzte ich Brigitte auf den Tisch. Sie trottete vom einen zum anderen und bekam von jedem einen Happen ab. Bald lernte sie auch, aus den Blechbechern zu nippen, in die wir unseren Rotwein füllten, was sich später als verhängnisvoll erweisen sollte. Sie nahm den Becher sanft in ihre Schnauze und kippte ihn dann ganz vorsichtig, bis der begehrte Alkohol in ihre Kehle floss. Natürlich war sie hinterher betrunken. Mir tut das bis heute leid. Bald werden Sie verstehen, warum.
Brigitte wurde zum Maskottchen des Regiments. Verliessen wir unser Quartier, trug ich sie stets in einem Beutel mit mir herum, wie eine Kängurumutter ihr Junges. Ihr Kopf guckte heraus und Brigitte quiekte, wenn sie etwas kommentieren wollte. Sogar beim Fallschirmspringen war sie mit dabei. Allerdings mochte sie es absolut nicht. Nach der Landung war sie immer völlig durcheinander. Wildschweine sind nun mal nicht zum Fallschirmspringen gemacht, das hätte mir eigentlich klar sein müssen.
Brigitte war fast so verschmust wie eine Katze. Am meisten liebte sie es, unter dem Kinn gekrault zu werden. Wenn mich jemand anderes anfasste, verteidigte sie mich hingegen eifersüchtig wie ein Hund. Einmal biss sie sogar jemanden in die Wade, der mir ihrer Ansicht nach zu nahe gekommen war. Nachts kuschelte sie sich in meine Armbeuge und schnarchte leise. Sie war sauber und roch gut. Wir verbrachten kaum einen Moment getrennt, ausser wenn der Colonel Gäste hatte und Brigitte auslieh, um sie als Attraktion vorzuführen. Nach diesen Abenden war sie immer besonders angeheitert.
Ein Wildschwein auf Reisen
Schliesslich war mein Einsatz beendet und ich wurde nach Hause entlassen. Meine Kameraden waren dagegen, dass ich Brigitte mitnehme, also schmuggelte ich sie heimlich aus dem Camp. In Algier wollte ich ihr ein Hundehalsband mit Leine besorgen, doch Brigitte hatte einen enorm dicken Hals, sodass sie ein Halsband für Kälbchen brauchte. Für die Überfahrt nach Marseille hatte ich extra eine Kabine gebucht, um es ihr leichter zu machen. Aber die beiden Männer, mit denen ich die Kabine teilte, hatten etwas gegen Wildschweine als Mitbewohner. Noch dazu waren sie Jäger. Ich bin sicher, meine Brigitte konnte das riechen! So verbrachten wir die Nacht doch an Deck.
In Marseille schritt ich mit Brigitte auf der Canbière, der historischen Prachtsstrasse, vom Hafen bis zum Bahnhof. Das war vielleicht ein Spass! «Was ist das denn für ein Tier?», wollten die Leute wissen. Ich sagte: «Ein ganz seltener Hund aus Südamerika.» Aber jeder wusste natürlich, dass das ein Witz war. Vor meiner Ankunft in Marseille hatte es geregnet, und Brigitte suhlte sich wohlig in jeder Pfütze. Eindeutig, sie mochte Marseille.
Aber wir mussten weiter, nach Vichy, wo meine Grossmutter lebte, bei der ich aufgewachsen bin. Im Zug dufte ich Brigitte nicht mit in mein Abteil nehmen. Sie reiste ganz allein in einer Kiste im Gepäckwagen. Weil das Wetter so heiss war, machte ich mir grosse Sorgen, dass sie Durst haben könnte. Jedesmal, wenn der Zug hielt, rannte ich zum Gepäckwagen, um dem Schweinchen etwas Wasser einzuflössen.
Meiner Grossmutter hatte nichts von Brigitte erzählt, es sollte eine Überraschung werden. Doch sie hatte wohl ihre eigenen Ansichten darüber, was eine gute Überraschung ist. Jedenfalls wollte sie Brigitte unter keinen Umständen ins Haus lassen. Mein Wildschwein wurde im Gemüsegarten angebunden, den es im Nullkommanichts in eine Schlammwüste verwandelte. Hier wuchs Brigitte zu einer stattlichen Sau heran.
Irgendwann fand ich eine Arbeit als Grafiker in Paris. Eine ausgewachsene Wildsau in der eleganten Landeshauptstadt – selbst ich wusste, dass das eine Schnapsidee ist. Beim Gassi gehen auf den Champs Elysées würde ich mir mit ihr nur Ärger einhandeln. Mein Stiefvater vermittelte mir einen Bauern im Bordeaux, der bereit war, Brigitte aufzunehmen. Er wollte sie mit seinen Hausschweinen kreuzen. Doch soweit kam es nicht.
Noch immer kommen mir die Tränen, wenn ich an Brigittes Ende denke. Ihr Tod ist nun 60 Jahre her, aber der Schmerz quält mich wie am ersten Tag. Ich mache mir solche Vorwürfe! Schliesslich war ich es, der meine geliebte Brigitte mit dem Geschmack von Rotwein bekannt gemacht hatte. Der hat sie schliesslich umgebracht.
Der Bauer, der Brigitte aufgenommen hatte, baute neben Kartoffeln und einigen anderen Produkten auch Wein an. Nachts wollte er Brigitte gemeinsam mit seinem Hund im Hof anketten, doch die beiden gegensätzlichen Tiere hassten sich so lautstark und unerbittlich, dass sich der Bauer schlaflos in den Laken wälzte. So sperrte er Brigitte schliesslich in den Weinkeller, wo sie den verführerischen Duft von Rotwein erschnupperte, den sie bei der französischen Armee schätzen gelernt hatte. Brigitte konnte nicht anders, mit aller Kraft zog sie den Korken aus einem der riesigen Fässer. Der Wein sprudelte aus der Öffnung und überschwemmte bald den ganzen Keller. Es war ihr Untergang. Meine arme Brigitte, sie hat sich buchstäblich zu Tode gesoffen.»
Daniel Pestel ist Künstler und lebt heute in Zürich. Seit einer Hirnblutung im Jahr 2003 ist er an den Rollstuhl gefesselt.
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