
Lieber im Gefängnis als einsam
In Japan greift ein kurioses Phänomen um sich: Immer mehr Seniorinnen begehen vorsätzlich Straftaten – weil sie das Gefängnis als Ausweg aus Altersarmut und Einsamkeit betrachten.
Text: Claudia Senn
Auf dem Fernsehsender CNN war kürzlich ein Bericht aus Japans grösstem Frauengefängnis in Tochigi, nördlich von Tokyo, zu sehen. Die Arbeit fühle sich hier nicht wie im Gefängnis an, sagte der Aufseher Takayoshi Shiranaga, sondern eher wie in einem Altersheim. «Wir wechseln den Gefangenen die Windeln, helfen ihnen bei der Körperpflege und beim Essen.» Manche Frauen waren so unsicher zu Fuss, dass sie vorsichtig den Wänden entlang trippelten. Andere sassen im Rollstuhl oder gingen am Rollator.

Jede fünfte Insassin des Frauengefängnisses ist über 65 Jahre alt – ein Phänomen, das sich auch in anderen Haftanstalten Japans zeigt. In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich die Zahl der Ü65-Strafgefangenen vervierfacht. Das spiegelt nicht nur die demographische Entwicklung des Landes wider, in dem die Lebenserwartung sehr hoch ist und die Geburtenrate gleichzeitig sehr tief. Sondern es ist auch Ausdruck von Armut und Perspektivenlosigkeit. Ein Fünftel der über 65-jährigen Japanerinnen und Japaner lebt unter der Armutsgrenze. Da überrascht es wenig, dass die allermeisten älteren Strafgefangenen wegen Ladendiebstahls einsitzen.
Massiver Pflegenotstand
Manchen geht es drinnen besser als draussen – weil sie im Gefängnis ein warmes Bett bekommen, genügend zu essen, kostenlose medizinische Versorgung und vor allem: Gesellschaft. Kinder und Enkel leben oft weit entfernt und sind eingespannt in eine Berufskarriere, die ihnen alles abfordert. Gleichzeitig steuert das Land auf einen massiven Pflegenotstand zu. Die schlimmste Angst japanischer Seniorinnen und Senioren ist es deshalb, einen unbemerkten Tod zu sterben, «Kodokushi» genannt. Im ersten Halbjahr 2024 wurden laut einer nationalen Statistik 37’227 alleinlebende Menschen tot in ihren Wohnungen aufgefunden. 130 lagen dort schon länger als ein Jahr, 4000 wurden erst über einen Monat nach ihrem Ableben entdeckt, weil sie niemanden mehr hatten, der sich um sie kümmert.
Da erscheint einigen das Gefängnis als die bessere Alternative. Manche würden sogar dafür bezahlen, hier zu bleiben, wenn sie könnten, sagt Aufseher Shiranaga. Was sie wirklich bräuchten, wäre adäquate Pflege, eine Rente, die zum Leben reicht und ausreichend Kontakt. Doch weil es ihnen an allem fehlt, werden sie straffällig, sobald ihnen das Geld erneut ausgeht. «Die Leute in diesem Gefängnis sind sehr nett», sagt die Gefangene Akiyo im CNN-Beitrag. «Ich bin wirklich dankbar, dass ich hier ein ruhiges Leben führen kann.»