Zuflucht fern der Heimat
Rund fünf Millionen Menschen sind vor den Kriegswirren der Ukraine geflüchtet, rund 50 000 davon in die Schweiz. Darunter befinden sich viele ältere Menschen, so etwa der 83-jährige Mykhailo Nikonchuk. Sie sind besonders auf Unterstützung und Solidarität angewiesen. Flüchtlingen aus anderen Ländern bleibt beides oft verwehrt.
Text: Roland Grüter
Wer Mykhailo Nikonchuk (83) gegenübersitzt, muss ihn gar nicht nach Toten oder zerbombten Häusern fragen, um die Schrecken des Krieges zu erfassen, die seine Heimat erschüttern. Der Ukrainer ist vor gut acht Wochen aus dem Bombenhagel in die Schweiz geflüchtet, aber noch immer ist in seinem Gesicht pures Entsetzen abzulesen.
Beginnt der 83-Jährige dann doch von den Geschehnissen in Kiew zu erzählen, wo er seit seinem 16. Lebensjahr lebt, laufen seine wasserblauen Augen über, und der Mann wird von Weinkrämpfen geschüttelt, so sehr er sich auch dagegenstemmt. Er berichtet, wie die Raketen der russischen Truppen mit langem Feuerschweif an den Fensterscheiben seiner Wohnung vorbeiflogen und diese erzittern liessen. Wie im Umfeld Häuser in die Luft gesprengt wurden, auch jene, bei deren Errichtung Mykhailo Nikonchuk in jungen Jahren als Bauarbeiter selber mitgeholfen hatte. Wie er allein oben im neunten Stock sass und gar nicht erst versuchte, sich in Sicherheit zu bringen, wenn die Flieger neuerlich über der Stadt kreisten. Denn die nächst gelegenen Schutzräume waren für seine wackeligen Beine unerreichbar.
Er wollte in der Datscha auf den Frieden warten
Seine Familie war vor dem Horror längst geflüchtet. Er aber blieb auf dem Sofa sitzen und übergab sein Leben dem Schicksal, wie er sagt. «Mir schien es wichtig, zu bleiben, um meinen Freunden und dem Land beizustehen», sagt er. «Ich dachte einzig darüber nach, mich in mein Häuschen auf dem Lande, die Datscha, zurückzuziehen und dort das Ende des Krieges abzuwarten.» Dann aber packte er doch eines Nachts, morgen um zwei Uhr, die Koffer. Seine Tochter Inna (53), die seit gut 20 Jahren in der Schweiz lebt, hatte ihn angefleht, Kiew zu verlassen und zu ihr zu reisen, so wie es die Schwester und die Nichten bereits getan hatten. Eine Bekannte nahm daraufhin Mykhailo in Kiew an die Hand und führte ihn zum Bahnhof. Gemeinsam fuhren sie zweieinhalb Tage westwärts – davon zwölf Stunden stehend, weil die Waggons hoffnungslos überfüllt waren. Kiew, Bratislava, Budapest, Zürich. Kurz nachdem sie die Stadt Winnyzja passiert hatten, wurde diese von der russischen Luftwaffe angegriffen.
Nun befindet sich der stattliche Senior in Sicherheit – im appenzellischen Hundwil. Das ehemalige Altersheim Pfand wurde zu einer Herberge für Flüchtlinge umgenutzt. Seine zweite Tochter Viktoria, seine Enkelinnen und Urenkel sind auch dort. Doch Ruhe und Frieden hat Mykhailo Nikonchuk trotzdem nicht gefunden. In Gedanken ist er noch immer in Kiew, bei seinen Landsleuten und vor allem bei den vielen Männern, die sich den russischen Truppen entgegenstellen. Er schämt sich dafür, dass er nicht selbst in die Schützengräben steigen kann und stattdessen weit weg in der Idylle des Appenzells lebt, während andere unter der russischen Faust leiden. Er würde noch so gerne für sein Land und die Freiheit kämpfen. «Doch dafür bin ich zu alt», sagt er. Und erneut beginnt er zu weinen, und seine Tochter Inna, die seine Ausführungen übersetzt, weint mit ihm. «Es tut wahnsinnig weh, dass alles vernichtet wird, wofür wir alle gelebt und gearbeitet haben», sagt er: «Die Bomben haben mein Leben zerstört, obwohl ich lebe. Das zu begreifen, braucht seine Zeit.» Zuvor sei er in einer Schockstarre gewesen: «Erst langsam kommt die Zeit der Aufarbeitung.»
