© Katrin Meier

«Das Leben wird wieder bedeutungsvoll»

Die Dignity Therapy basiert auf dem Würde-Modell. Wie definieren Sie Würde?
In unserem Kulturkreis wird Würde als universales und unantastbares Gut definiert. Doch jeder, der einmal krank und abhängig war, weiss um die Verletzlichkeit seiner Würde. Das persönliche Würdegefühl hängt stark von den Lebensumständen ab und ist Schwankungen unterworfen. Die Hochzeit kann ein Moment sein, wo man sich besonders gewürdigt fühlt. Bei einer Trennung kann die Würde verloren gehen. Sie ist anfällig für kleinere und grössere Ereignisse. Am Lebensende ist sie besonders gefähr­det. Dabei ist Würde eine der Ressour­cen, um existenzielle Herausforderun­gen zu meistern.

Kann man das eigene Würdegefühl stärken?
Ja, daran kann man arbeiten. Würde hat damit zu tun, wie man sich selber fühlt. Und wie man von anderen wahrgenommen wird und wahrge­nommen werden möchte. Das Würde­gefühl steigt, wenn man für seine Werte einsteht und das macht, was einem wichtig ist. Auch alles, was Freude bereitet und das Leben berei­chert, nährt dieses positive Gefühl – ebenso wie der wohlwollende Um­gang mit anderen Menschen. Dann fühlt man sich in einen grösseren Zusammenhang eingebettet. Die Erinnerung an würdestärkende Mo­mente wird am Lebensende zu einer Kraftquelle.

Für wen eignet sich Dignity Therapy?
Für alle, die ihr Leben noch einmal überblicken und den Hinterbliebenen ein Dokument hinterlassen wollen, in dem sie das Wichtigste festhalten. Sie ist kaum wirksam, wo Betroffene körperlich oder geistig bereits sehr schwach sind, aufgrund negativer Erfahrungen nicht zurückblicken wollen oder niemanden haben, dem sie das Dokument weitergeben möchten. Es gibt auch Menschen, die auf andere Weise alles geklärt und ihrem Leben nichts mehr hinzuzufügen haben.

Wo sind die Grenzen der Therapie?
Die Dignity Therapy kann keine psychopathologischen Probleme lösen. Sie ist eine Kurzintervention und verfolgt einen ressourcenorien­tierten Ansatz. Gefühle von Enttäu­schung und Trauer, die manchmal im Gespräch auftauchen, werden mit Milde und Distanz betrachtet – dann gehören sie zum Leben, wie es war und geworden ist.

Welche Kompetenzen müssen Gesprächsbegleitende mitbringen?
Wichtiger als eine akademische Aus­bildung ist die aufmerksame und empathische Grundhaltung der Begleitenden. Es ist wesentlich, dass sie in würdestärkenden Gesprächstechni­ken geschult sind, um die Persönlich­ keit des Gegenübers mit ihren positiven Aspekten hervorheben zu können. Beim Erstellen des Dokuments ist es das Ziel, die betroffene Person aus einer re­spektvollen Distanz und mit viel Liebe darzustellen. Dabei bleiben die Schrei­benden nahe an ihren Aussagen, der Wortwahl und ihrem Redestil.

Wie geht Ihre Forschung weiter?
Seit drei Jahren forsche ich über die Dignity Therapy bei einer beginnen­ den Demenz. Auch eine Demenzerkrankung bedeutet ja eine Art Lebensende und wird oft mit Stigma und Würdeverlust verbunden. Die Resultate meiner Studien und die Rückmeldung von Patientinnen und Patienten sind ermutigend: Angst und Depressivität werden gelindert, Ge­fühle von Sinnhaftigkeit und Lebens­qualität auch bei an Demenz erkrank­ten Menschen gesteigert. Gerade bei ihnen ist es wichtig, dass eine angehörige Person dabei ist – als Zeugin und zur Unterstützung: Sie hilft, wenn Worte fehlen oder wichtige Ereignisse vergessen gehen. Ich erlebe oft, wie für die Betroffenen das Leben dann wieder in einen Zusammenhang gerät und bedeutungsvoll wird.

Was ist das Besondere an der Arbeit mit demenzkranken Menschen?
Wichtig ist, dass all die Interessen, Aktivitäten und Ereignisse, die ihre Persönlichkeit ausmachen, als Einheit festgehalten werden – und zwar so früh wie möglich. Während für Men­schen am Lebensende eher das Ge­spräch und der Rückblick im Vorder­grund stehen, hat das Dokument für Demenzbetroffene eine besondere Bedeutung: Solange es die Krankheit zulässt, können die eigenen Worte wieder und wieder in Erinnerung gerufen und das Leben in seiner Gesamtheit betrachtet werden.

Peter Muijres

Psychologe und medizinischer Anthropologe, erforscht an der Universität Zürich seit 2016 Anwendungsmöglichkeiten und Nutzen von Dignity Therapy in der Schweiz. Er koordiniert Forschungsprojekte und leitet Dignity-Therapy-Schulungen. Der gebürtige Niederländer ist auch als Autor zum Thema tätig.
Mail info@dignitytherapy.ch, Internet dignitytherapy.ch

Beitrag vom 07.03.2022

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert