Alleinsein als Chance
Wer gelernt hat, gerne allein zu sein, ist seltener einsam. Doch wie gelingt dies? Fachleute liefern Antworten. Und zeigen auf, wie man das Alleinsein positiv für sich – und seine Mitmenschen – nutzen kann.
Text: Fabian Rottmeier
Alleinsein und Einsamkeit sind nicht dasselbe. Trotzdem sind die beiden Begriffe eng verknüpft. Alleinsein ist ein neutraler Zustand. Einsamkeit hingegen ein lähmendes Gefühl, das unsere Gesundheit gefährdet, wenn wir nicht so viele soziale Kontakte haben, wie wir es uns wünschen. Dieser Artikel soll zeigen, dass ein bewusster, aktiver Umgang mit dem Alleinsein viel Positives bewirken kann. Als Energiequelle. Oder als wichtiges Puzzleteil für ein zufriedenes Leben.
Ist es wichtig, regelmässig alleine zu sein?
Ja! Weil es sogar ein biologisches Bedürfnis ist, wie Anton A. Bucher in seinem kürzlich erschienenen Buch «Einsamkeit – Qual und Segen» festhält. Auch für unser seelisches Gleichgewicht ist es laut dem Schweizer Theologen und Pädagogen von Bedeutung: «Wie wichtig Sozialität auch ist – zum vollen Menschsein gehört gelegentliches Alleinsein.» Freiwilliges Alleinsein gehe mit mehr Lebenszufriedenheit, ruhigeren Emotionen und einem stärkeren Selbstwert einher, so der 63-Jährige.
Myriam Thoma, Psychotherapeutin und Oberassistentin an der Universität Zürich – Fachrichtung Psychopathologie und Klinische Intervention – schreibt auf Anfrage, dass der Rückzug eine Chance sei, zur inneren Ruhe zu finden. Es sei eine Gelegenheit, sich selbst besser kennenzulernen, persönliche Bedürfnisse zu erfüllen und eigene Interessen zu verfolgen. Wir fühlen uns dadurch unabhängiger.
Es gibt aber noch einen weiteren wichtigen Grund, weshalb eine regelmässige, im Idealfall tägliche Auszeit guttut. Sie begünstigt unsere Beziehungen – vom Alleinsein profitiert also, so paradox es zuerst klingen mag, auch unser persönliches Umfeld. Eine US-Paarstudie ergab 2022, dass ein Mangel an Zeit für sich alleine eine grössere Wut und mehr Aggressionsgefühle gegenüber der Partnerin oder dem Partner hervorruft. Der persönliche Rückzug ist somit essenziell, damit wir emotional ausgeglichen sind. Wie eine Studie 2018 zeigte, wirken bereits 15 Minuten beruhigend. Fachleute weisen darauf hin, dass jeder Mensch selbst für sich erörtern muss, wie viel Geselligkeit und wie viel Zeit er für sich alleine braucht, um erfüllt zu sein. Das harmonische Gleichgewicht ist der Schlüssel dazu.
Kann man lernen, gerne allein zu sein?
Ja, das ist möglich, schreibt Myriam Thoma. Die Psychotherapeutin spricht dabei von einem individuellen Lernprozess. Entscheidend sei, sich darin zu üben, das Alleinsein neu zu bewerten: «Mit der Zeit ist es so möglich, zu lernen, dessen Vorteile zu schätzen.» Zum Beispiel, indem man die Situation als «Freiheit von gesellschaftlichen Anforderungen» betrachtet, wie es der kanadische Psychologe und Einsamkeitsforscher Robert J. Coplan jüngst im Magazin «Psychologie heute» umschreibt. Kurz: Gelungenes Alleinsein beginnt bei sich selbst – mit der Grundhaltung. Und Fragen wie: Was tut mir alleine gut? Wovon könnte ich alleine profitieren? Der österreichische Psychoanalytiker Rainer Gross rät in einem SRF-Beitrag jedoch davon ab, jede Minute mit Aktivitäten vollzustopfen. Weil dies nur kurzfristig funktioniere. Expertinnen und Experten sind sich einig: Wer lernen möchte, gerne allein zu sein, darf die Auseinandersetzung mit sich selbst nicht scheuen.
«Eine Alltagsstruktur ist wichtig»
Monique Christen lernte nach einem tragischen Verlust, wie wichtig es ist, so viel wie möglich an die frische Luft zu gehen.
«Als mein Lebenspartner vor neun Jahren an einem Herzinfarkt starb, war ich von einer Sekunde auf die nächste allein. In der Trauer war es wichtig, meinem Alltag eine Struktur zu geben. Ich tat Dinge, die mir gefielen oder gut taten. Um zu vermeiden, dass ein Tag vor sich hinplätschert, nehme ich mir auch heute noch vor – inzwischen pensioniert – morgens ins Fitnessstudio oder spazieren zu gehen. Es hilft, etwas mit sich zu machen.
Ich versuche, mich so oft wie möglich in die Natur und an die frische Luft zu begeben, auch bei schlechtem Wetter – selbst wenns bloss kurz ist. Zu Fuss, beim Schwimmen oder auf dem Velo gelingt es mir am besten, Erlebtes von aussen zu betrachten. Zudem schüttet der Körper beim Sport Glückshormone aus. Das sollte man sich bewusst zunutze machen!
Es dauerte etwa ein Jahr, bis ich zurück ins Leben fand. Freundschaften waren in dieser Zeit ein wichtiges Auffangnetz. Weil ich damals nicht in meinem Beruf arbeiten konnte, suchte ich mir neue Aufgaben – und half etwa wöchentlich auf einem Bauernhof aus. Arbeiten wie Rüebli setzen taten mir gut. Ich spürte meinen Körper – der Kopf war für einen Moment frei von den quälenden Gedanken und Schmerzen des Verlusts. Und: Muskelkater erdet!
Durch meinen Beruf als Sozialpädagogin arbeitete ich oft am Wochenende – und hatte wochentags frei. Dadurch war ich es gewohnt, alleine Dinge zu tun. Ich konnte stets gut damit umgehen. Und ich finde, es ist wichtig, sich bewusst mit sich selbst auseinanderzusetzen.
Schliesslich musste ich nach dem Tod meines Partners alleine herausfinden, wie ich nun zurechtkomme. Da gibt es kein Ausweichen. Keine Psychotherapeutin kann dir diesen Prozess abnehmen. Diesen muss man aushalten – bis man eines Tages vieles geniessen kann. Das einsame Ankommen auf einem Berggipfel zum Beispiel. Man darf nicht glauben, dass einen andere Menschen wieder glücklich machen, wenn man alleine ist. Das muss man selbst schaffen. Psychologische Beratung war mir dabei eine ergänzende Hilfe.
Heute bin ich eine glückliche Frau. Ich habe gelernt, jeden Moment des Lebens zu geniessen, keine Pläne mehr zu schmieden, sondern all das zu tun, was ich mir wünsche. Ich springe nichts mehr nach, sondern lebe intensiv im Moment. Das tut mir gut.» (fro)
Welche positiven Aspekte kann Alleinsein haben?
Ganz viele! «Neuere wissenschaftliche Erkenntnisse verweisen darauf, dass Alleinsein mit verschiedenen psychologischen Vorteilen verbunden ist», schreibt Myriam Thoma. Wer regelmässig alleine sei, könne seine Emotionen besser steuern, fördere seine Kreativität und sei selbstständiger. Freiwilliges Alleinsein beugt zudem Stress vor (oder baut diesen ab), hilft bei der Entscheidungsfindung und stärkt unsere Persönlichkeit sowie unser Selbstwertgefühl. Ein geübter Umgang mit dem Alleinsein hilft also, sich seltener einsam zu fühlen. Und auch, zu akzeptieren, dass es normal ist, hie und da einsam zu sein, wie Fachleute hervorheben.
«Zeitweiliges Alleinsein ist hilfreich, um innere Klarheit zu entwickeln, wieder zu sich zu kommen und neue Kräfte zu tanken», schreibt Franziska Muri im Buch «21 Gründe, das Alleinsein zu lieben». Die Kultur-und Geisteswissenschaftlerin betont zudem, dass beim Alleinsein die soziale Kontrolle wegfalle. Das sei erleichternd, weil man sich so geben könne, wie man wolle. Eine weiterer, scheinbar widersinniger Vorteil: Auszeiten können gleichzeitig beruhigen und aktivieren. Der Kognitionswissenschaftler Andrew Smart überrascht in «Öfter mal auf Autopilot» mit dem Satz: «Das Nichtstun gehört zu den wichtigsten Aktivitäten im Leben.» Ruhe fördert die Gehirn-Aktivität. Das Organ beginnt, auf Hochtouren zu arbeiten, sortiert, kombiniert und vernetzt. Laut Wissenschaft ist Langeweile ein effektives Mittel, um Ideen zu entwickeln: «Was ich geleistet habe, ist nur ein Erfolg des Alleinseins», schrieb Franz Kafka 1913 in sein Tagebuch.
«Ich bin mein eigener Freund»
Komiker Peach Weber schreibt, dass er sich fast nie alleine fühlt. Schon gar nicht an seinen «Klostertagen», die ihm eine innere Ruhe geben.
