Endstation Harmonie
Wo kommen langjährige Drogen- und Alkoholsüchtige unter, wenn sie alt und gebrechlich werden? Manche finden im Haus Harmonie in Langenbruck ein letztes Zuhause – und blühen dort unerwartet auf.
Text: Claudia Senn
Pünktlich um 8 Uhr morgens öffnet sich die Bürotür für die Medikamentenabgabe. «Guten Morgen, mein Prinz», sagt Gabi Schöps, die Pflegefachfrau, mit einem Lächeln wie warme Honigmilch. Eric*, der erste in einer langen Schlange von müden Männern, lächelt schüchtern zurück. Seine Hände zittern wie die eines Parkinson-Patienten. Gabi händigt ihm seine Pillen aus und lässt ihn ins Röhrchen pusten: 0.0 Promille. Ein kleiner Sieg.
Mit 60 Jahren ist Eric einer der Ältesten hier. Und einer der wenigen, deren Leben nicht schon in der Jugend komplett aus dem Ruder gelaufen ist. Einst besass er ein Fachgeschäft für Orthopädiebedarf mit sechs Filialen und 25 Angestellten. Doch dann wurde ihm alles zu viel: 50, 60 Wochenstunden im Geschäft, dazu zu Hause drei Kinder und jede Menge Eheprobleme. «Irgendwann hat es mich verblasen», sagt er. Burn-out, Scheidung, Klinikaufenthalt. Eric verkaufte seine Firma und dachte, mit seinen Qualifikationen käme er sicher bald irgendwo anders unter. «Aber denkste!», sagt er bitter.
Über 300 Bewerbungen, doch kein einziges Vorstellungsgespräch, dazu die vielen Alimente, die der inzwischen 50-Jährige für seine drei Kinder berappen musste. Schliesslich der Absturz in die Sozialhilfe, den er als ultimative Niederlage empfand. So fing es an mit der Trinkerei. Eric verbirgt das Gesicht in den Händen vor Scham, als er gesteht, mit welch absurden Alkoholmengen er versuchte, sein Unglück zu ertränken: Am Ende waren es sechs Flaschen Rosé pro Tag.
Vierzig Jahre an der Nadel
Als nächstes betritt Lukas den kleinen Behandlungsraum von Gabi. Die Handrücken des 54-Jährigen sehen aus wie Mondkrater, weil er über die Jahre unzählige Zigaretten darauf ausgedrückt hat. «Um mich zu bestrafen», sagt er, «ich kenne ja keine Liebe.» Bevor er vor zwei Jahren in die Harmonie kam, lebte er auf der Strasse oder sass in seinem Kinderzimmer unterm Dach bei den Eltern und verschlief die Jahre. Das Zimmer verliess er nur, um Stoff zu besorgen: Heroin, Kokain, Crack, Haschisch oder Valium, das er mit 80-prozentigem Stroh-Rum kombinierte, um sich das Lebenslicht auszublasen, was ihm auch beinahe gelungen wäre.
Lukas ist voller Reue. «Was habe ich schon erreicht, ausser 40 Jahre lang an der Nadel zu hängen?», sagt er. Dreimal pro Jahr schafften seine hilflosen Eltern den längst erwachsenen Sohn in die Psychiatrie – bis sie selbst nicht mehr konnten. Nun ist er in der Harmonie gestrandet. Wenn es nach ihm geht, für immer. «Ich lebe nicht, ich existiere nur», sagt er düster. Trotzdem keimt in letzter Zeit so etwas wie Hoffnung auf, denn Lukas ist ein bisschen verschossen, in eine Mitarbeiterin. Dass daraus nichts wird, ist ihm völlig klar. Doch allein schon die Tatsache, dass sie Bescheid weiss und sich nicht über ihn lustig macht, erfreut sein abgehärtetes Herz.
Wie soll die Gesellschaft umgehen mit Menschen wie Lukas oder Eric? Die einen Marsch durch die Institutionen hinter sich haben, von Entzug zu Therapie zu Klinikaufenthalt zu betreutem Wohnen, aber längst aufgehört haben, auf ein Leben ohne Drogen und Alkohol zu hoffen? Die nun, lange vor ihrer Zeit, alt und gebrechlich werden, aber jedes normale Altersheim ins Chaos stürzen würden mit ihren psychischen Krankheiten, der Sucht und dem exzessiven Zigarettenkonsum.
«Für viele sind wir die Endstation», sagt Hassib Rasuli, der Leiter des Hauses Harmonie in Langenbruck, Baselland, ein bärenhafter Mann mit sanftem Blick und imposantem Bart. Als Kind ist er in Afghanistan vor den Taliban geflohen, die ihre Schreckensherrschaft mit Drogenhandel finanzieren. Nun kümmert er sich in der Schweiz um jene, die durch alle Maschen gefallen sind. Die meisten kämen hier zur Ruhe, sagt Hassib. Das liegt wohl daran, dass in der Harmonie einiges anders läuft als gewohnt.
