Die Idylle auf dem Lande
Hanni Stricker-Knup weilte vier Sommer lang im Landdienst bei ihrem Götti. Noch heute kann sie sich an den Alltag auf dem Bauernhof und den herrlichen Duft des frisch geschnittenen Grases genau erinnern.
1940, als 16-Jährige, begann ich mit dem Lehrerseminar. Zu dieser Zeit war es in der Schweiz obligatorisch, den Sommer über bei einem Bauern auszuhelfen. Man nannte dies Landdienst. Mein Götti war auch Bauer und deshalb durfte ich meinen Einsatz bei ihm absolvieren. Ich kannte seine Familie schon gut, da mein Vater sie oft besuchte und ich ihn dabei begleiten durfte. Das Erziehungsdepartement warnte die Bauern im Vorfeld übrigens schriftlich, dass die Schüler körperliche Arbeit nicht gewohnt seien und dass sie beim Verteilen der Arbeit darauf Rücksicht zu nehmen hätten.
Das hat sich auch mein Götti zu Herzen genommen – und so musste ich zuerst nur in der Stube sitzen und Socken stricken. Darin war es finster und der Zeiger der Wanduhr ging und ging einfach nicht vorwärts … Ich langweilte mich unendlich und konnte es jeweils kaum erwarten, bis Mittag war. Ausserdem hatte es in der Stube immer schrecklich viele Fliegen, die ich mit der Klatsche töten musste. Davor habe ich mich sehr geekelt.
Irgendwann nahm ich allen Mut zusammen und fragte, ob ich nicht auch einmal mit nach draussen kommen dürfe. Von da an ging ich jeden Tag mit zum Heuen. Ich musste das geschnittene Gras zusammenrechen und zu einem «Mädli» aufschichten, damit das Gras am Abend nicht feucht wurde. Das war keine allzu strenge Aufgabe für mich. Gearbeitet habe ich in einem gewöhnlichen Sommerkleid mit kurzen Ärmeln und freute mich jedes Mal, wenn sich meine Oberarme und Waden dank der Sonnenstrahlen bräunten. Wobei sie zuerst meist rot wurden …
Das Schönste am Landdienst waren aber die Abende, denn wir fuhren nach dem Nachtessen mit Wagen und Pferd meist nochmals hinaus aufs Land. Dort schnitten wir das kurze, frische Gras und brachten es direkt zu den Tieren, ohne es vorher zu trocknen. Ich konnte vom herrlichen Duft des Grases gar nicht genug bekommen.
Frisches Brot für die ganze Woche
Mein Götti besass einen mittelgrossen Bauernhof in Hefenhofen. Im Wohnhaus gab es eine geräumige Stube, wo meist gegessen wurde. Daneben lag das Elternschlafzimmer. Auch die grosse Küche befand sich im Parterre. Im oberen Stock befanden sich die übrigen Zimmer. Meines war sehr einfach eingerichtet – lediglich ein Bett und ein Stuhl standen darin. Besonders gefreut habe ich mich, wenn meine Tante gebacken hat. Sie machte stets frisches Brot für die ganze Woche und dazu auch immer eine Wähe aus Brotteig. Auf die konnte ich jeweils fast nicht warten.
An zwei Sommern fehlte mein Götti – er war im Militärdienst – und meine Tante musste die ganze Arbeit auf dem Hof allein verrichten. Nur der Knecht und die Magd konnten ihr zur Hand gehen, aber die waren ja auch vorher schon da. In einem dieser Sommer erlitt meine Tante eine Fehlgeburt. Ich war noch jung und wusste nicht genau, was da vor sich ging. Immerhin hatte ich bemerkt, dass meine Tante schwanger war. Eines Nachts schreckte mich ein lautes Gepolter aus dem Schlaf: Der Stubenwagen wurde aus dem Haus getragen. Ich fühlte mich total hilflos und wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Man legte das tote Kind dann in eine grössere Schuhschachtel und meine Tante bat mich, einige Blumen für das Kind zu pflücken. Wahrscheinlich hatte sie in diesem Sommer zu hart gearbeitet und das Baby deshalb verloren.
An den Sonntagen fuhr ich manchmal mit dem Fahrrad nach Hause zu meinen Eltern. Sie wohnten ja nur eine halbe Stunde vom Hof entfernt. Einmal gab mir meine Tante eine Schachtel voller frischer Eier mit. Das war eigentlich verboten, weil die Lebensmittel damals rationiert waren. Die Magd begleitete mich und wir pedalten auf den gekiesten Strassen zu zweit Richtung Bodensee. Als wir eine kleine Böschung hinunterfuhren, rief die Magd plötzlich: «Die Eier!» Ich griff nach hinten zu meinem Gepäckträger, verlor die Kontrolle und schlitterte mit dem Fahrrad über die Strasse.
Die Eier bleiben bei diesem Sturz wie durch ein Wunder unbeschädigt, denn die Schachtel, in der sie lagen, war sehr robust. Aber eines meiner Knie blutete. Bei einer Bauernfamilie, die in der Nähe wohnte, erhielt ich dann erste Hilfe. Man rieb mir die schmerzende Stelle mit Schnaps ein und wir setzten unseren Weg zu meinen Eltern fort. Dort legte ich mich einige Tage ins Bett und kurierte die Verletzung aus. Bis heute habe ich aber Probleme mit dem Knie. Wahrscheinlich hätte man es damals dem Doktor zeigen sollen.
Vier Jahre lang verbrachte ich jeden Sommer im Landdienst bei meinem Götti und meiner Tante. Wenn ich dann jeweils wieder ins Lehrerseminar zurückkehrte, haben wir Mädchen immer kontrolliert, welche von uns die schönste Bräune hatte. Mit einer Freundin, die Autofahren kann, bin ich letzthin nochmals nach Hefenhofen zurückgekehrt. Der Hof stand noch und selbst die Wiesen sehen noch aus wie damals. Das hat mich sehr gefreut.
Die Geschichte des Landdienstes
Die Idee des Landdienstes entsprang dem Zeitgeist der 1920er-Jahre. Es herrschte vor allem unter Jugendlichen und Intellektuellen eine ausgeprägt technikfeindliche Stimmung. Die rasante Industrialisierung und Verstädterung liessen unter anderem eine romantische Sehnsucht nach der Natur aufkommen. Der Ausgleich zur einseitigen geistigen Betätigung oder zur monotonen Fabrikarbeit wurde im Wandern und in der Arbeit auf dem Feld gesucht. Die damals für Studenten und Lehrlinge eingeführten Hilfsheuerdienste waren die eigentlichen Vorläufer des Landdienstes. Während der Wirtschaftskrise der Dreissigerjahre kamen viele arbeitslose Jugendliche durch die Arbeitsdienste in Kontakt mit der Landwirtschaft. In den Kriegsjahren mussten Jugendliche als Landdienstpflichtige vor allem bei der Bepflanzung der Äcker mithelfen. Die Aufhebung des Obligatoriums im Jahr 1946 war die Geburtsstunde des Landdienstes auf freiwilliger Basis. Bis heute wurden für 250 000 Jugendliche vier Millionen Erlebnistage vermittelt.
- Aus der sechsteiligen Buchreihe «Das waren noch Zeiten – Leserinnen und Leser der Zeitlupe erinnern sich», Band 2.
- Die Bände 1, 3, 5 und 6 können für je CHF 29.–. bestellt werden unter Telefon 044 283 89 13 oder im Zeitlupe Online-Shop.