«Ich bin mein eigener Freund. Deshalb bin ich eigentlich nie allein. Sein eigener Freund zu sein, das ist schnell gesagt, aber schwer zu erreichen, wenn man es nicht schon von Natur aus ist. Man muss lernen, seine eigenen Macken und Fehler zu akzeptieren, denn ‹externe Freunde› haben ja auch Unzulänglichkeiten, die keine grosse Rolle spielen dürfen, wenn es eine richtige Freundschaft ist. Am Alleinsein schätze ich, dass ich den Tag so einteilen kann, wie ich will – und den Plan auch wieder über den Haufen werfen kann, ohne mich rechtfertigen zu müssen. Ich bin ein ziemlich spontaner, oft chaotischer Mensch. Das ist nicht für alle gut zu verstehen. Ich geniesse es auch, mal ein paar Tage einfach zu Hause zu sein, keine Leute zu treffen, nirgends hin zu müssen – ich nenne das meine ‹Klostertage›. Da bin ich ganz bei mir und finde zur inneren Ruhe.
Langweilig wird es mir nie. Klar, es gibt ruhige Zeiten, es gibt auch Tage, an denen man nicht gut drauf ist und nix Gescheites machen kann. Aber das sehe ich als Anlauf für den nächsten Kreativschub. Das Leben ist ein Auf und Ab, das muss man akzeptieren, dann kann man auch in einem Ab einen Sinn sehen. Das habe ich erst mit der Zeit gelernt. Wenn ich ein neues Programm schreibe, brauche ich etwa drei Monate Freiraum und Ruhe. Natürlich schreibe ich nicht jeden Tag acht Stunden lang. Die Tage, an denen nichts läuft, muss man einrechnen. Aber erfahrungsgemäss klappt es immer in diesem Zeitraum, ich habe ja schon 16 Programme geschrieben.
Mein Rat an jemanden, der nicht gerne alleine ist? Sich zwingen, unter die Leute zu gehen und beispielsweise in einem Verein mitzumachen. Das ist keine Garantie, aber zu Hause auf dem Sofa lernt man niemanden kennen, höchstens einen Einbrecher.» (Text: Peach Weber)
Wie verliert man die Scham, Dinge alleine zu tun?
Die vielleicht wichtigste Erkenntnis dazu: Ob wir alleine unterwegs sind, ist anderen in der Regel egal – sie nehmen uns oft nicht anders wahr als in Begleitung, wie eine wissenschaftliche Untersuchung 2014 in Kalifornien zeigte. Es gibt also kaum einen Grund, etwas nicht alleine zu tun, bloss weil es uns peinlich ist. Franziska Muri spricht von «hausgemachten Sorgen» und führt – falls man negative Erfahrungen macht – die alte Weisheit an: «Was Peter über Paul sagt, sagt mehr über Peter als über Paul aus.»
Auch beim Restaurantbesuch gilt, was generell aufs Alleinsein zutrifft: Übung macht die Meisterin. «Die Ausstrahlung verändert sich mit dem wachsenden Selbstverständnis, allein essen zu gehen. Und wem das abends einfach wirklich keine Freude macht, der lässt es.»
Solo-Neulingen empfiehlt Muri, sich Fragen zu stellen wie «Was hast du dir bisher immer verboten?» oder «Wofür brennst du?». Als Einstieg eignet sich ein Abend ohne Fernseher, Internet, Telefon und Handy. Der Verzicht ist eine Chance, herunterzukommen und ganz bei sich zu sein. Diese Geräte können nicht nur unnötig ablenken, es gibt auch wissenschaftliche Erkenntnisse, die vermuten lassen, dass sie die positiven Effekte des Alleinseins vermindern. Myriam Thoma rät, zuerst kurze Momente des Alleinseins mit angenehmen Aktivitäten zu planen, wie Spaziergänge, Lesen oder Hobbys. «Diese Momente bewusst zu erleben und nach positiven Aspekten zu suchen, kann dabei helfen, diese positiver zu bewerten und davon zu profitieren.»
Gewusst?
Die japanische Sprache kennt eine Fülle an Ausdrücken für die verschiedenen Formen des Alleinseins. «Diese bezeichnen unterschiedliche Nuancen und Empfindungen, von Verlassenheit über Stille bis zum Fürsichsein», wie Daniela Tan von der Universität Zürich auf Anfrage schreibt. Gemäss der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Japanologie sind es 30 bis 40 Begriffe – je nachdem, ob man zusammengesetzte Wörter auch mitzähle. Einige Beispiele? Der Begriff «Kodoku» stehe für Einsamkeit in Verbindung mit einem Gefühl der Isolation, das Wort «Shôsen» hingegen für Abgeschiedenheit in Stille und Ruhe. Im Alltag höre man häufig «Sabishii», was mit «Verlassen» übersetzt werden könne. «Das sentimentalere ‹Hitoribocchi› braucht man, wenn man sich ganz verlassen fühlt, häufig hört man es auch in Schlagern, wohingegen ‹Hitori ni naru› gebraucht wird, wenn man für sich sein möchte.»
Wie gelingt das Reisen alleine?
Marie Luise Ritter nimmt ihre Leserinnen und Leser in «Vom Glück, allein zu sein» auf eine Reise mit. Also eigentlich auf mehrere. Die Journalistin und Influencerin macht sich in ihrem Bestseller auf, bewusst mehr Zeit alleine zu verbringen. Sie beginnt, alleine zu verreisen – und berichtet im Gegensatz zu vielen anderen Autorinnen dabei auch übers (anfängliche) Scheitern. In ihrem unterhaltsamen Werk empfindet die 32-Jährige aber immer mehr Freude an ihren teilweise mehrwöchigen Auszeiten. Sie lernt etwa, dass sie auf Reisen niemanden braucht, um das Erlebte zu teilen. Denn die Erinnerungen, die einem nur selbst gehören würden, hätten eine «unheimliche Kraft». Sie ist überzeugt: «Gerne mit sich zu sein, schafft einen völlig neuen Zugang zu Erlebnissen mit anderen. Es macht resilienter.»
Auch Franziska Muri widmet dem Reisen in «21 Gründe, das Alleinsein zu lieben» ein Kapitel. Für sie «ein lohnendes, aber nicht simples Unterfangen». Sie listet verschiedene Reiseformen auf, die sich gut für Solotrips eignen, und regt an, beim Planen auf seine Bedürfnisse zu hören. Zum Einstieg seien Städte ideal, schreibt sie – wegen der Anonymität und dem vielseitigen Angebot. Auch ein Ziel könne helfen, so etwa Naturdenkmäler oder Fernwanderwege, «um zu sich zu kommen». Weitere Tipps sind Besuchsreisen, auf denen man alte Bekannte oder Verwandte trifft, oder Themenreisen auf den Spuren einer Persönlichkeit, die man mag. Oder eine Wiederholungsroute, auf der man bereits besuchte Orte erneut bereist. So oder so: Was man dabei am meisten entdeckt: sich selbst.
«Alleinsein entspricht meinem Naturell»
Caroline ist am liebsten für sich. Deshalb möchte sie ihren Nachnamen hier auch nicht verraten – dafür aber das Alleinsein enttabuisieren.
«Ich habe mich nie intensiv mit dem Alleinsein befasst, weil es für mich das Normalste der Welt ist – schon seit meiner Kindheit. Es entspricht ganz einfach meinem Naturell. Ich bin mir bewusst, dass ich damit eine Spezie rara bin, fühle mich aber wohl als Aussenseiterin und bin zufrieden mit mir.
Vor zehn Jahren liess ich mich nach dreissig Jahren Ehe und zwei Kindern scheiden, weil ich lieber mit mir alleine bin als zu zweit alleine. Wir hatten im Kanton Graubünden einen Landwirtschaftsbetrieb geführt. Als ich nach der Trennung ins Prättigau zog, versuchte ich anfangs, neue Kontakte zu knüpfen. Bis ich mir eingestand, dass mir dies widerstrebt. Auf Leute zuzugehen, ist nicht mein Ding. Smalltalk mag ich gar nicht. Wenn möglich meide ich Gruppen, da ich durch meine hochsensible Seite mit Lärm schnell überfordert bin.
Ich liebe es, den ganzen Nachmittag auf dem Balkon oder auf dem Campingplatz zu sitzen und nichts zu tun – oder ein Hörbuch zu geniessen. Ich kann auch stundenlang basteln oder meditativ malen, ganz bei mir, ohne nachzudenken. Ich habe meinen Frieden, bin für niemanden verantwortlich und kann tun und lassen, was ich will. Ich finde es genial, alleine zu sein. Dieser Beitrag soll helfen, das Thema zu enttabuisieren. Alleinsein muss nichts Negatives sein.» (fro)
Hörtipp «So bin ich eben»
Der Psychologie-Podcast «So bin ich eben» von RTL+ liefert gute Denkanstösse und Diskussionen zum Thema. So etwa die Folge «Allein sein – wie wir emotional unabhängig werden» vom 31. Mai 2023 oder auch «7 Wege aus der Einsamkeit» vom 7. Februar 2024. Online zu hören auf plus.rtl.de – oder u. a. auch bei Spotify.
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