Gemäss der UNO Flüchtlingshilfe sind weltweit rund 84 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Konflikten und Verfolgung – mehr als je zuvor. Allein fünf Millionen Menschen stammen aus der Ukraine, rund 50 000 davon haben in der Schweiz Zuflucht gefunden. Ältere Menschen tragen ureigene Geschichten und Ansprüche in die Gastländer – sie sind meist auf intensivere Betreuung angewiesen, da sie sich mit der fremden Kultur und der fremden Sprache oft weniger zurechtfinden als jüngere. Angehörige können die daraus erwachsenden Bedürfnisse kaum abdecken, selbst wenn sie sich nach der Decke strecken und mit den Gepflogenheiten vertraut sind, so wie Inna Diggelmann. Das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz (HEKS) hat deshalb ein Programm initiiert, das Hilfspersonen entsprechend schulen will, damit diese die Integration älterer Flüchtlinge unterstützen und Angehörige effizient entlasten können (lesen Sie dazu die Box).
Der Anteil älterer Flüchtlinge wächst
Gemäss internationalen Hilfsorganisationen wird der Anteil älterer Flüchtlinge künftig sogar zunehmen – aufgrund der alternden Weltbevölkerung. Menschen über 60 sind überdies besonders stark von Naturkatastrophen und Kriegen betroffen, da sie dadurch urplötzlich ohne Unterstützung dastehen, auf die sie vorher angewiesen waren. Ältere Personen mit körperlichen Beschwerden können sich beispielsweise erst gar nicht allein auf die Flucht machen. Sie können in für sie geschaffenen Einrichtungen auch nicht ewig lang in einer Schlange stehen, um sich zu registrieren oder um sich Nahrung, Wasser oder medizinische Hilfe zu beschaffen. Dazu fehlt vielen die Kraft, insbesondere nach Strapazen der Anreise. Überdies leiden viele unter chronischen Krankheiten, die auf der Flucht unbehandelt bleiben, was sie zusätzlich schwächt.
Der UNHCR (Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen), der mit dem Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen beauftragt und auch im Bereich der humanitären Hilfe tätig ist, passt seine Einrichtungen bereits entsprechend an. Er hat deshalb Richtlinien erlassen, wie sich Unterkünfte, sanitäre Anlagen, Ausgabestellen für Lebensmittel oder andere Hilfsgüter gestalten lassen, damit sie auch für ältere Menschen gut zugänglich sind.
«Helfen tut gut – und ist bereichernd»
Wenn sich die Zürcher Biologin und Umweltschützerin Regina Frey für etwas einsetzt, dann richtig. In Berg am Irchel brachte sie so viele ukrainische Gäste unter, dass sie fast den Überblick verloren hat.
Aufgezeichnet von: Fabian Rottmeier
«Lassen Sie mich zählen: In der Gross-WG, in der ich wohne, lebt seit etwa einem Monat eine ukrainische Mutter mit Kind. Im frisch renovierten Bauernwohnhaus unserer Stiftung Chloster3, gleich gegenüber, sind es 13 weitere Gäste – macht 15 – plus eine vierköpfige Familie und ein Senior. Im Riegelhaus meines Bruders Patrick nebenan kamen eine Mutter und ihre erwachsene Tochter unter. Macht total 22 Geflüchtete.
Die Stiftung Chloster3 war erst ein paar Monate alt, als der Krieg in der Ukraine ausbrach. Wir wollten helfen, weil wir uns gemäss Statuten für Menschen mit Einschränkungen oder in Krisensituationen einsetzen. Zudem hatte Ralf Hahn, der ebenfalls in unserer WG wohnt, fast 20 Jahre in der Ukraine gelebt und dort eine Familie gegründet. Er und sein Sohn Janko sprechen Ukrainisch und sind Dreh- und Angelpunkt unserer Hilfe. Dank ihren Verbindungen in die Oblast Transkarpatien im äussersten Westen der Ukraine unterstützen wir dortige Flüchtlingsgastgeber mit Waren – und können so weitere Flüchtlinge bei der Reise in die Schweiz unterstützen. Die Transportkosten unserer ersten beiden Reisen deckten regionale Spenden.
Die Ukrainerinnen und Ukrainer, die nun bei uns im zürcherischen Berg am Irchel leben, stammen alle aus Städten wie Kiew oder Odessa – oder aus der Kiewer Vorstadt Butscha. Alle konnten flüchten, bevor die russischen Angriffe einsetzten. Sie heissen Oksana, Karina, Julia oder Igor und haben als Konditorin, Kellnerin, Köchin oder Kosmetikerin gearbeitet – oder besassen ein kleines Reisebüro. Von den Umständen ihrer Flucht erfahre ich meist wenig. Ich frage bewusst nicht danach, denn sie sind uns keine Antwort schuldig. Es ist mir wichtig, dass sie sich wie zu Hause fühlen.