Zwölf Männer und eine Frau
Gegründet wurde das Haus Harmonie im Jahr 2006 von Jürg Lützelschwab, der in seinen 70er-Jahre-Klamotten wie der Prototyp eines Alt-Hippies wirkt. «Ich wäre um ein Haar selbst auf der Gasse gelandet», sagt er. «Doch ich hatte das Glück, im richtigen Moment die richtigen Leute zu treffen.» Jürg arbeitete in der Drogenberatung, liess sich zum Sozialpädagogen ausbilden, gründete 1995 gemeinsam mit ehemaligen Drogenabhängigen ein Wohnheim für Drogensüchtige, das teilweise von den Bewohnern mitverwaltet wurde. Bis Mitte der 1990er-Jahre starben die meisten früh an Aids oder anderen, durch verunreinigtes Heroin ausgelösten Infektionen. Doch als es bessere Medikamente gab, wurden sie 50, 60, vereinzelte sogar 70 Jahre alt.
Jürg, der das früh erkannte, bekam den Auftrag, ein Wohnheim für diese ältere Klientel einzurichten. Das Haus Harmonie war das erste Altersheim für Langzeit-Süchtige in der Schweiz. Den Namen hat sich Jürg nicht selbst ausgedacht, er kam von den Bewohnerinnen und Bewohnern, die sich wünschten, am Ende ihres unharmonischen Lebens hier noch ein bisschen Frieden zu finden. Jürg wollte ein kleines Haus, damit seine Schützlinge wie in einer Familie zusammenleben könnten. Die Harmonie sollte ein Zuhause sein.
Aktuell wohnen 13 Menschen hier. Bis auf Ramona, die wegen ihres Kiefer-Karzinoms gerade beim CT ist, sind es alles Männer. Die meisten sind nicht nur drogen- oder alkoholabhängig, sondern auch psychisch krank. Sie leiden unter paranoider Schizophrenie, dem Borderline-Syndrom, Depressionen. Unter Lungen- und Leberschäden, Diabetes, Demenz, Parkinson, HIV. «Manche müssen Medikamente in einer Dosierung einnehmen, die für uns absolut tödlich wäre», sagt Hassib. Auf die normale Dosis reagiert ihr Körper schlicht nicht mehr.
All die Beschwerden und Zipperlein bedeuten jedoch nicht, dass es nichts mehr zu geniessen gäbe. Einmal pro Woche probt die Haus-Band «this Harmonie». Es gibt Ferienwochen und opulente Feste mit Rockkonzerten, Tanz und Trara. Wer Geburtstag hat, bekommt einen Kuchen samt selbstgebastelter Tischbombe. Im Sommer lässt es sich herrlich im Garten abhängen, wo sich die Hunde der Betreuerinnen und Betreuer gegenseitig durchs Grün jagen. Das Essen schmeckt so gut, dass sich schon mancher ein Bäuchlein angefressen hat.
Keine Lügenmärchen
Dass langjährige Süchtige plötzlich abstinent leben sollen, erwartet hier niemand. Ziel ist es jedoch, morgens beim Alkoholtest wieder auf 0.0 Promille zu sein. Sonst droht ein Taschengeldabzug von zehn Franken. Fast alle, sagt Hassib, würden das nach zwei, drei Wochen mit ein bisschen gutem Zureden schaffen. Ab 16 Uhr ist Biertrinken erlaubt, ebenso wie Kiffen. Wer Schnaps oder harte Drogen konsumieren will, muss dafür aber auf die Gasse, nach Basel, Zürich oder Olten. «Okay, pass auf dich auf», sagt Hassib dann bloss. Denn es ist ihm lieber, wenn jene, die schwach werden, es ehrlich eingestehen, statt ihm Lügenmärchen aufzutischen. Die meisten verlieren nach einer Weile sowieso das Interesse. Zu weit der Weg, zu anstrengend die Drogenszene, zu gemütlich das Haus.
«Es sind erwachsene Menschen», sagt Hassib. Viele könnten durchaus Verantwortung für sich selbst übernehmen, bloss hätten sie es über die Jahre verlernt, weil ihnen ein Heer von Sozialarbeitern jeden Handstreich abgenommen hat. Wenn jemand neu in die Harmonie komme, erwarte er deshalb oft dasselbe von Hassib, verlange etwa: «Du musst bei meinem Beistand Kleidergeld beantragen.» «Gar nichts muss ich», sagt Hassib dann stoisch, «wenn du Kleidergeld willst, kannst du dich selbst danach erkundigen.» Da sind sie erst mal baff.
Selbstverantwortung heisst das Zauberwort in der Harmonie. Um 16 Uhr haben alle Betreuerinnen und Betreuer Feierabend und gehen nach Hause. Ein Mitarbeiter ist auf Pikett und im Notfall telefonisch erreichbar, ansonsten passen die Bewohner selbst auf sich auf. Abgesehen von gelegentlichen gesundheitlichen Krisen kommt es kaum zu Zwischenfällen.
Auch am Wochenende sind die Bewohnerinnen und Bewohner weitgehend auf sich allein gestellt und organisieren selbst, wer kocht und aufräumt. Dabei geschehen manchmal erstaunliche Dinge. Oliver, der unter Schizophrenie leidet und so pausenlos mit seinen inneren Stimmen spricht, dass er es kaum schafft, mit anderen Menschen zu kommunizieren, bereitete für die Hausgemeinschaft ein Lamm-Rack mit gebuttertem Rosmarin-Kartoffelstock zu. «Wie im Gourmet-Lokal», sagen die Mitbewohner voller Anerkennung. Wenn Simone Krois, die Köchin, am Montagmorgen wiederkommt, ist die Küche stets blitzblank.
Es gibt keine Putzfirma in der Harmonie, auch Handwerker kommen selten ins Haus. Alles, was geht, erledigen die Bewohner selbst. Eric, der einst Maler war, bevor er sein Geschäft für Orthopädiebedarf eröffnete, hat schon siebzehn nikotinvergilbte Zimmer frisch gestrichen. Für die Kunst im Haus ist Oliver zuständig, der Hobby-Koch. Überall hängen seine ausdrucks- und farbstarken Gemälde.
Talentierter Künstler und Koch: der Schizophrenie-Patient Oliver. © Ethan Oelman
Ein Liebespaar in der Harmonie
Ursprünglich, so erzählt Jürg, war die Harmonie als Altersheim für Drögeler konzipiert, die hier leben sollten bis zu ihrem Tod. Doch die Bewohner entwickelten sich anders als gedacht. Waren sie erst einmal zur Ruhe gekommen, konsumierten sie deutlich weniger Drogen. Manche, die in den vergangenen Jahrzehnten ohne Hoffnung auf der Gasse dahinvegetiert hatten, nahmen plötzlich wieder Kontakt zu ihren Angehörigen auf und äusserten sogar den Wunsch nach einer eigenen Wohnung. «Damit hatten wir nicht gerechnet», sagt Jürg.
Seit einigen Jahren gibt es nun auch die «Externen», neun sind es zurzeit, darunter mit Susi und Andreas sogar ein Liebespaar. Die Harmonie hat für sie alle Wohnungen gesucht, besucht sie dort regelmässig und bezahlt auch die Miete. Die Externen erscheinen morgens zur Medikamentenabgabe, frühstücken in der Harmonie und vertreiben sich vormittags gemeinsam mit den Internen beim Basteln, Töggelen oder Billardspielen die Zeit. Nach dem Mittagessen verschwinden sie wieder in ihr eigenes Reich. Wer sich bewährt, kann die Wohnung nach einem Jahr ganz übernehmen.
Doch es gibt auch die anderen, denen der Gedanke, die Harmonie verlassen zu müssen, Angst und Schrecken einflösst. So wie Claudio. Der 63-Jährige ist HIV-positiv, hat zwei neue Hüftgelenke, er zeigt Anzeichen von Demenz und ist schon seit so vielen Jahren in der Harmonie, dass er es gar nicht mehr genau benennen kann. «Ich bin glücklich hier», sagt er, «ich kann mir nichts anderes mehr vorstellen.» Für ihn ist die Harmonie das beste Zuhause, das er je hatte.
Ganz hinten im Garten der Harmonie stehen fünf Bäume. Am Fuss eines jeden ist die Asche eines Bewohners begraben, der das genauso sah wie Claudio: Er wollte nicht mehr weg, auch nicht nach seinem Tod. Für alle gab es eine Zeremonie in Anwesenheit der gesamten Hausgemeinschaft, mit schöner Musik, feierlichen Worten und besonders gutem Essen. Harmonie auch am Lebensende.
*Im Haus Harmonie duzen sich alle. Deshalb halten wir das in diesem Text auch so. Die Bewohnerinnen und Bewohner werden zum Schutz ihrer Identität ausschliesslich mit Vornamen genannt.
Lesen Sie hier, wie die Stadt Zürich mit Langzeitsüchtigen umgeht. Kaspar Niederberger vom Sozialdepartement im Interview: «Fast alle Schwerstabhängigen sind psychisch krank.»
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