Ein Leben für die Schule
Beim Stöbern in alten Erinnerungen fand Heidi Rheiner aus Belp BE das Foto vom Frühlingstheater in der zweiten Klasse bei Fräulein Reich in Olten. Vielleicht wählte sie wegen dieser engagierten Lehrerin später den gleichen Beruf?
Fräulein Reich, meine Lehrerin in der ersten und zweiten Klasse in Olten, unterrichtete anschaulich und mit vielen praktischen Beispielen aus dem Alltag. So erwarben wir das Wissen spielerisch und gingen mit Freude zur Schule. Um die Neunerreihe zu lernen, liess sie uns zehn Osternestchen mit je neun farbigen Eiern basteln – daran erinnere ich mich gut.
Wie modern unsere Lehrerin arbeitete, wurde mir erst im Rückblick klar. Sie hatte in Deutschland Kurse zur Montessori-Pädagogik besucht, die damals noch kaum jemand kannte. Der Lehrer, den wir in der dritten Klasse bekamen, beklagte sich prompt, wir hätten bei Fräulein Reich nichts «Richtiges» gelernt …
Ein Theater über den Frühling
1940 führten wir zum Examen ein Stück über den Frühling auf, in dem Prinzessin Sonnenstrahl, Prinz Frühling und viele Blumen und Tiere sangen, tanzten und aus ihrem Leben erzählten. Ich spielte Frau Osterhas und musste hinken, weshalb «Kürtu» als Herr Osterhas klagte: «My Frou het so dr Häxeschuss, muess no vill Eier färbe!»
Auf mein Kostüm mit den langen Ohren und den farbigen Verzierungen aus Filz war ich stolz: Meine Mutter hatte es mir aus Sacktuch genäht, da Kleiderstoffe während des Krieges ja rationiert waren. Mein Vater, der schon früh einen Fotoapparat besass, machte das Foto. Die bunt bemalten Eier, die in meinem mit Heu gefüllten «Huttli» lagen, hatte sich die Lehrerin extra von den Lebensmittelmarken zusammengespart.
Leidenschaftliche Leserin
Auch später ging ich gern zur Schule, als Einzelkind nur schon der Kameradinnen und Kameraden wegen. Mein Lieblingsfach war das Lesen – meine grosse Leidenschaft. Daheim bekam ich oft Schelte, weil ich dabei alles vergass: Die Rösti liess ich anbrennen, die Milch überlaufen… Und damit meine Mutter glaubte, ich putze mein Mansardenzimmer, ging ich oben mit meinem Buch in der Hand hin und her.
Woher meine Liebe zum Lesen stammt, weiss ich nicht. Von daheim sicher nicht. Meine Mutter konnte ebenso wenig verstehen, warum ich immer lesen wollte, wie ich, dass sie ständig flickte, strickte oder nähte. Oft hörte ich deswegen von ihr: «Aus dir wird einmal eine faule Hausfrau!»
Lehrerin mit Herzblut
Schon mein Sechstklasslehrer riet mir, später Lehrerin zu werden, was ich vehement von mir wies. Doch es kam anders: Nach der Bezirks- und der Handelsschule besuchte ich die Bäuerinnenschule und wurde Hauswirtschaftslehrerin. Später bildete ich mich zur Primarlehrerin weiter – wegen des damaligen Lehrermangels dauerte dies nur ein Jahr. Weil ich gerne mit Jugendlichen arbeite, absolvierte ich ein Studium zur Sekundarlehrerin und blieb bis zur Pensionierung in diesem Beruf tätig.
Die Schule begleitete mich also mein ganzes Leben. Als Lehrerin kam ich in der ganzen Deutschschweiz herum. Eine Stelle fand sich immer problemlos: Ich habe stets viel gearbeitet, mit Engagement und Herzblut. Streng sei ich, aber man lerne viel bei mir, hiess es. Das war mir recht, denn ich wollte keine sein, bei der die Schülerinnen und Schüler machen konnten, was sie wollten. Lehrerin ist ein sehr schöner, aber auch ein sehr anstrengender Beruf. Wenn man es recht machen will, hat man viel zu tun.
Tatzen verteilte ich nie, aber einen «Chlapf» hie und da schon. Ein Schüler, den ich Jahre später im Zug traf, trug mir das immer noch nach. Andere konnten mit etwas Abstand darüber lachen. Mit meinen ehemaligen Schülerinnen und Schülern machte ich «Duzis», sobald sie einen Beruf erlernt hatten. Zwei oder drei luden mich sogar zu ihrer Hochzeit ein. Und mit einigen habe ich bis heute Kontakt.
Jetzt bin ich neunzig und wohne allein im Haus, das ich vor über fünfzig Jahren zusammen mit zwei befreundeten Lehrerinnen baute. Damals wollten wir auch als Ledige ein Eigenheim besitzen und keine Angst haben, dass uns jemand hinauswarf. Als unabhängige Frau muss man lernen, für sich selbst einzustehen und sich zu wehren. Allzu oft wird man nicht für voll genommen. Viele wunderten sich, dass wir so gut auskamen in unserer Dreier-WG. Natürlich gab es auch manchmal Streit, aber meine Freundin pflegte jeweils zu sagen: «Nur dumme Leute sind immer gleicher Meinung.»
Aufgezeichnet von Annegret Honegger
- Ein weiteres Porträt einer «Lehrerin mit Herzblut»