Der letzte Weg kann beschwerlich sein. Er bietet aber auch Chancen. Monika Renz begleitet als Musik- und Psychotherapeutin Menschen im Sterben. Gelebte Erfahrungen, Dankbarkeit und Vergebenkönnen erleichtern das Loslassen.
Wovor haben die Menschen Angst, wenn sie an ihren Tod denken – und wovor fürchten Sie sich persönlich?
Die wenigsten Menschen fürchten sich vor dem Tod selbst. Oder vor einem Gott, der sie richten wird. Sie haben vielmehr Angst vor dem Sterbeprozess, vor Schmerzen, Atemnot oder Abhängigkeit. Auch ich habe Angst vor möglichen Symptomen. Dank meiner langjährigen Erfahrung im Umgang mit Sterbenden wurde sie allerdings kleiner: Zum einen passt eine gute Palliativmedizin die Therapie ständig dem Krankheitsverlauf an und ermöglicht den Patientinnen und Patienten so immer wieder lange schmerzfreie Zeiten. Zum anderen verändert sich die Wahrnehmung der Sterbenden.
In unserem Alltag erleben wir alles aus unserem Ich heraus, das Teil unserer Körperlichkeit ist: Ich fühle Schmerzen oder ich habe Angst. Dieses Ich scheint sich jedoch aufs Sterben hin aufzulösen, die Wahrnehmung verschiebt sich in einen Zustand jenseits unseres Körpers. Dann sind wir gleichsam ausserhalb aller Symptome. Vielleicht ist dieser Zustand mit einer Nahtoderfahrung zu vergleichen. Sterbende erzählen bruchstückhaft etwa von einer Blumenwiese oder von einem Licht, kürzlich sah jemand einen Sternenhimmel. Sinnliche Erfahrungen sind vorübergehend intensiver als alles bisher Erlebte. Viele sind nach einer solchen Erfahrung traurig, dass sie noch am Leben sind.
Können Betroffene diesen Prozess steuern?
Es ist eher ein Geschehen. Sterbende überschreiten diese Bewusstseinsschwelle meist mehrmals. Vor der Schwelle – im Davor – geht es ums Loslassen. Über der Schwelle – im Hindurch – verändert sich alles. Ängste sind bisweilen geradezu entfesselt. Doch nach der Schwelle – im Danach – ist es einfach nur friedlich. Begegnungen sind anders, dicht, ruhig, zärtlich. Bei vielen Menschen verläuft dieser Prozess unsichtbar und ohne Worte. Sterben heisst: Ich gebe alles aus der Hand. Es geschieht und darf geschehen.
Kann man sich darauf vorbereiten?
Ja, bereits jetzt und immer wieder. Erfahrungen zum Beispiel, die man sein Leben lang sammelt: Verinnerlichte, gute Erinnerungen aus der Kindheit, positive Naturerfahrungen oder auch schöne spirituelle oder religiöse Erfahrungen können das Sterben erleichtern. Unabhängig davon, ob man Bergbäuerin oder Computerfachmann, religiös oder atheistisch war. Wichtig ist, bewusst zu leben und nicht einfach dahingelebt zu haben. Vergebung ist eine weitere Chance: Mir selber, anderen und dem Schicksal vergeben, das es vielleicht nicht immer gut mit mir meinte. Ja sagen können zu dem, was war. Und schliesslich Dankbarkeit für alles, was einem geschenkt wurde und bis zuletzt geschenkt wird.
Gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen, oder zwischen jungen und alten Menschen?
Männer der älteren Generation erlebe ich als stiller und technischer als gleichaltrige Frauen, die eher über ihr Befinden reden. Es ist aber nicht so, dass alte Menschen leichter sterben. Wer sein Leben lang das Gefühl hatte, er sei zu kurz gekommen, bleibt in der Regel bis zuletzt lebensgierig. Deshalb ist Dankbarkeit so wichtig: Sie hilft uns, zu einem «Genug» zu finden. Wo alte Menschen immer weiter am Leben hängen, erzähle ich oft von einer jungen Mutter im Nebenzimmer, die von drei kleinen Kindern wegstirbt. Oder verweise auf die Bilder aus der Ukraine. Das kann nachdenklich machen.
Sterben religiöse Menschen anders? Leichter?
Wenn Religion bedeutet, an einem leeren Glaubensgebäude bar jeder Erfahrung festzuhalten, hilft sie nichts. Im Sterben muss ich alles loslassen, auch mein Glaubenskonstrukt. Entscheidend ist der Inhalt: Gute religiöse Erfahrungen scheinen einem im Sterbeprozess helfend entgegenzukommen. Das Osterfeuer etwa bei einem alten Mann. Oder die erlebte Gemeinschaft bei einer jungen Frau. Auch das Gottesbild des guten Hirten, das eine Sterbende verinnerlicht hatte. Ein Patient sah einmal – wie in einer Vision – einen alten Mann mit Bart, der ihn einfach in die Arme nahm. Was gibt es Schöneres! Gottesbilder sind Bilder, die für jeden Menschen anders aussehen können. Es sind Bilder vom letzten Geheimnis.
Monika Renz
Monika Renz, Dr. phil., Dr. theol., ist seit 1998 Psycho-Onkologin, Musik- und Psychotherapeutin am Kantonsspital St. Gallen. Sie forscht zu Themen wie Sterben und Spiritualität und ist als Referentin und Autorin im In- und Ausland unterwegs. Ihr neues Buch «Krankenbibel» enthält Texte aus dem Alten und Neuen Testament, die unsere Kultur und die Kindheit vieler älterer Menschen positiv geprägt haben. Im Mittelpunkt stehen Hoffnungs- und Heilsgeschichten.
monikarenz.ch
Ihre Bücher im Herder Verlag:
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