Jung und Alt unter einem Dach
Generationenwohnen liegt im Trend, doch was bringt es mit sich, wenn Pensionierte mit jungen Familien das Dach über dem Kopf teilen? Wir haben uns zwei Projekte angeschaut.
Text: Marc Bodmer
Sie ist ein absoluter Hingucker – die Überbauung Kalkbreite am Rand des Zürcher «Chreis Cheib». Die imposante Fassade – in gebrochenem Gelb gehalten – umschliesst einen Mikrokosmos in der Limmatstadt, denn zu ihm gehören nebst den Wohnungen für rund 250 Menschen Kinosäle, Restaurants, eine Arztpraxis und ein Bioladen. «Mit abnehmender Mobilität wird die Infrastruktur wichtiger», sagt Nina Schneider von der Genossenschaft Kalkbreite, die hinter dem Projekt steht. Doch nicht nur das: «Das visuelle Miterleben des Alltags von anderen wird relevanter», ist Schneider überzeugt. Dabei gehe es nicht einmal darum, aktiver Teil zu sein, sondern darum, das Geschehen zu verfolgen.
Zu sehen gibt es hier viel. Tram- und Buslinien kreuzen sich vor der Haustüre. Der Bahnhof Wiedikon ist gleich um die Ecke, und im Innenhof ist eigentlich immer etwas los. Hier spielen Kinder, treffen sich Leute von der Siedlung und aus der Umgebung auf einen Schwatz. Im Sommer sind die öffentlichen Dachterrassen sehr beliebt, was aber hin und wieder zu Konflikten führen kann: «Gelegentlich hängen abends Jugendliche auf der Dachterrasse ab und machen Lärm», sagt Nina Schneider. Vorstösse einiger Mietenden, die Zugänge zu sperren, wurden in den monatlichen Siedlungstreffen diskutiert und gemeinsam verworfen. «Das gehört zur Stadt. Wer hier einzieht, lernt solche Konflikte auszuhalten und das Gespräch mit Störenfrieden zu suchen.» Nicht allen fällt das leicht. Aktuell gibt es einen grossgewachsenen Endsechziger, der mit Empathie und Präsenz ein gutes Händchen für zu arg krakeelende Jugendliche hat.
Kaum Mieterwechsel, lange Warteliste
Mieterwechsel gibt es aber in der vor sechs Jahren erbauten Siedlung kaum. Die Warteliste ist lang und das Auswahlverfahren rigoros: «Unser Ziel ist es, die Demografie der Schweiz in unserer Überbauung zu repräsentieren», erklärt Nina Schneider. «Aktuell ist das Segment Ü60 etwas untervertreten, aber wir wachsen hinein, denn wegziehen will ja niemand.» Gründe dafür gibt es viele und dazu gehört ein breites Raumangebot für Aktivitäten von Yoga bis Gärtnern, eine Hausbibliothek oder aber Kinoabende der Arbeitsgruppe Kultur. Auf diesem Boden wächst ein Zusammengehörigkeitsgefühl.
Im Vergleich zu anderen Generationenprojekten gibt es hier keine Koordinatorin. «Als Genossenschaft übernehmen wir keine Verantwortung. Alle sind genug mündig, um zu entscheiden, wie viel Kontakt sie möchten», sagt Nina Schneider und ergänzt: «Nachbarschaftlichkeit bedingt, dass man selber aktiv wird. Man erhält nichts serviert, sondern muss sich selber einbringen – mit eigenen Ideen und Talenten.»
Unter Corona haben solche gemeinsamen Veranstaltungen natürlich gelitten, aber es sind auch neue entstanden wie die Gang-Treffen. «Statt in der Gemeinschaftsküche etwas zu kochen und zusammen zu essen, setzen wir uns mit einem Glas Wein vor die Wohnungstüre und unterhalten uns in gebührendem Abstand.» Während des Lockdowns gingen die Kinder für ältere Personen der Siedlung wie Madeleine (68) und Oskar (75) einkaufen und besserten sich so ihr Taschengeld auf.
Mit Corona-bedingter Verzögerung hat die Genossenschaft Kalkbreite unweit vom Hauptbahnhof mit dem Zollhaus eben eine zweite Siedlung fertiggestellt. Welche Erfahrungen aus der Kalkbreite sind in das neue Projekt eingeflossen? – «Trotz Aussenraumkonflikten haben wir auch beim Zollhaus keine privaten Balkone, sonst geht das Gemeinschaftliche verloren», sagt Nina Schneider, und: «Die Idee zum Mehrgenerationenwohnen kommt von der älteren Generation. Sie will – am liebsten ohne jegliche Verpflichtung – am Leben der Jungen teilhaben. Doch rein passive Erwartungshaltungen fruchten nicht. Praktische Nachbarschaftshilfe funktioniert dort, wo Beziehungen gepflegt werden und die Ansprüche nicht astronomisch sind.»
Zürich Kalkbreite
Madeleine Hirsch und Oskar Weidmann wohnen seit 2014 in der Wohn- und Gewerbesiedlung Kalkbreite mitten in Zürich.
Madeleine Hirsch: In der Kalkbreite lebe ich mitten in der Stadt und habe alles direkt vor der Haustür. 250 Menschen wohnen hier, das dünkt mich eine gute Grösse. Manche kennt man gut, andere eher flüchtig. Spannend ist für mich, dass wir vieles gemeinsam gestalten können.
Oskar Weidmann: So entstanden ein Nähzimmer, ein Meditationsraum und eine Werkstatt. 15 aktive Gruppen kümmern sich etwa um den Garten, um ökologische Fragen oder die Bibliothek. Im monatlichen Gemeinrat besprechen diejenigen, die es interessiert, was ansteht.
M. H.: Der Umzug von unserem grossen, abgelegenen Bauernhaus in Frankreich in mein kleines Studio war anfangs eine Umstellung. Unterdessen schätze ich unsere Cluster-Wohnung, zu der neben neun Studios auch ein Wohnzimmer und eine Kantine gehören, als ideale Kombination von Kontakt- und Rückzugsmöglichkeiten.
O. W.: Unsere Vermietungskommission sorgt für eine gute Durchmischung. In der «Kalkucina», die werktags ein Abendessen anbietet, knüpft man schnell Kontakte. Meine Partnerin und ich essen dort ein, zwei Mal pro Woche und bekommen so mit, was junge Familien, Berufstätige, Pensionierte, Behinderte oder Studierende bewegt. Das ist sehr bereichernd.
M. H.: Da meine Enkel in Frankreich leben, ist es schön, dass ich hier am Leben von Kindern teilhaben kann. Die Gemeinschaft mit verschiedenen Generationen empfinde ich als belebend. Sie fordert mich auch immer wieder zur Auseinandersetzung mit mir selbst heraus.
O. W.: Konflikte gibt es meist wegen unterschiedlicher Interessen. Manche stören Lärm, Dreck, spielende Kinder oder laute Jugendliche im Innenhof mehr als andere. Da müssen wir immer wieder miteinander reden, Lösungen und Kompromisse finden.
Interview: Annegret Honegger
Ländlicher und unauffälliger
Im Vergleich zum gigantischen Kalkbreiter Monolith präsentiert sich das vor zwei Jahren in der Nähe des Regionalspitals Burgdorf erbaute Generationenwohnprojekt GeWo Burgdorf als vier unauffällige Wohnblöcke. Sie bieten Platz für insgesamt 94 Wohneinheiten, teils hindernisfrei und per Lift erreichbar. Von der überschaubaren 1,5-Zimmer-Wohnung bis zu 6,5 Zimmer umfassenden Familienwohnungen findet sich im GeWo Burgdorf alles, und entsprechend gemischt sind die Bewohnerinnen und Bewohner der neuen Überbauung. «Wir haben junge und alte Personen, Flüchtlingsfamilien und Menschen mit Einschränkungen bei uns», sagt Siedlungskoordinatorin Christa Schönenberger. «Rund ein Drittel unserer Mieterschaft ist über 60 Jahre alt.»
Wer beim GeWo Burgdorf einzieht – GeWo steht für Generationenwohnen –, ist automatisch Genossenschaftsmitglied und hat ein Mitspracherecht, wenn es um die Nutzung von Gemeinschaftsräumen und -flächen geht. Bei diesen Entscheidungen werden sie von Christa Schönenberger begleitet. Sie hat einen Mandatsauftrag von Pro Senectute Kanton Bern als soziokulturelle Animatorin, dieses Projekt zu betreuen. Es ist eines von 27 im Kanton: «Alle Mieterinnen und Mieter werden zu Beginn gefragt, warum sie hier eingezogen sind und was sie gut können und teilen möchten.» So stellte sich heraus, dass einige Sport mögen. «Dann haben wir uns zusammengesetzt und entschieden, einen Fitnessraum einzurichten.»
So einfach läuft es aber nicht immer. Bei einer so heterogenen Klientel – mindestens 10 Nationen sind hier vertreten – braucht es Fingerspitzengefühl, wenn es um Vorstösse geht. So kann man den Raum, in den man sich versammeln kann, nicht einfach «Kafi» nennen. «Ein Afghane trinkt Tee», sagt die Siedlungskoordinatorin, deren Aufgabe es ist, Strukturen aufzubauen, die von Bewohnenden später selbstständig genutzt werden. Man fand sich beim niederschwelligen Begriff «Treff». «Jeder Eingriff in das ‹Gefüge› setzt ein Signal», findet Christa Schönenberger. «Man darf die Leute nicht überfordern, wenn es um das Einbinden in ein Projekt geht.»