Unser Biobetrieb Bungerthof und die Stiftung Chloster3 ergeben eine bunte Multikultigruppe. Das hat unseren Gästen das Einleben bestimmt vereinfacht – auch in unserem Dorf, in dem man offen für Neues ist. Dies ist bestimmt auch auf die Greifvogelstation, die meine Mutter gegründet und bis 2008 geführt hat, sowie meine Naturschutzarbeit in Indonesien zurückzuführen.Es war augenfällig, wie sich unsere Gäste nach einigen Tagen entspannt haben. Sie sind hilfsbereit, selbstständig und haben teilweise schon Arbeit gefunden. Und sie erkunden die Region: Plötzlich schwärmten einige vom Andelfinger Schlosspark. Ein pensionierter Immunologe möchte die Schweiz bereisen, seit er erfahren hat, dass er den ÖV kostenlos benutzen darf. Ich finde das toll.
Ich erlebe die Ukrainerinnen und Ukrainer als bescheidene, selbstsichere und stolze Menschen. Viele möchten kein Deutsch lernen, weil sie bald zurückkehren wollen. So oder so: Wir geben ihnen kein Zeitlimit, wie lange sie bleiben dürfen. Für mich ist ihre Anwesenheit eine fordernde Bereicherung. Es tut gut, zu helfen. Und ich glaube, dass alles Geben in irgendeiner Form zurückkommt. Gerne würde ich noch mehr über ihre Kultur erfahren. Was ich weiss: Lieder sind wichtig. Eine Ukrainerin fragte mich kürzlich: ‹Singt man in der Schweiz eigentlich nie?›»
Auch der psychische Druck ist bei älteren Flüchtlingen in der Regel grösser als bei jüngeren. Sie sind am Zielort ihrer Flucht oft komplett überfordert und stärker auf Unterstützung angewiesen. Darüber hinaus lastet die Ungewissheit schwer, ob sie überhaupt jemals wieder in ihre Heimat zurückkehren können oder in der Fremde sterben müssen. «Daran mag ich gar nicht denken, sonst verzweifle ich vollends», sagt Mykhailo Nikonchuk. Für ihn ist klar: Sobald die allerkleinste Hoffnung auf ein friedvolles Weiterleben in der Ukraine besteht, wird er wieder nach Hause fahren: zu seinen Freunden und zu seinen drei Brüdern, die in Kiew geblieben sind. «Die Welt wird zwar eine andere sein», sagt er. «Aber darin finde ich mich schon irgendwie zurecht, da bin ich mir sicher. Hauptsache Heimat.» Sein Leben sei gelebt, er denke nicht an sich, sondern an seine Kinder und Enkel. «Ihnen will ich beistehen.»
Andere müssen die Willkommenskultur missen
Vor allem geht es darum, Flüchtlingen aus Krisengebieten ein vorübergehendes Zuhause zu bieten. Darum bemühen sich aktuell viele Schweizerinnen und Schweizer, beispielsweise Regina Frey (74), die in ihren drei Riegelhäusern 22 Flüchtende aus der Ukraine aufgenommen hat (lesen Sie dazu unser Porträt). «Die Solidarität und Gastfreundschaft, wie wir sie in der Schweiz erleben, ist beeindruckend und hilft», sagt Mykhailo Nikonchuk. Vor allem aber gilt es, flüchtenden Menschen jene Wertschätzung zurückzugeben, die ihnen der Krieg genommen hat: ihnen aufzuzeigen, dass ihr Leben mehr Wert hat als eine Gewehrkugel, dass ihre Existenz kostbar ist.
Die Willkommenskultur, die Ukrainerinnen und Ukrainer europaweit erfahren, müssen andere Flüchtlinge missen, auch wenn der Kriegshorror in Syrien, Afghanistan, Somalia und anderen Ländern nicht kleiner ist.Wie es sich anfühlt, wenn Türen und Herzen verschlossen bleiben, musste Sophia Derendinger (86) erfahren. Sie wurde zwar in der Schweiz geboren, aber ihre Ahnen mussten in den 1910er-Jahren aus Russland flüchten. Sie gehörten zu jenen 6000 Russlandschweizern, die von den Wirren der Oktoberrevolution erfasst und in ihre alte Heimat zurückkehren mussten: die Familie ihres Vaters aus St. Petersburg, jene der Mutter aus Odessa.
