Achtzigster Geburtstag 1947
Beim Blättern in alten Alben entdeckte Maya Lütolf-Busch aus Baar ZG dieses Foto ihrer Grossmutter, zu der sie als Kind eine enge Beziehung hatte. 1947 konnte ihr geliebtes «Omami » ihren achtzigsten Geburtstag feiern – damals ein Alter, das nur wenige erreichten.
Zur Zeit des Geburtstagsfestes meiner Grossmutter war ich selbst sechs Jahre alt. Mein eigener Achtzigster liegt unterdessen also auch hinter mir. Die runde Zahl hat mich zum Nachdenken und zum Stöbern in alten Alben angeregt. Das Foto meiner «Omami» Sophie Busch-Guldin beeindruckt mich wegen der Kraft und der Güte, die sie ausstrahlt. Im Gegensatz zu heute war ein so langes Leben damals noch aussergewöhnlich. Und wie verschieden Achtzigjährige 1947 und heute doch aussehen!
Meine Grossmutter stammte aus einer Hoteliersfamilie im Ybrig. Meinen Grossvater, der in Deutschland eine kleine Stickereifabrik führte, lernte sie kennen, als sie für die Arbeit nach Freiburg im Breisgau ging. Die beiden heirateten 1890. Mein Vater kam 1899 in Deutschland zur Welt und musste als ganz junger Mann in den ersten Weltkrieg ziehen. Sein Bruder und viele Kameraden kehrten nie zurück. Die Erinnerungen an diese Zeit hat mein Vater nie überwunden und sprach kaum darüber.
Von Deutschland in die Schweiz
Aufgrund der Krise der Stickerei-Industrie zog die Familie meiner Grosseltern in die Schweiz nach Rorschach. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Ostschweiz geprägt von der Hochblüte der St. Galler Stickerei. So fand die Familie Busch mit ihren vier Kindern dort Arbeit und Verdienst.
Weil meine Grossmutter als Katholikin einen Reformierten geheiratet hatte und die Kinder evangelisch aufzog, war ihre Stellung in Familie und Gesellschaft nicht immer einfach. Die katholische Kirche schloss sie praktisch aus, worunter sie sehr litt. Wie stark die Konfession damals ins Leben eingriff, kann man sich heute kaum mehr vorstellen.
Als ich Kind war, lebte Omami zusammen mit ihrer ledigen Tochter, meiner Tante, im oberen Stock unseres Hauses. Meine beiden Schwestern und ich hatten ein enges Verhältnis zu ihr und auch meine Mutter konnte es gut mit ihrer Schwiegermutter. Beide Frauen waren leidenschaftliche Leserinnen und meine Grossmutter besass eine grosse Bibliothek. Die Liebe zu Büchern haben mir wohl meine Grossmutter und meine Mutter vererbt. Lesen hatte damals in unseren Kreisen kein hohes Ansehen und viele Frauen betonten sogar stolz, dass sie vor lauter Arbeit gar nicht zum Lesen kämen.
Nie ohne Hut aus dem Haus
Dass Omami auf dem Foto vom Geburtstagsfest am Walensee schwarz trägt, überrascht mich nicht. Ich habe sie nie in einer anderen Farbe und immer im langen Rock gesehen. Schwarz war damals die Farbe des Alters und wahrscheinlich ein Zeichen der Trauer. Meine Grossmutter hatte zwei Söhne verloren und meinen Grossvater, den ich leider nie kennenlernte. Auch ihr Hut ist mir vertraut – ohne ging Omami nie aus dem Haus. Bezüglich Garderobe bin ich froh, haben wir Älteren heute mehr Möglichkeiten…
Wenn meine Schwestern und ich unsere Grossmutter besuchten, erzählte sie uns im Lehnstuhl sitzend Geschichten, las Grimms Märchen vor oder rezitierte Gedichte. Fast immer klapperten bei ihr auch die Nadeln: Sie strickte uns Pullover und Strumpfhosen, die man damals noch nicht kaufen konnte. Vor dem Schlafengehen gingen wir Mädchen immer zu ihr in die Stube für einen Gutenachtkuss. Eines Abends fand ich sie bewegungslos in ihrem Sessel – sie hatte einen Hirnschlag erlitten. Wir pflegten sie daheim bis zu ihrem Tod, der eine grosse Lücke in unserer Familie hinterliess.
Schule und Ausbildung absolvierte ich in Rorschach. Als Mädchen konnte man damals bei der Berufswahl kaum Wünsche äussern, so erging es den meisten Frauen meiner Generation. Vom Gymnasium für Mädchen sprach sowieso niemand. Meine Schwester konnte später die Matura machen und studieren, weil sie ins Kloster eintrat. Dafür wurde ich die erste Skilehrerin in unserem Skiclub. Da mein Vater ein begeisterter Skifahrer war, lernte ich das Skifahren früh im nahen Appenzellerland. Oft stiegen wir zum Fahren auch zu Fuss den Rorschacherberg hinauf.
Traumberuf Schreinerin
Weil ich schon als Kind gern mit Holz bastelte, wäre ich gerne Schreinerin geworden. Doch alle lachten mich bloss aus – Schreiner galt als Männerberuf und Frauen seien dafür zu schwach, da gab es keine Diskussion. Die Auswahl an Frauenberufen war wirklich bescheiden. Ich lernte Arztgehilfin und hatte wider Erwarten Freude an meiner Tätigkeit. Einmal erhielt ich sogar das Angebot, in Lambarene im Spital von Dr. Schweitzer zu arbeiten. Doch mein Heimweh hielt mich von diesem Abenteuer ab.
Rückblickend hatte ich viel Glück in meinem Leben: Mit meiner Grossmutter, meinen Eltern, meinem Mann und unserer eigenen Familie. Wenn ich Omamis Fotos von früher anschaue, überkommt mich ein warmes Gefühl. Früher hielt ich es für selbstverständlich, aber heute weiss ich, wie wertvoll ihre Liebe und Güte waren. Sie verliehen mir Sicherheit und Geborgenheit. Dass unsere Tochter 1967 genau hundert Jahre nach ihrer Urgrossmutter zur Welt kam, ist eine schöne Verbindung.
Aufgezeichnet von Annegret Honegger