Keine Frage des Alters
Und wie funktioniert die auf der Website angepriesene gegenseitige Unterstützung? Helfen die Generationen einander aus? Hüten die fitten Seniorinnen und Senioren die Kinder und lassen dafür von handwerklich geschickten Vätern die Deckenlampe installieren? «Die Idee vom Generationenwohnen stand bei den meisten Entscheidungen, bei uns einzuziehen, erst am Schluss», sagt Christa Schönenberger. «Die Wohnungen sind günstig. Noch hat es nicht viele Familien, aber Menschen mit besonderen Bedürfnissen und IV-Bezüger.»
Für die Koordinatorin Für die Koordinatorin ist denn auch nicht so sehr das Alter der massgebende Faktor für eine durchmischte Siedlung: «Aussagekräftiger als die Lebensjahre sind mögliche Einschränkungen.» So kann eine geistig behinderte junge Frau an einem Bastelkurs von Eliane (74) sich ebenso beteiligen wie Vreni (78) und Margrit (77). Entscheidend sind die Bedürfnisse der verschiedenen Menschen. So ist kürzlich ein junger Mann eingezogen, der zuvor in einer Siedlung mit vielen Gleichaltrigen wohnte. Ihm war es dort zu laut, weil ständig irgendwo Party war. Im GeWo Burgdorf schätzt er nun die Ruhe. ❋
GeWo Burgdorf
«Gemeinsam mehr vom Leben» lautet der Slogan bei Generationenwohnen (GeWo) Burgdorf. Vreni Keller, Eliane Gachet und Margrit Semling gehörten vor zwei Jahren zu den Erstbezügerinnen.
Margrit Semling: In unserer Siedlung konnten wir Bewohnerinnen und Bewohner gemeinsam einen Treff, einen Kreativ- und einen Fitness-Raum sowie einen Salon mit grossem Fernseher einrichten.
Eliane Gachet: Durch diese Treffen mit unserer Siedlungskoordinatorin haben wir drei, die alle allein leben, uns kennengelernt. Mich selbst bewogen gesundheitliche Gründe zum Umzug. GeWo Burgdorf ist für mich eine Art Zwischenstation vor dem Alters- oder Pflegeheim.
Vreni Keller: Mir war eine Wohnung ohne Treppen und mit Lift wichtig. Neben dem Gemeinschaftsgedanken gefällt
mir auch die gute Lage. Hier wohne ich in der Nähe von Spital und Alterszentrum, meine Enkelin geht in der Gegend zur Schule.
M. S.: Ob in den Gemeinschaftsräumen oder auf dem Dorfplatz zwischen den Häusern: Dass man hier jederzeit Leute treffen kann,
gefällt mir. Aber ich bin auch gern allein für mich in meiner Wohnung.
V. K.: Was die Gemeinschaft angeht, sind wir Älteren am aktivsten. Die Jungen haben ihre Arbeit, wohnen hier eine Weile als Paar oder in einer WG und ziehen weiter. Wir älteren Semester sind sesshafter.
E. G.: Die Jungen machen eher auf spontane Art mit, organisieren etwa über unsere Siedlungs-App einen Grill-Abend. Sich zu engagieren, ist freiwillig, viele wünschen keine regelmässige Verpflichtung.
M. S.: Aber die Solidarität in der Siedlung funktioniert, das hat auch der Lockdown gezeigt. Wenn nötig, hilft man einander. Konflikte gibt es kaum, auch weil moderne Häuser gut schallisoliert sind.
E. G.: Leider können wir wegen Corona kaum noch Anlässe durchführen. Die Neuzugezogenen lernt man deswegen gar nicht mehr richtig kennen. Schade!
V. K.: Trotzdem: Für uns ist diese Wohnform ideal. Das Paradies haben wir hier natürlich nicht – aber fast!
Interview: Annegret Honegger
Mehr zu den Projekten:
- Mehr zu Generationen und Wohnen:
Age-Dossier «Generationenwohnen – Wohnen heisst Nachbarschaft», PDF-Download auf age-stiftung.ch - Jérôme Cosandey, «Generationen (Un-)Gerechtigkeit überwinden», Verlag NZZ, 2015, 229 Seiten, CHF 38.–.
Soziologie Dr. Alexander Seifert erklärt im Interview, welche Voraussetzungen Generationenwohnen braucht und was gute Nachbarschaft auszeichnet.
Zum Interview
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