Die Rückkehrer waren mausarm und höchst unwillkommen. Kommunisten-Pack! Diese Ablehnung prägte auch das Leben der kleinen Sophia, die 1935 im zürcherischen Wollishofen geboren wurde und dort aufgewachsen ist. Da sich ihr Vater nie vom Kommunismus abgewandt hatte, bekam das Mädchen den Hass der Menschen in voller Härte zu spüren. Keiner wollte mit ihr und der Familie etwas zu tun haben. Deutsch lernte sie erst in der Schule. Und als Hitler seine Truppen nach Osteuropa hetzte, schlug ihr der Primarlehrer mit dem Handrücken auf die Lippe und sagte: «Jetzt gehts euch Saukommunisten an den Kragen.» Noch heute trägt sie davon eine Narbe. «Mein ganzes Leben stand unter dem roten Stern, obwohl ich selber anderen politischen Idealen folgte», sagt die Frau, die heute im bündnerischen Flims lebt. Unter diesen Vorzeichen wurde sie von Bildung ferngehalten, ihr blieb das herbeigesehnte Studium oder die Karriere im Militär verwehrt. Die Vorbehalte dauerten selbst an, als sie in eine angesehene Akademikerfamilie einheiratete. «Ich wagte es nicht, für mich Respekt einzufordern.»
Vor acht Jahren starb Sophia Derendingers Mann, sie hatte ihn 17 Jahre lang gepflegt. Danach beschloss sie, sich vom Schatten ihrer Biografie zu lösen – und begann, ihr Leben komplett umzukrempeln. Seither besucht sie Vorlesungen an der Universität Zürich, bildet sich stetig fort, sucht den Austausch mit jungen Studentinnen und Studenten. Vor allem die Geschichte des 20. Jahrhunderts interessiert die 86-Jährige. «Erst seit acht Jahren lebe ich so, wie ich es mir in Kindertagen gewünscht hatte», bilanziert sie. «Viele sind von meinem Neuanfang irritiert. Doch hätte ich diesen Schritt nicht gemacht, würde ich unglücklich sterben.» Wäre ihr Leben anders verlaufen, wenn die Menschen ihre Familie und damit sie selber offener und freundlicher empfangen hätten? «Auf jeden Fall», sagt sie: «Wir sind den Menschen stets fremd geblieben – und im Gegenzug meinen Eltern die Schweiz.» Sie schaut zwar ohne Bitternis auf ihren steinigen Weg zurück.
- Lesen Sie hier, wie drei Generationen einer Familie den Kriegsausbruch und die Flucht aus der Ukraine erlebt haben.
So unterstützt die HEKS ältere Flüchtlinge
Seit 2006 bietet HEKS, das Hilfswerk der Evangelisch-reformierten Kirchen Schweiz, in Zusammenarbeit mit Pro Senectute des Kantons Zürich das Programm «Alter und Migration Zürich» (AltuM) und damit unter anderem älteren Flüchtlingen, die im Kanton Zürich leben, Unterstützung an. Im Rahmen dieses Programms finden Café-Treffen, Informationsveranstaltungen, Sportkurse, Beratungen und vieles mehr statt. Dadurch wollen die Verantwortlichen ältere Menschen mit Migrationshintergrund zusammenführen. Oft sind diese in keine sozialen Netze eingewoben, leben getrennt von ihren Familien und gehen keiner Arbeit nach.
«Diese Menschen haben es besonders schwer, sich in die Gesellschaft einzufügen», sagt Aida Kalamujic, Juristin und Programmleiterin von HEKS AltuM Zürich. «Mangelnde Sprachkenntnisse, finanzielle Engpässe oder physische und psychische Probleme drängen ältere Geflüchtete häufig in eine Isolation.» Aida Kalamujic musste vor gut 30 Jahren selber flüchten, aus Sarajevo. Sie weiss also aus Erfahrung, wie schwer der Neuanfang in einem fremden Land ist. Sie hat das Programm «HEKS AltuM Zürich» entwickelt. Dieses wird mittlerweile auch in Lausanne, Genf, St. Gallen, Aargau und Basel angeboten. Die Angebote werden vorwegs von Menschen aus Syrien, der Türkei, Eritrea, dem Iran, Somalia, Afghanistan und neu auch aus der Ukraine genutzt.
Seit Anfang dieses Jahres werden in Zürich und Winterthur überdies ältere Geflüchtete mit einer ausgewählten, freiwilligen Begleitperson zusammengeführt – im Rahmen von AltuM-Tandem. Die Hilfeleistungen werden darin sozusagen personifiziert. Die Vertrauenspersonen stammen aus dem gleichen Land wie die älteren Geflüchteten, leben aber schon länger in der Schweiz, können Deutsch sprechen und sind mit den hiesigen Gewohnheiten und dem gesetzlichen Regelwerk besser vertraut als die Neuankömmlinge. AltuM-Tandem will die Lebensbedingungen älterer Geflüchteter (50 plus) verbessern, insbesondere in sozialer und gesundheitlicher Hinsicht. Mehr Infos: heks.ch (unter: was wir tun)